"Ich habe zurückgelassen, was es zurückzulassen galt. Also alles", notiert Alex Fox in sein schönes neues Tagebuch. Auf der Flucht vor quälenden Erinnerungen an eine persönliche Tragödie hat er sein Antiquariat in San Francisco aufgegeben, um in Andorra ein neues Leben zu beginnen. Aber es dauert nicht lange, und er gerät unter Mordverdacht, seine eigene Vergangenheit holt ihn aufs schrecklichste ein. Ein poetischer Roman über Liebe und Verrat, über Erinnern und Vergessen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.1998Gold des glücklichen Dotters
Peter Cameron besucht eine Welt ohne Widerstände
Andorra liegt am Meer, und auch sonst hat Peter Cameron den südeuropäischen Zwergstaat gleichen Namens sanft ins Irreale verschoben. Neben einer "ausgefallenen Topographie", die den Romanhelden Alex Fox zu einer längeren Zugreise von Paris aus nötigt, wartet Andorra mit weiteren, meist liebenswerten Absonderlichkeiten auf. Wer immer hier seinen Wohnsitz nimmt, gilt als Staatsbürger und muß daher wie alle Einwohner pro Woche sechs Stunden Zivildienst leisten. Dafür hat Andorra die niedrigsten Steuersätze weit und breit. Das erinnert eher an Monaco, wie auch der Umstand, daß Andorras Hauptstadt, das pittoreske La Plata, ein Refugium darstellt für ein internationales Publikum mit gehobenen Ansprüchen und viel freier Zeit.
"La Plata", stellt Mr. Fox einleitend fest, "war überhaupt eine ungemein eigenartige Stadt." Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß es jedermann in La Plata "so verzweifelt nach Freundschaft verlangt", nach Freundschaft - und mehr als Freundschaft - mit Alex Fox, dem gutaussehenden und offenbar alleinstehenden Antiquar aus San Francisco. Das gilt für die greise Hoteldirektorenwitwe Mrs. Reinhardt ebenso wie für Ricky und Ricky Dent, das erratische Ehepaar aus Australien und den zum örtlichen Establishment zählenden Quay-Clan, bestehend aus der resoluten Mrs. Quay und ihren reiz- und geheimnisvollen Töchtern Jean und Nancy.
Peter Cameron entwirft in seinem dritten Roman - der auf deutsch aus naheliegenden Gründen nicht den Originaltitel "Andorra" trägt - mit einigem Geschick eine Welt ohne Widerstände. "Wie mit Juwelen besetzt" wirkt die Stadt auf seinen Helden, der sich nicht mehr und nicht weniger vorgenommen hat, als in Andorra "ein heiteres, sauberes, gutes und schönes Leben" zu führen. Und es scheint ihm zu gelingen: Stadt, Landschaft und Leute atmen den Charme eines zeitlosen mediterranen Ferienidylls. "Ich schnitt den Dotter meines pochierten Eis an, das sein geschmolzenes Gold über den Toast regnen ließ", schildert der Icherzähler sein Glück auf der Terrasse des Hotels Excelsior.
Alles ist so angenehm und wohltemperiert, daß man meint, sich in ein älteres Merian-Heft verlaufen zu haben - gäbe es da nicht einen toten jungen Mann, den man, wie Alex Fox im "La Plata Herald" lesen wird, eines Morgens aus dem Hafenbecken zieht. Leutnant Afgroni von der örtlichen Polizei, ein Mann mit Lebensart und manikürten Händen, geht der Sache nach und hat rasch den ahnungslosen Mr. Fox im Fadenkreuz. Andorra, wenn man erst hinter seine Fassaden blickt, ist nämlich ein sanft repressiver Polizeistaat, erklärt ihm eine der reizenden Quay-Töchter. Aber vielleicht ist auch das noch nicht die ganze Wahrheit. Ist das schläfrigschöne Ländchen gar nur eine Ausgeburt von Alex Fox' Phantasie, ausgedacht, um einer unerträglichen Wirklichkeit zu entfliehen? War er nicht der einzige Fahrgast, der am Bahnhof von La Plata den Zug verließ, was ihm ein "merkwürdiges, vielleicht aber gutes Omen" schien? Sollte also die Destination Andorra ausschließlich für ihn bestimmt gewesen sein? Cameron liebt es, die Antwort auf solche Fragen romanlang in der Schwebe zu halten.
