Jean Daragane lebt zurückgezogen in seiner Pariser Wohnung, als ein Fremder ihn wegen seines verlorenen Adressbuchs kontaktiert. Vergessene Namen und lang vergangene Erlebnisse drängen zurück in das Bewusstsein des Schriftstellers. Besonders stark ist die Erinnerung an Annie Astrand. Bei ihr hatte Jean in seiner Kindheit ein Zuhause gefunden, als seine Eltern sich seiner wieder einmal entledigen wollten. Doch dann war Annie mit ihm nach Montmartre gezogen, um eine Flucht nach Italien zu planen, die alles veränderte. Der Nobelpreisträger Patrick Modiano erzählt von einem traumatischen Erlebnis Ende der 50er Jahre, das bis in die Gegenwart des heutigen Paris nachwirkt.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2015LITERATUR
Im Dämmerlicht der Erinnerung
„Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ heißt der neue Roman des französischen Literaturnobelpreisträgers
Patrick Modiano. Nun feiert der Meister der Zwischentöne seinen siebzigsten Geburtstag
VON JOSEPH HANIMANN
Wenn es eine Sache gibt, in der Patrick Modiano wohl unerreicht bleibt, dann ist es die Kunst, aus dem Halbdunkel der unscharfen Erinnerung zu schreiben. Das Dämmern, wenn die Dinge wie im Traum sich überlagern, Personen zwischen mehreren Identitäten flimmern, verschiedene Orte ineinander übergehen, aus Dokumenten Realitäten aufsteigen, es zeichnet fast alle seiner Romane aus. In „Vorraum der Kindheit“ (1989), „Dora Bruder“ (1998) oder „Gräser der Nacht“ (2012) war es besonders eindrücklich. Selten tasteten wir jedoch bei der Lektüre durch einen so dichten Nebel der Zeitsprünge wie in seinem neuen Buch, das in Frankreich gerade erschienen war, als Modiano im Herbst 2014 den Literaturnobelpreis erhielt. Bei jedem der inzwischen gut zwei Dutzend Romane des Autors, der an diesem Donnerstag seinen 70. Geburtstag feiert, glaubte man, danach könne nichts mehr kommen. Und doch geht es immer weiter.
Die besondere Atmosphäre dieses jüngsten Buchs mit dem Titel „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ stellt sich mit den ersten Sätzen ein. Auch sie kommt aus der präzisen Unschärfe der auftretenden Personen, Dinge, Orte und Namen, aus der wie der Geist aus der Flasche immerfort Vergangenes entweicht. Es beginnt mit dem Klingeln des Telefons im hinteren Zimmer der Wohnung, wo der Schriftsteller Jean Daragane in der fast sommerlichen Hitze eines Septembernachmittags eingenickt ist. Ein Unbekannter will ihm sein Adressbuch zurückgeben, das dieser vor Kurzem verloren hat. Man verabredet sich in einem Café, obwohl Daragane sich gegen das Treffen sträubt und sich damit Mut macht, die Sache würde schnell vorbei und vergessen sein. Dann aber fragt ihn der Fremde nach einem Namen, Guy Torstel, der ihm beim Blättern im Adressbuch aufgefallen war – und schon sind wir auf der abschüssigen Bahn der Halberinnerungen, Vermutungen, Kombinationen, Rekonstruktionen, die in Modianos Welt der Zeitüberlappung zwischen Faszination und Unheimlichkeit des Vergangenen führt.
Dieser Name Guy Torstel, der sowohl in Daraganes Adressbuch als auch in einem seiner Romane auftaucht, sagt dem Schriftsteller zunächst gar nichts mehr. Wie ein Senkblei zieht er ihn, der mit den Verstrickungen zurückliegender Lebensepochen nichts mehr zu tun haben will und am liebsten wie ein Schwimmer an der Wasseroberfläche bleiben möchte, in die Tiefen seiner eigenen Vergangenheit hinab. Denn der Fremde insistiert, er habe über jenen Guy Torstel recherchiert und dieser scheine mit einem lang zurückliegenden Mordfall in Zusammenhang zu stehen. Abermals setzt sich also Modianos Erinnerungskarussell aus Pariser Straßen und Plätzen, Eckcafés, Läden, Fassaden, Hinterhäusern und Wohnungen zwischen Nachkriegszeit und heute in Bewegung. Der Name Guy Torstel ruft die Erinnerung an ein Haus in der Pariser Vorstadt wach, in dem Daragane einen Teil seiner Kindheit verbrachte, und in den ihm ausgehändigten Polizeiakten fällt dem Schriftsteller ein weiterer Name auf: Annie Astrand, die Frau, die sich als Ersatzmutter in jenem Haus um ihn gekümmert hat.
