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Colum McCann gelingt durch die Verwebung von historischen Fakten und Fiktion die Verwandlung einer Legende, Rudolf Nurejew, in eine greifbare Person. Ein literarisches Meisterwerk.

Produktbeschreibung
Colum McCann gelingt durch die Verwebung von historischen Fakten und Fiktion die Verwandlung einer Legende, Rudolf Nurejew, in eine greifbare Person. Ein literarisches Meisterwerk.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Ein guter Tänzer hängt an Gottes Bart
Sitzt wie angegossen: Colum McCann versteht, wer Rudolf Nurejew war / Von Verena Lueken

Es gab im späten neunzehnten Jahrhundert einen Choreographen in Petersburg, der gern Spargel aß und ein kleines Theater nördlich des Obwodnow-Kanals bespielte. Er war nur eine Randfigur der Ballettwelt und lebte mit seinem Bruder, den er sehr liebte, von dem, was junge Tänzer vor ihrer Tür ablegten. Der Choreograph hieß Dimitri Jachmennikow, und er erblindete schockartig, wie es hieß, als sein Bruder starb. Wochenlang schloß er sich im Theater ein, robbte bäuchlings über die Bühne, betastete den Tanzboden, hielt sein Ohr an die Dielen und ließ sich von Schreinern den Verlauf der Maserung und die Eigenschaften des Holzes erklären. Man dachte, er habe nach dem Augenlicht nun auch den Verstand verloren. Am ersten Todestag des Bruders lud Dimitri ein paar Tänzer zum Vortanzen ein, wählte einige aus und erarbeitete mit ihnen ein Programm. Niemand wollte glauben, daß ein Blinder choreographieren und die Tänzer, die er nicht sieht, korrigieren könnte, doch Dimitri lauschte den Bühnenbrettern jede Bewegung ab, jede Unsauberkeit in der Haltung, der Fußstellung, den Sprüngen und Hebefiguren.

Diese Geschichte von einem, der auf scheinbar unmögliche Weise seinen Körper und dessen Grenzen überwindet, um weiterhin das einzige zu tun, das er kann, gehört zu der Erinnerungsration aus der Heimat, die ein junger Tatar, der tanzen lernt, von seinen ersten Lehrern mit auf den Weg bekommt, als er fortzieht, um weltberühmt zu werden. Der Tatar ist Rudolf Nurejew, und die Geschichte ist wahrscheinlich nicht wahr. Colum McCann erzählt sie so, daß das keine Rolle spielt.

Der irische Schriftsteller, der seit vielen Jahren in New York lebt, hat bisher drei Erzählsammlungen und zwei Romane geschrieben. Weil McCann Geschichten sammelt, sind seine Themen vielfältig; er hat von einem Japaner erzählt, der an der irischen Westküste Häuser tapeziert ("Fischen im tiefschwarzen Fluß"), von der Rückkehr eines Sohns zu seinem verwitweten Vater ("Gesang der Kojoten"), vom Hoch- und Tiefbau in New York ("Der Himmel über der Stadt") oder von einem Jungen aus Nordirland und dessen Onkel, einem IRA-Häftling im Hungerstreik ("Wie alles in diesem Land"). Seine harte Sprache konnte manchmal ein wenig metaphernlastig sein und glitt mitunter ins Schwülstige, wurde aber, wie der letzte Erzählband zeigte, immer schlackenloser und von mitunter erschütternder Transparenz.

"Ich glaube nicht", sagte McCann einmal, "daß die Welt besonders schön ist. Aber ich glaube an Erlösung. Es gibt Augenblicke, in denen die Welt ein Ganzes wird, und wir gehen nach Haus." Daß diesen Autor die Lebensgeschichte eines Tänzers aus Ufa in Baschkirien fesselt, der in den Westen floh, der reich wurde und der die Bühne so dringend brauchte, daß er, auch als das Publikum über ihn zu lachen begann, nicht aufhören konnte zu tanzen, bis er, kaum Mitte Fünfzig, an Aids starb, liegt also nicht so fern, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. McCann interessierte sich immer für Exilierte, und er hat den schreiberischen Mut, den es braucht, sich einer Geschichte zuzuwenden, die so viele Fallen stellt, durch die der Autor in romantisierte Abgründe der Künstlerseele abrutschen könnte, daß ein Scheitern fast unvermeidbar scheint. Doch McCann, der bisher über Rußland nicht viel und über die Ballettwelt so gut wie nichts wußte, schrieb mit "Der Tänzer" sein bisher bestes Buch.