Auf der Flucht vor der Vergangenheit sind sie alle, die freundlichen und doch tieftraurigen Müßiggänger dieses Romans. Das Ehepaar Dent - sie flaniert durch ihre Tage, während er sich erfolglos an einer Oper nach André Gides "Immoraliste" versucht - ist nach Andorra gekommen, um den Unfalltod des siebenjährigen Sohnes zu vergessen. Auch im Hause Quay liegt unter der Partyfreude eine stille Grundtrauer, verursacht durch den frühen Tod eines Bruders der schillernden Schwestern. Und welcher Schicksalsschlag hat Alex Fox veranlaßt, nach Andorra zu kommen, um hier ein neues Leben anzufangen? Auf die Nachfragen seiner neuen Freundinnen gibt er wechselnde Auskünfte: Er lebe getrennt von Frau und Kind. Seine Frau sei tot. Seine Frau habe sich und das achtzehnmonatige Kind umgebracht. Und so fort, bis schließlich Alex Fox eine Art Geständnis ablegt und darin ein Scheitern eingesteht, zu dem er, wie er meint, von Anfang an verurteilt war: "Ich war als Gescheiterter in Andorra angekommen und hatte erwartet, daß die Geographie mich rehabilitierte." Doch die Geographie denkt nicht daran, Fox die helfende Hand zu reichen. Leutnant Afgroni hat dem Amerikaner den Paß weggenommen und ermittelt gegen ihn wegen Mordverdachts. Am Ende steht die Flucht vor der Flucht. Sie führt rekursiv an den Ausgangspunkt zurück. "Vor vielen Jahren", so der erste und der letzte Satz des Romans, "habe ich ein Buch gelesen, das in Andorra spielte."
Man könnte Peter Camerons Roman mit dem Teppich vergleichen, der in der Eingangshalle des Hotel Excelsior liegt. Beide schaffen eine gedämpfte Atmosphäre des Komforts und des Behagens, und der eine verwirrt wie der andere durch sein "intrikates Dessin, das in seinem sich ständig erweiternden und komplizierter werdenden Girlandenmuster von einem Medaillon in der Mitte ausging". Das Medaillon in der Mitte des Romans heißt, in einem Wort, "Andorra", und alles, was das Wort an Mustern und Girlanden nach sich zieht, ist nichts als - schöner - Schall und Rauch. CHRISTOPH BARTMANN
Peter Cameron: "Damals ist ein fernes Land. Roman." Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Aufbau-Verlag, Berlin 1998. 254 S.,geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Peter Cameron besucht eine Welt ohne Widerstände
Andorra liegt am Meer, und auch sonst hat Peter Cameron den südeuropäischen Zwergstaat gleichen Namens sanft ins Irreale verschoben. Neben einer "ausgefallenen Topographie", die den Romanhelden Alex Fox zu einer längeren Zugreise von Paris aus nötigt, wartet Andorra mit weiteren, meist liebenswerten Absonderlichkeiten auf. Wer immer hier seinen Wohnsitz nimmt, gilt als Staatsbürger und muß daher wie alle Einwohner pro Woche sechs Stunden Zivildienst leisten. Dafür hat Andorra die niedrigsten Steuersätze weit und breit. Das erinnert eher an Monaco, wie auch der Umstand, daß Andorras Hauptstadt, das pittoreske La Plata, ein Refugium darstellt für ein internationales Publikum mit gehobenen Ansprüchen und viel freier Zeit.
"La Plata", stellt Mr. Fox einleitend fest, "war überhaupt eine ungemein eigenartige Stadt." Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß es jedermann in La Plata "so verzweifelt nach Freundschaft verlangt", nach Freundschaft - und mehr als Freundschaft - mit Alex Fox, dem gutaussehenden und offenbar alleinstehenden Antiquar aus San Francisco. Das gilt für die greise Hoteldirektorenwitwe Mrs. Reinhardt ebenso wie für Ricky und Ricky Dent, das erratische Ehepaar aus Australien und den zum örtlichen Establishment zählenden Quay-Clan, bestehend aus der resoluten Mrs. Quay und ihren reiz- und geheimnisvollen Töchtern Jean und Nancy.