Wenn Marcel Proust für die Literatur die Geheimnisse der „mémoire involontaire“, des etwa an der besonderen Form eines Treppenabsatzes spontan sich entzündenden Erinnerungsfunkens lüftete, dann ist Patrick Modiano der Autor, der das halb-willentliche Erinnern erforscht. Gerade in diesem neuen Buch sieht und hört man das Gedächtnis bei der Arbeit surren, ticken und ächzen. Der Ortsname „Le Tremblay“ löst bei Daragane zunächst nur eine vage Erinnerung aus – „er sagte sich den Namen innerlich vor und wurde ihn nicht mehr los. Le Tremblay. Eine Pferderennbahn in der südöstlichen Vorstadt . . . ein Sonntag im Herbst . . .“
In dem Maße, wie die Erinnerung sich aufhellt, wird sie von einem Gefühl des Unheimlichen überschattet, nicht nur wegen der unaufgeklärten Morde oder Verbrechen, die in Modianos Vergangenheitsnebel immer irgendwie im Spiel sind. Die sanfte Erpressung, die der Schriftsteller Daragane hier zunächst befürchtete, kommt letztlich aus seinem eigenen Gedächtnis, dessen Bann er sich nicht mehr entziehen kann. Er war damals als Kind unbeteiligte Nebenfigur eines Mordes im Milieu des Pariser Nachtlebens.
Nicht aber die Aufklärung der Ereignisse ist bei Modiano entscheidend – über Hergang, Motiv und Täter erfährt man bei ihm meistens wenig. Auch in diesem Buch können die Gesprächspartner dem herumfragenden Daragane keine andere Auskunft geben als die, seine Ersatzmutter Annie Astrand habe wohl ein paar Jahre im Knast gesessen. Modiano ist insofern ein Krimiautor ganz eigener Art. Der kriminelle Akt als solcher ist Nebensache, wesentlich ist allein das Unheimliche, Undurchschaubare, Ungewisse, das von ihm ausgeht und die Vergangenheit seltsam überzieht.
Vielen Autoren von Elias Canetti bis Martin Walser dient Kindheitserinnerung als fester Anhaltspunkt für die „gerettete Zunge“ oder einen „springenden Brunnen“. Bei Modiano quillt aus ihr immer nur neue Ungewissheit. Beim Lesen der Polizeiakte über Guy Torstel, in der er sich selber als Kind auftauchen sieht, ist für Daragane der Baum draußen vor dem Fenster mit den sanft bewegten Blättern im Wind das einzige, was ihm ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Es ist die Geborgenheit, die ihm Annie Astrand damals im Haus der Pariser Vorstadt nicht zu geben vermochte – so wunderbar dieses Frauenporträt voll umsorgender Aufmerksamkeit, Eleganz, Zurückhaltung und Gegenwart in diesem Roman auch sein mag. Die Szene der misslungenen Flucht zusammen mit dieser Frau an der französisch-italienischen Grenze zeigt auf ergreifende Weise die Verlorenheit des jungen Helden zwischen Einbildung und Wirklichkeit.
Patrick Modiano, der mit einer Zaubertinte, die nur im Dämmerlicht sichtbar wird, zu schreiben scheint, ist ein Meister der Zwischentöne. Von Roman zu Roman schließt er das Panorama eines Werks, das mit zunehmender Fülle immer tiefere Lücken in den Horizont reißt. Und seine bewährte Übersetzerin Elisabeth Edl trifft auch in diesem Buch die einfache Sprache, die auf Klärung zielt und doch stets Geheimnisse schafft.