Er fuhr nach Rußland, das er nur aus der Literatur kannte, begann, sich Tanzaufführungen anzusehen, las Biographien, von denen es über Nurejew einige gibt, erforschte die Schwulenszene. Mit diesen Eindrücken im Kopf schrieb er einen Roman, in dem erfundene und historische Figuren agieren, unter erfundenen oder tatsächlichen Namen; in dem die Perspektiven ständig wechseln und neben einer allwissenden Instanz eine Reihe anderer Erzähler auftreten, Nurejews parteitreue Schwester Tamara etwa, Mann und Tochter seiner ersten Tanzlehrerin in Ufa ("Häng dich beim Sprung an Gottes Bart. Und lande nicht wie eine Kuh"), eine chilenische Freundin von der Kirow-Ballettschule, ein englischer Schuhmacher, die französische Haushälterin, Strichjungen, Tänzer, Geliebte. Nurejew selbst spricht aus Tagebucheinträgen, Trainingslisten. Eine Aufstellung von Gegenständen, von Rosen und russischem Tee über Todesdrohungen bis zu Hotelschlüsseln und Liebesbriefen, die bei Nurejews erstem Pariser Auftritt auf die Bühne flogen, eröffnet den Roman, der mit einer Liste der Lose zur Versteigerung der Rudolf-Nurejew-Sammlung 1995 endet.

Sowjetunion, 1941 bis 1956. Die Winter sind brutal, vor den Soldaten sterben die Pferde. Täglich fährt ein Zug durch Baschkirien und hält in Ufa, der verbotenen Stadt der Waffenindustrie und Heimatstadt Nurejews, um Verwundete abzuladen. In einem Gewächshaus werden sie gewaschen, dann ins Krankenhaus verlegt, wo ab und zu Musik gespielt wird und eine Gruppe von Kindern zu ihrer Unterhaltung Volkstänze vorführt. Amputierte, verwirrte, bandagierte, hoffnungslose Männer: das erste Publikum für Rudolf, der hier Rudi oder Rudik heißt. Dessen Flucht aus diesem Land Jahre später setzt seine Familie und Freunde verstärktem Druck der Behörden aus, was ihm selbst seine Schwester, die er kurz vor seinem Tod mit einem Zwölf-Stunden-Visum besuchen darf, am Ende verzeiht. Doch das Gefühl, daß mit ihm der letzte Rest russischer Größe desertierte und für die, die er verließ, nichts blieb als die nackte Wirklichkeit, in der es keine Seife gab, durchzieht die Erinnerungen der Zurückgebliebenen mit einer Schärfe, die Rudiks Kunst nicht neutralisieren kann.

Nur wenige Seiten widmet McCann dem Tanzen selbst, glücklicherweise muß man sagen, denn in diesen Passagen verläuft ihm die Bewegung dann doch im Klischee, läßt er "Töne durch die Adern fließen", den Körper "über die Bühne fegen", und "Schweißtropfen von den Haaren tropfen", um schließlich bei der "Reinheit in Bewegung" anzukommen, wie so viele, die übers Ballett schreiben. Spannender ist, wie der Schuhmacher in London an der Form von Nurejews Füßen abliest, welches Leben sie hinter sich haben, eine schuhlose Kindheit auf Beton nämlich, später eine Jugend in zu kleinen Schuhen, verbunden mit einem für Tanzfüße späten, gnadenlosen Training. Sie wuchsen deshalb in die Breite statt in die Länge, was zu allen möglichen Sonderwünschen an den Schuhmacher führt, bei dem für ein Gastspiel in London vierzig Paare bestellt sind.