Peter Cameron entwirft in seinem dritten Roman - der auf deutsch aus naheliegenden Gründen nicht den Originaltitel "Andorra" trägt - mit einigem Geschick eine Welt ohne Widerstände. "Wie mit Juwelen besetzt" wirkt die Stadt auf seinen Helden, der sich nicht mehr und nicht weniger vorgenommen hat, als in Andorra "ein heiteres, sauberes, gutes und schönes Leben" zu führen. Und es scheint ihm zu gelingen: Stadt, Landschaft und Leute atmen den Charme eines zeitlosen mediterranen Ferienidylls. "Ich schnitt den Dotter meines pochierten Eis an, das sein geschmolzenes Gold über den Toast regnen ließ", schildert der Icherzähler sein Glück auf der Terrasse des Hotels Excelsior.
Alles ist so angenehm und wohltemperiert, daß man meint, sich in ein älteres Merian-Heft verlaufen zu haben - gäbe es da nicht einen toten jungen Mann, den man, wie Alex Fox im "La Plata Herald" lesen wird, eines Morgens aus dem Hafenbecken zieht. Leutnant Afgroni von der örtlichen Polizei, ein Mann mit Lebensart und manikürten Händen, geht der Sache nach und hat rasch den ahnungslosen Mr. Fox im Fadenkreuz. Andorra, wenn man erst hinter seine Fassaden blickt, ist nämlich ein sanft repressiver Polizeistaat, erklärt ihm eine der reizenden Quay-Töchter. Aber vielleicht ist auch das noch nicht die ganze Wahrheit. Ist das schläfrigschöne Ländchen gar nur eine Ausgeburt von Alex Fox' Phantasie, ausgedacht, um einer unerträglichen Wirklichkeit zu entfliehen? War er nicht der einzige Fahrgast, der am Bahnhof von La Plata den Zug verließ, was ihm ein "merkwürdiges, vielleicht aber gutes Omen" schien? Sollte also die Destination Andorra ausschließlich für ihn bestimmt gewesen sein? Cameron liebt es, die Antwort auf solche Fragen romanlang in der Schwebe zu halten.
Auf der Flucht vor der Vergangenheit sind sie alle, die freundlichen und doch tieftraurigen Müßiggänger dieses Romans. Das Ehepaar Dent - sie flaniert durch ihre Tage, während er sich erfolglos an einer Oper nach André Gides "Immoraliste" versucht - ist nach Andorra gekommen, um den Unfalltod des siebenjährigen Sohnes zu vergessen. Auch im Hause Quay liegt unter der Partyfreude eine stille Grundtrauer, verursacht durch den frühen Tod eines Bruders der schillernden Schwestern. Und welcher Schicksalsschlag hat Alex Fox veranlaßt, nach Andorra zu kommen, um hier ein neues Leben anzufangen? Auf die Nachfragen seiner neuen Freundinnen gibt er wechselnde Auskünfte: Er lebe getrennt von Frau und Kind. Seine Frau sei tot. Seine Frau habe sich und das achtzehnmonatige Kind umgebracht. Und so fort, bis schließlich Alex Fox eine Art Geständnis ablegt und darin ein Scheitern eingesteht, zu dem er, wie er meint, von Anfang an verurteilt war: "Ich war als Gescheiterter in Andorra angekommen und hatte erwartet, daß die Geographie mich rehabilitierte." Doch die Geographie denkt nicht daran, Fox die helfende Hand zu reichen. Leutnant Afgroni hat dem Amerikaner den Paß weggenommen und ermittelt gegen ihn wegen Mordverdachts. Am Ende steht die Flucht vor der Flucht. Sie führt rekursiv an den Ausgangspunkt zurück. "Vor vielen Jahren", so der erste und der letzte Satz des Romans, "habe ich ein Buch gelesen, das in Andorra spielte."
Man könnte Peter Camerons Roman mit dem Teppich vergleichen, der in der Eingangshalle des Hotel Excelsior liegt. Beide schaffen eine gedämpfte Atmosphäre des Komforts und des Behagens, und der eine verwirrt wie der andere durch sein "intrikates Dessin, das in seinem sich ständig erweiternden und komplizierter werdenden Girlandenmuster von einem Medaillon in der Mitte ausging". Das Medaillon in der Mitte des Romans heißt, in einem Wort, "Andorra", und alles, was das Wort an Mustern und Girlanden nach sich zieht, ist nichts als - schöner - Schall und Rauch. CHRISTOPH BARTMANN
Peter Cameron: "Damals ist ein fernes Land. Roman." Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Aufbau-Verlag, Berlin 1998. 254 S.,geb., 39,90 DM.
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