Abermals wird im neuen Buch
ein Krimi erzählt, der nichts ist als
ein Netz aus losen Schlingen
Patrick Modiano in seiner Pariser Wohnung.
Foto: laif
Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2015. 160 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Im Dämmerlicht der Erinnerung
„Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ heißt der neue Roman des französischen Literaturnobelpreisträgers
Patrick Modiano. Nun feiert der Meister der Zwischentöne seinen siebzigsten Geburtstag
VON JOSEPH HANIMANN
Wenn es eine Sache gibt, in der Patrick Modiano wohl unerreicht bleibt, dann ist es die Kunst, aus dem Halbdunkel der unscharfen Erinnerung zu schreiben. Das Dämmern, wenn die Dinge wie im Traum sich überlagern, Personen zwischen mehreren Identitäten flimmern, verschiedene Orte ineinander übergehen, aus Dokumenten Realitäten aufsteigen, es zeichnet fast alle seiner Romane aus. In „Vorraum der Kindheit“ (1989), „Dora Bruder“ (1998) oder „Gräser der Nacht“ (2012) war es besonders eindrücklich. Selten tasteten wir jedoch bei der Lektüre durch einen so dichten Nebel der Zeitsprünge wie in seinem neuen Buch, das in Frankreich gerade erschienen war, als Modiano im Herbst 2014 den Literaturnobelpreis erhielt. Bei jedem der inzwischen gut zwei Dutzend Romane des Autors, der an diesem Donnerstag seinen 70. Geburtstag feiert, glaubte man, danach könne nichts mehr kommen. Und doch geht es immer weiter.
Die besondere Atmosphäre dieses jüngsten Buchs mit dem Titel „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ stellt sich mit den ersten Sätzen ein. Auch sie kommt aus der präzisen Unschärfe der auftretenden Personen, Dinge, Orte und Namen, aus der wie der Geist aus der Flasche immerfort Vergangenes entweicht. Es beginnt mit dem Klingeln des Telefons im hinteren Zimmer der Wohnung, wo der Schriftsteller Jean Daragane in der fast sommerlichen Hitze eines Septembernachmittags eingenickt ist. Ein Unbekannter will ihm sein Adressbuch zurückgeben, das dieser vor Kurzem verloren hat. Man verabredet sich in einem Café, obwohl Daragane sich gegen das Treffen sträubt und sich damit Mut macht, die Sache würde schnell vorbei und vergessen sein. Dann aber fragt ihn der Fremde nach einem Namen, Guy Torstel, der ihm beim Blättern im Adressbuch aufgefallen war – und schon sind wir auf der abschüssigen Bahn der Halberinnerungen, Vermutungen, Kombinationen, Rekonstruktionen, die in Modianos Welt der Zeitüberlappung zwischen Faszination und Unheimlichkeit des Vergangenen führt.
Dieser Name Guy Torstel, der sowohl in Daraganes Adressbuch als auch in einem seiner Romane auftaucht, sagt dem Schriftsteller zunächst gar nichts mehr. Wie ein Senkblei zieht er ihn, der mit den Verstrickungen zurückliegender Lebensepochen nichts mehr zu tun haben will und am liebsten wie ein Schwimmer an der Wasseroberfläche bleiben möchte, in die Tiefen seiner eigenen Vergangenheit hinab. Denn der Fremde insistiert, er habe über jenen Guy Torstel recherchiert und dieser scheine mit einem lang zurückliegenden Mordfall in Zusammenhang zu stehen. Abermals setzt sich also Modianos Erinnerungskarussell aus Pariser Straßen und Plätzen, Eckcafés, Läden, Fassaden, Hinterhäusern und Wohnungen zwischen Nachkriegszeit und heute in Bewegung. Der Name Guy Torstel ruft die Erinnerung an ein Haus in der Pariser Vorstadt wach, in dem Daragane einen Teil seiner Kindheit verbrachte, und in den ihm ausgehändigten Polizeiakten fällt dem Schriftsteller ein weiterer Name auf: Annie Astrand, die Frau, die sich als Ersatzmutter in jenem Haus um ihn gekümmert hat.