Die Geschichte des Schuhmachers ist eines von zwei Kapiteln, die McCann in einem einzigen Satz erzählt. Das andere ist die Geschichte einer Nacht mit Victor, einer Art schillernd ordinärer Version von Rudi, in New York. Sie beginnt mit einer glamourösen Party in Rudis Wohnung im Dakota, dem exklusiven Apartmenthaus am Central Park, vor dem John Lennon später erschossen wurde, führt dann durch Saunen und Bars bis zu den Lastwagen im Meat District, in denen am frühen Morgen des nächsten Tags die Unersättlichen noch einen letzten Partner finden.

Immer wieder gibt es lange, atemlose Passagen wie diese, und es wäre nicht nötig gewesen, hier, um der Symmetrie mit dem früheren Kapitel willen, noch einmal auf Satzgrenzen zu verzichten. Das gelingt sowieso nur durch einige Schummelei, grafische Absätze, ab und zu ein Semikolon, wo ein Punkt hingehört. Aber man spürt eine Lust am Experiment, das zwar letztlich nicht glückt, aber dem Buch eine Lebendigkeit verleiht, die in den peniblen, risikofreien Konstruktionen etwa eines Franzen oder Eugenides nicht immer zu finden ist.

"Der Tänzer" gehört als fiktive Biographie zu einem heiklen Genre. Einerseits muß sich der Autor nicht den krämerischen Mühen des Biographen unterziehen, andererseits muß er seine Imagination mit dem Ablauf eines tatsächlich gelebten Lebens parallelführen und diesem Leben gegenüber wahrhaftig sein, ohne Faktentreue zu beweisen. Er darf also, wie jeder Geschichtenerzähler, lügen, trägt damit aber ein bißchen mehr Verantwortung. McCann weiß das. "Der Tänzer" ist so wahr wie die Geschichte des blinden Choreographen.

Colum McCann: "Der Tänzer". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2003. 474 S., geb., 22,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2003