Wenn Marcel Proust für die Literatur die Geheimnisse der „mémoire involontaire“, des etwa an der besonderen Form eines Treppenabsatzes spontan sich entzündenden Erinnerungsfunkens lüftete, dann ist Patrick Modiano der Autor, der das halb-willentliche Erinnern erforscht. Gerade in diesem neuen Buch sieht und hört man das Gedächtnis bei der Arbeit surren, ticken und ächzen. Der Ortsname „Le Tremblay“ löst bei Daragane zunächst nur eine vage Erinnerung aus – „er sagte sich den Namen innerlich vor und wurde ihn nicht mehr los. Le Tremblay. Eine Pferderennbahn in der südöstlichen Vorstadt . . . ein Sonntag im Herbst . . .“
In dem Maße, wie die Erinnerung sich aufhellt, wird sie von einem Gefühl des Unheimlichen überschattet, nicht nur wegen der unaufgeklärten Morde oder Verbrechen, die in Modianos Vergangenheitsnebel immer irgendwie im Spiel sind. Die sanfte Erpressung, die der Schriftsteller Daragane hier zunächst befürchtete, kommt letztlich aus seinem eigenen Gedächtnis, dessen Bann er sich nicht mehr entziehen kann. Er war damals als Kind unbeteiligte Nebenfigur eines Mordes im Milieu des Pariser Nachtlebens.
Nicht aber die Aufklärung der Ereignisse ist bei Modiano entscheidend – über Hergang, Motiv und Täter erfährt man bei ihm meistens wenig. Auch in diesem Buch können die Gesprächspartner dem herumfragenden Daragane keine andere Auskunft geben als die, seine Ersatzmutter Annie Astrand habe wohl ein paar Jahre im Knast gesessen. Modiano ist insofern ein Krimiautor ganz eigener Art. Der kriminelle Akt als solcher ist Nebensache, wesentlich ist allein das Unheimliche, Undurchschaubare, Ungewisse, das von ihm ausgeht und die Vergangenheit seltsam überzieht.
Vielen Autoren von Elias Canetti bis Martin Walser dient Kindheitserinnerung als fester Anhaltspunkt für die „gerettete Zunge“ oder einen „springenden Brunnen“. Bei Modiano quillt aus ihr immer nur neue Ungewissheit. Beim Lesen der Polizeiakte über Guy Torstel, in der er sich selber als Kind auftauchen sieht, ist für Daragane der Baum draußen vor dem Fenster mit den sanft bewegten Blättern im Wind das einzige, was ihm ein Gefühl von Geborgenheit gibt. Es ist die Geborgenheit, die ihm Annie Astrand damals im Haus der Pariser Vorstadt nicht zu geben vermochte – so wunderbar dieses Frauenporträt voll umsorgender Aufmerksamkeit, Eleganz, Zurückhaltung und Gegenwart in diesem Roman auch sein mag. Die Szene der misslungenen Flucht zusammen mit dieser Frau an der französisch-italienischen Grenze zeigt auf ergreifende Weise die Verlorenheit des jungen Helden zwischen Einbildung und Wirklichkeit.
Patrick Modiano, der mit einer Zaubertinte, die nur im Dämmerlicht sichtbar wird, zu schreiben scheint, ist ein Meister der Zwischentöne. Von Roman zu Roman schließt er das Panorama eines Werks, das mit zunehmender Fülle immer tiefere Lücken in den Horizont reißt. Und seine bewährte Übersetzerin Elisabeth Edl trifft auch in diesem Buch die einfache Sprache, die auf Klärung zielt und doch stets Geheimnisse schafft.
Abermals wird im neuen Buch
ein Krimi erzählt, der nichts ist als
ein Netz aus losen Schlingen
Patrick Modiano in seiner Pariser Wohnung.
Foto: laif
Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl.
Carl Hanser Verlag, München 2015. 160 Seiten, 18,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2015Die Farbe des Vergessens
Keiner schreibt faszinierender über den Sog des Erinnerns als Patrick Modiano
Vor ein paar Jahren hätten die meisten Feuilletons sich bei ihm kaum gerührt, obwohl sie doch sonst so fixiert sind auf Jubiläen und runde Dichtergeburtstage. Jetzt, nachdem Patrick Modiano 2014 den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat, wird überall beflissen zum 70. Geburtstag gratuliert, auch das neue Buch wird, entgegen früherer Praxis, gleich besprochen. Dass Modiano deshalb wirklich angekommen sei in Deutschland, wird man nicht behaupten wollen. Wahrscheinlicher ist, dass es ihm demnächst auch so ergeht wie seinem Landsmann Jean-Marie Gustave Le Clézio, über den hier nicht mehr allzu viel zu lesen war, seit er 2008 ebenfalls den Nobelpreis erhielt.
Wer so viel über das siamesische Zwillingspaar Vergessen und Erinnern geschrieben hat wie Modiano, über beider Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit, den muss die plötzliche Zuwendung so wenig kümmern wie die Ignoranz zuvor. Nach allem, was man von Modiano weiß, hat er sowieso seinen eigenen Kompass. Er folgt dem Satz von René Char, den er schon "Familienstammbuch", einem seiner frühen Romane, vorangestellt hatte: "Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren."
Es gibt im neuen Roman mit dem Nebensatztitel "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" viele Details und Motive, die auch an die älteren Bücher erinnern, die schillernden Namen zum Beispiel wie Gilles Ottolini, Chantal Grippay oder Jacques Perrin de Lara. Es kann ja auch nicht verwundern, dass in diesem Werk mit seinen Überlagerungen, Variationen, Wiederaufnahmen scheinbar weit auseinander liegende Bücher miteinander sprechen. Und es überrascht auch nicht, dass sich zwischenzeitlich ein langer Schatten des Romans "Aus tiefstem Vergessen" über die Erzählung legt.
Ein älterer Schriftsteller, Jean Daragane, der sein Adressbuch verloren hat, erhält einen Anruf des Finders, Gilles Ottolini. Man trifft sich im Café, eine junge Frau ist dabei, ein Name löst unwillkürlich eine Erinnerung aus. So kommt die Erzählung in Bewegung. Sie springt weniger zwischen den Zeiten, als dass diese nahtlos ineinander übergehen, auf einmal ist es 1952, dann 1967 oder 1972, und 1972 verschwindet wieder unter der Gegenwart des Jahres 2013. Das ist Modianos Rhythmus, das sind die Mäander der Erinnerung. Und dieser Rhythmus stellt sich ohne alle Prätention mit einer unfassbaren Leichtigkeit ein, welche die allerhärteste Arbeit voraussetzt.
Eine Weile scheint es, als habe sich Daragane in der Einsamkeit seiner Wohnung nur etwas eingebildet: den Anruf, die junge Frau, die "Akte", die Ottolini über ihn angelegt haben will. Dann merkt er, dass er seiner Erinnerung nicht entkommt; aber nötigen lässt sie sich auch nicht. Widerwillig erkennt er das Kind, das er selber war, auf drei Automatenbildern, die zur "Akte" gehören; vergeblich versucht er, sich genauer an eine Annie Astrand zu erinnern, bei er als Kind eine Weile wohnte und die er fünfzehn Jahre später noch einmal wiedersah; beharrlich benutzt er sogar eine Suchmaschine im Internet; erleichtert spürt er "die süße Amnesie" einsetzen. Er erinnert sich daran, wie er ein Buch "Über das Vergessen" geschenkt bekam, und sagt sich: "Kindheitserinnerungen sind oft kleine Details, die sich abheben vor dem Nichts."
Natürlich bleiben auch in diesem Roman lose Enden, was manche Rezensenten gestört hat. Aber warum sollte sich bei Modiano auf einmal etwas zum Plot runden, eine Akte mit dem Vermerk "erledigt" weggelegt werden? Wenn Modiano Motive des Kriminalromans, insbesondere aus dessen Noir-Variante, entleiht, das Rätsel, das Halbdunkel, die Ermittlung, die zum Ermittler zurückführt, heißt das ja noch nicht, dass er am Ende mit Transparenz zurückzahlen müsste.