Die Passion des Baschkiren
Colum McCann erfindet das Leben Rudolf Nurejews neu
Was war und was hätte sein können, weist auf das gleiche Ende, heißt es in T.S. Eliots „Four Quartets”. So ist auch das neue Buch Colum McCanns zu lesen; eingangs warnt der Autor eindringlich vor Missverständnissen: „Dies ist ein Roman”, betont er, eine reine Fiktion. Am Ende aber verweist der in New York lebende Ire auf eigene Recherchen und benützte Quellen, vor allem auf zwei Biographien über seinen Protagonisten Rudolf Nurejew.
Weder will noch kann McCann in Konkurrenz treten mit der Arbeit penibler Biographen: Er erzählt elliptisch, übergeht vieles, was faktisch für die Laufbahn des russischen Tänzers von Bedeutung war, und wechselt vor allem immer wieder die Perspektive. Der Autor erfindet Figuren, benützt sie – neben der Institution des allwissenden Erzählers – als fiktive Augenzeugen und macht sie ihrerseits zu Erzählern, von der Schwester und der ersten Lehrerin des Tänzers bis zu einer chilenischen Freundin und dem französischen Dienstmädchen. Jeder unterschiedliche Blickwinkel setzt auch einen anderen Schwerpunkt und dient einer anderen Facette in der schwierigen, zerrissenen Persönlichkeit Nurejews.
Die Klärung der Frage, was McCann recherchiert und was er erfunden hat, ob die eingefügten „Dokumente” und Figuren „echt” sind, inwieweit den authentischen Namen (dem zeitweiligen Geliebten und Kollegen Erik Bruhns etwa oder der legendären englischen Ballerina Margot Fonteyn) historische Gerechtigkeit widerfährt, zielt an McCanns Arbeit vorbei. Was war und was hätte sein können im Leben Nurejews, läuft hier, ganz im Sinne Eliots, aufs Gleiche hinaus.
Was aber, wenn es nicht um Fakten geht, macht diesen Roman lesenswert? Seine Leidenschaft – auch die sprachliche – und seine Zerrissenheit, zudem die emotionale Kraft von McCanns Imagination. „Der Tänzer” beginnt mit dem Kriegswinter 1944 und den ins Absurde gesteigerten physischen und psychischen Qualen der Opfer; im baschkirischen Ufa, der „verbotenen” Stadt der Schwerindustrie und Waffenfabriken, tritt ein fünfjähriger Junge mit Gleichaltrigen in einem Lazarett auf. Nurejews erstes Publikum besteht aus an Leib und Seele verwundeten Soldaten, denen die Kleinen mit Volkstänzen Ablenkung verschaffen sollen. Am Anfang war die totale Not.
Die Heimkehr des Vaters macht das Leben des Kleinen, den sie „Rudik” nennen, nicht einfacher. Das Kind soll ein richtiger Kerl werden, am besten Arzt oder Ingenieur, doch der Sohn, bereits unter dem Einfluss Annas, seiner ersten Tanzlehrerin – einer Verbannten aus Leningrad – hat die Kunst für sich entdeckt; er wird Bücher lesen und Musik hören, die wenig zu tun haben mit der Kulturpolitik der Partei, zum Missfallen seines Vaters. „Er wurde geschlagen, weil er tanzte, und hörte dennoch nicht auf zu tanzen.” Und Annas Mann beobachtet den Jungen zusammen mit dem Vater: „Da wurde mir bewusst, dass Rudiks Genie darin lag, seinen Körper sagen zu lassen, was er anders nicht ausdrücken konnte.”
Manie des Luxus
McCann sieht Nurejews Leben als Passion, deren Stationen er als endlosen Kreuzweg schildert: die Ballettschule in Leningrad, der Beginn der Karriere am Kirow-Theater, die ersten Jahre in Paris und London, nachdem sich Nurejew ­ in einer seiner vielen Grenzüberschreitungen - in den Westen abgesetzt hatte und zu Hause als Vaterlandsverräter zu sieben Jahren schwerer Zwangsarbeit verurteilt wurde, die ersten Skandale, das wilde Privatleben des homosexuellen Tänzers. Mehr und mehr erinnert dieses Schicksal an das Künstlerbild der Romantik, freilich mit einem gravierenden Unterschied: Nurejew wird sich seiner dunklen Nachtseiten nicht nur bewusst, er lebt sie auch aus. Und McCann scheut sich nicht, dies mit einem ziemlich drastischen Kapitel aus der Schwulenszene New Yorks zu veranschaulichen.
Dennoch betreibt der Autor keine Demontage des Genies, sondern macht Nurejew in seiner heillosen Zerrissenheit verständlich. Immer wieder betont er seine Treue – nicht in sexuellen Beziehungen, sondern in seiner Haltung zu den aus eigener Schuld verlorenen Eltern, zu den einmal geschlossenen Freundschaften, bis hin zu dem schwulen Halbwelt-Ganoven Victor Pareci. Er erzählt vom manisch betriebenen Luxus, von den vielen Häusern und Wohnungen, als könnten sie in der Summe die unerreichbar gewordene Heimat ersetzen. Quälend intensiv schildert er dann die Zeichen des nahenden Endes, der Erschöpfung, der Schmerzen und der finalen Verausgabung des Stars, den Cosmopolitan zum „schönsten Mann der Welt” gekürt hatte.
„Der Tänzer” endet vor dem Tod seines Helden, als wolle sich der Erzähler abwenden vor dieser Endgültigkeit und Nurejew lieber in den Mythos zurückführen, in den er längst eingekehrt war. McCann blickt hinter diesen Mythos, der sich auch aus Klischees nährt, aber er zerstört ihn nicht, sondern betreibt beharrlich dessen Erklärung ­ auch in der vielfach aufeinander geschichteten Fiktion. Einmal lässt er Odile, das französische Dienstmädchen, sagen, Monsieur Nurejew hätte gesagt, „der Sinn der Einsamkeit, die wir in diesem Leben erfahren, offenbart sich erst, wenn wir nicht mehr einsam sind”.
H.G. PFLAUM
COLUM McCANN: Der Tänzer. Roman. Deutsch von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003. 474 Seiten, 22,90 Euro.
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'The theme of towering celebrity and its attendant vacuity is very well done.' Chris Power THE TIMES