Geht es einem nicht, wenn man Modiano liest, so, als betrachte man ein Foto, das zerknickt, fleckig und nicht mehr ganz scharf ist, dessen Bildausschnitt einen unbefriedigt lässt, weil ein Gesicht unkenntlich ist oder ein Gebäude - das aber nun mal alles ist, was man hat aus der Vergangenheit? Und warum sollte das anders sein mit den inneren Bildern? "Die Hausfassaden und Straßenkreuzungen waren im Lauf der Jahre zu einer inneren Landschaft geworden, die schließlich das allzu glatte und ausgestopfte Paris der Gegenwart zugedeckt hatte", denkt Daragane, als er durchs Montmartre des Jahres 2012 fährt und das von 1952 sieht. Diese Momente, in denen die Zeiten verschwimmen, wenn es zu Doppelbelichtungen kommt, das ist der Aggregatzustand von Modianos Prosa: flüchtig, schwer fassbar, transitorisch, ohne Aussicht auf eine wiedergefundene Zeit. Aber mag die Erinnerung sich auch entziehen, so packt doch all die Frauen und Männer, die in Modianos Büchern in die Vergangenheit eintauchen, weil sie deren Sog nicht widerstehen können, nicht jene Verzweiflung, von der Jorge Luis Borges einmal erzählt hat.
Sein Vater wollte ihm, Borges, erklären, warum er keine Erinnerungen an seine Jugend mehr habe: Wenn er sich an den Morgen eines Tages erinnere, habe er ein Bild dessen im Kopf, was passiert sei. Wenn er jedoch am Abend erneut an diesen Morgen zurückdenke, dann erinnere er sich nicht an das Bild dieses Morgens, sondern an das erste Bild in seiner Erinnerung - bis er sich am Ende immer nur an seine jeweils letzte Erinnerung erinnere. Auch bei Modiano sind die Bilder, wie bei analogen Fotografien, Abzüge von Abzügen - aber immer noch fern vom "neutralen Weiß, der Farbe des Vergessens".
PETER KÖRTE
Patrick Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst". Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Hanser, 160 Seiten, 18,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keiner schreibt faszinierender über den Sog des Erinnerns als Patrick Modiano
Vor ein paar Jahren hätten die meisten Feuilletons sich bei ihm kaum gerührt, obwohl sie doch sonst so fixiert sind auf Jubiläen und runde Dichtergeburtstage. Jetzt, nachdem Patrick Modiano 2014 den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat, wird überall beflissen zum 70. Geburtstag gratuliert, auch das neue Buch wird, entgegen früherer Praxis, gleich besprochen. Dass Modiano deshalb wirklich angekommen sei in Deutschland, wird man nicht behaupten wollen. Wahrscheinlicher ist, dass es ihm demnächst auch so ergeht wie seinem Landsmann Jean-Marie Gustave Le Clézio, über den hier nicht mehr allzu viel zu lesen war, seit er 2008 ebenfalls den Nobelpreis erhielt.
Wer so viel über das siamesische Zwillingspaar Vergessen und Erinnern geschrieben hat wie Modiano, über beider Unverfügbarkeit und Unberechenbarkeit, den muss die plötzliche Zuwendung so wenig kümmern wie die Ignoranz zuvor. Nach allem, was man von Modiano weiß, hat er sowieso seinen eigenen Kompass. Er folgt dem Satz von René Char, den er schon "Familienstammbuch", einem seiner frühen Romane, vorangestellt hatte: "Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren."
Es gibt im neuen Roman mit dem Nebensatztitel "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" viele Details und Motive, die auch an die älteren Bücher erinnern, die schillernden Namen zum Beispiel wie Gilles Ottolini, Chantal Grippay oder Jacques Perrin de Lara. Es kann ja auch nicht verwundern, dass in diesem Werk mit seinen Überlagerungen, Variationen, Wiederaufnahmen scheinbar weit auseinander liegende Bücher miteinander sprechen. Und es überrascht auch nicht, dass sich zwischenzeitlich ein langer Schatten des Romans "Aus tiefstem Vergessen" über die Erzählung legt.
Ein älterer Schriftsteller, Jean Daragane, der sein Adressbuch verloren hat, erhält einen Anruf des Finders, Gilles Ottolini. Man trifft sich im Café, eine junge Frau ist dabei, ein Name löst unwillkürlich eine Erinnerung aus. So kommt die Erzählung in Bewegung. Sie springt weniger zwischen den Zeiten, als dass diese nahtlos ineinander übergehen, auf einmal ist es 1952, dann 1967 oder 1972, und 1972 verschwindet wieder unter der Gegenwart des Jahres 2013. Das ist Modianos Rhythmus, das sind die Mäander der Erinnerung. Und dieser Rhythmus stellt sich ohne alle Prätention mit einer unfassbaren Leichtigkeit ein, welche die allerhärteste Arbeit voraussetzt.
Eine Weile scheint es, als habe sich Daragane in der Einsamkeit seiner Wohnung nur etwas eingebildet: den Anruf, die junge Frau, die "Akte", die Ottolini über ihn angelegt haben will. Dann merkt er, dass er seiner Erinnerung nicht entkommt; aber nötigen lässt sie sich auch nicht. Widerwillig erkennt er das Kind, das er selber war, auf drei Automatenbildern, die zur "Akte" gehören; vergeblich versucht er, sich genauer an eine Annie Astrand zu erinnern, bei er als Kind eine Weile wohnte und die er fünfzehn Jahre später noch einmal wiedersah; beharrlich benutzt er sogar eine Suchmaschine im Internet; erleichtert spürt er "die süße Amnesie" einsetzen. Er erinnert sich daran, wie er ein Buch "Über das Vergessen" geschenkt bekam, und sagt sich: "Kindheitserinnerungen sind oft kleine Details, die sich abheben vor dem Nichts."
Natürlich bleiben auch in diesem Roman lose Enden, was manche Rezensenten gestört hat. Aber warum sollte sich bei Modiano auf einmal etwas zum Plot runden, eine Akte mit dem Vermerk "erledigt" weggelegt werden? Wenn Modiano Motive des Kriminalromans, insbesondere aus dessen Noir-Variante, entleiht, das Rätsel, das Halbdunkel, die Ermittlung, die zum Ermittler zurückführt, heißt das ja noch nicht, dass er am Ende mit Transparenz zurückzahlen müsste.
Geht es einem nicht, wenn man Modiano liest, so, als betrachte man ein Foto, das zerknickt, fleckig und nicht mehr ganz scharf ist, dessen Bildausschnitt einen unbefriedigt lässt, weil ein Gesicht unkenntlich ist oder ein Gebäude - das aber nun mal alles ist, was man hat aus der Vergangenheit? Und warum sollte das anders sein mit den inneren Bildern? "Die Hausfassaden und Straßenkreuzungen waren im Lauf der Jahre zu einer inneren Landschaft geworden, die schließlich das allzu glatte und ausgestopfte Paris der Gegenwart zugedeckt hatte", denkt Daragane, als er durchs Montmartre des Jahres 2012 fährt und das von 1952 sieht. Diese Momente, in denen die Zeiten verschwimmen, wenn es zu Doppelbelichtungen kommt, das ist der Aggregatzustand von Modianos Prosa: flüchtig, schwer fassbar, transitorisch, ohne Aussicht auf eine wiedergefundene Zeit. Aber mag die Erinnerung sich auch entziehen, so packt doch all die Frauen und Männer, die in Modianos Büchern in die Vergangenheit eintauchen, weil sie deren Sog nicht widerstehen können, nicht jene Verzweiflung, von der Jorge Luis Borges einmal erzählt hat.
Sein Vater wollte ihm, Borges, erklären, warum er keine Erinnerungen an seine Jugend mehr habe: Wenn er sich an den Morgen eines Tages erinnere, habe er ein Bild dessen im Kopf, was passiert sei. Wenn er jedoch am Abend erneut an diesen Morgen zurückdenke, dann erinnere er sich nicht an das Bild dieses Morgens, sondern an das erste Bild in seiner Erinnerung - bis er sich am Ende immer nur an seine jeweils letzte Erinnerung erinnere. Auch bei Modiano sind die Bilder, wie bei analogen Fotografien, Abzüge von Abzügen - aber immer noch fern vom "neutralen Weiß, der Farbe des Vergessens".
PETER KÖRTE
Patrick Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst". Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Hanser, 160 Seiten, 18,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Patrick Modiano hat einen meisterlich komponierten Roman von großer Weisheit geschrieben, in dem er den Leser mit stets höflicher Geste in ein labyrinthisches Psychodrama führt." Nils Minkmar, LiteraturSpiegel, 12/15
"Der vertraute Prosasound, der süchtig macht." Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.11.15
"Ich bin nach ein paar Sätzen tatsächlich wehrlos. Man glaubt, das zu kennen. Man glaubt, diese Welt von Modiano zu kennen, und dennoch verstrickt er einen immer wieder sofort in diese Atmosphäre." Helmut Böttiger, SWR 2 Literatur, 22.10.15
"Keiner schreibt faszinierender über den Sog des Erinnerns als Patrick Modiano." Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.15
"Dieser Roman ist vielleicht sein persönlichstes Buch." Tilman Krause, Die Welt, 15.08.15
"Modianos virtuoser Umgang mit dem Thema der Erinnerung zeigt sich am Adressbuch im Kleinen, in der beredten Verschwiegenheit des Schriftstellers im Großen." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 30.07.15
"Ein Roman wie ein Tagtraum - und zugleich eine eindrucksvolle Hommage an die Kraft der Wörter und die Macht der Sprache. ... Ein Buch zum schnellen Lesen; die Seiten fliegen vorbei wie eine Landschaft am leicht geöffneten Zugfenster." Patric Seibel, NDR Lesezeit, 30.07.15
"Ein schwindelerregendes Stück Literatur." Barbara Villiger Heilig, Neue Zürcher Zeitung, 30.07.15
"Modiano versteht es Spannung aufzubauen und zu halten, Wirklichkeit und Atmosphäre einer lang zurückliegenden Zeit zusammenzusetzen aus hundert winzigen, aber gar nicht nebensächlichen Details, zuweilen wie der legendäre Jules Maigret persönlich." Elisabeth Edl, Neue Zürcher Zeitung, 30.07.15
"Es ist wie jedes Mal bei einem Roman von Patrick Modiano: Nach wenigen Sätzen verfällt man der Erzählerstimme." Maike Albath, Deutschlandradio, 23.07.15
"Der vertraute Prosasound, der süchtig macht." Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.11.15
"Ich bin nach ein paar Sätzen tatsächlich wehrlos. Man glaubt, das zu kennen. Man glaubt, diese Welt von Modiano zu kennen, und dennoch verstrickt er einen immer wieder sofort in diese Atmosphäre." Helmut Böttiger, SWR 2 Literatur, 22.10.15
"Keiner schreibt faszinierender über den Sog des Erinnerns als Patrick Modiano." Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.15
"Dieser Roman ist vielleicht sein persönlichstes Buch." Tilman Krause, Die Welt, 15.08.15
"Modianos virtuoser Umgang mit dem Thema der Erinnerung zeigt sich am Adressbuch im Kleinen, in der beredten Verschwiegenheit des Schriftstellers im Großen." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 30.07.15
"Ein Roman wie ein Tagtraum - und zugleich eine eindrucksvolle Hommage an die Kraft der Wörter und die Macht der Sprache. ... Ein Buch zum schnellen Lesen; die Seiten fliegen vorbei wie eine Landschaft am leicht geöffneten Zugfenster." Patric Seibel, NDR Lesezeit, 30.07.15
"Ein schwindelerregendes Stück Literatur." Barbara Villiger Heilig, Neue Zürcher Zeitung, 30.07.15
"Modiano versteht es Spannung aufzubauen und zu halten, Wirklichkeit und Atmosphäre einer lang zurückliegenden Zeit zusammenzusetzen aus hundert winzigen, aber gar nicht nebensächlichen Details, zuweilen wie der legendäre Jules Maigret persönlich." Elisabeth Edl, Neue Zürcher Zeitung, 30.07.15
"Es ist wie jedes Mal bei einem Roman von Patrick Modiano: Nach wenigen Sätzen verfällt man der Erzählerstimme." Maike Albath, Deutschlandradio, 23.07.15