Ein zeitgenössischer Dichter beugt sich, in mehreren Zyklen, über Dantes fremde Welt wie über die eigene und verbindet dabei Nahes mit Fernem - eine Bewegung, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führt und umgekehrt. Es wird selten wörtlich aus der Commedia zitiert, auch deren Strophenbau und Reimschema werden nicht nachgeahmt.Auf seiner Wanderung durch die drei Reiche des Jenseits (das schon bei Dante auch ein Diesseits ist) berichtet das lyrische Ich von der allgegenwärtigen Verrottung, der Natur- und Kulturvernichtung und dem Leiden des Einzelnen, Krankheit, Tod, aber auch vom Licht der Poesie und des Sommerglücks - im Spiegel Dantes, Goethes, Schuberts und Büchners, im Spiegel einer Reise durch ein so verwahrlostes Land wie Nigeria, das einen durchaus an die Hölle der Göttlichen Komödie erinnert, wo Sünder, Verräter und Mörder im Kot versinken, im Feuer braten und im ewigen Eis feststecken.Auch Ägypten wird aufgesucht ("Götter zerbrochen Tempel am Rand der Wüste"), die Feuerinsel Stromboli, der Süden Frankreichs - magische Orte eines "nachtlosen" paradiesischen Sommers. Landschaftsszenen, Kindheitserinnerungen und Künstlerporträts fügen sich ein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.2012Höllenschritte in Himmelsgassen
Wohin Gedichte gelangen können, wenn sie sich den richtigen Begleiter suchen: Michael Buselmeiers gewaltiger Geselle "Dante deutsch".
Von Gerhard Stadelmaier
Plötzlich wieder ein - wie lange? seit Ewigkeiten! - vermisster Ton, zupfgeschmettert auf einer Harfe, die mit Saiten aus Menschenhaut bespannt scheint: "Laß uns wieder von der Folter Gebrauch machen, / Bischof - Schandrad und glühende Stiefel!", bis die Dichter, zu Scharen getrieben, "zu Schiff!, ruft Charon, ruft Orpheus", sich zur Rückseite der Erde bewegen, "über die Säulen des Herkules hinaus, / ihr Spitzel in Eis oder Feuer gebannt, in die / Wüsten der Meere, vom Hungertuch überspannt, / Brandgänse, Geier, wo Ugolino aufs Neue / das elende Fleisch seiner Söhne verschlingt / und sich den Mund mit den Locken auswischt".
So gebildet beginnt "Die Hölle (I)", der erste - wie soll man das anders und schöner nennen? - Gesang, den der vierundsiebzigjährige Wahl-Heidelberger und gebürtige Berliner Dichter Michael Buselmeier - wie soll man das anders und schöner nennen - anhebt? Die Geschichte des Grafen Ugolino della Gherardesca, den sein Gegenspieler, der Erzbischof Ruggiero Ubaldini, in einen Turm hat sperren lassen, wo er zusammen mit seinen Söhnen über der Giftleiche seiner Frau an den Delirien des Hungers und des Wahnsinns zugrunde geht (inklusive Kannibalismus), steht im 32. beziehungsweise 33. Gesang des "Inferno" der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri.
Wer einen Gedichtband so beginnen lässt und sich Dante, den uralten Wanderer durch Hölle, Fegefeuer und Himmel, zum Weggenossen wählt, mit ihm als "Dante deutsch" auch im Titel prunkt und ihm, vom "Inferno" übers "Purgatorio" bis hin zum "Paradiso", zwölf von insgesamt dreiundsechzig Gedichten des Buches widmet - wohin gelangt er? Ins gymnasialpoetisch verstreberte Karteikartenreich eines poeta schmocktus? Ins wonnige Land Vorgestrien, über dem das Zitat-Gebirg' seine schneebedeckten Gipfel erhebt?
Er gelangt unmittelbar ins geheimnis- und schreckenssatte Heute. Wenn seinem Dante "ein Faulfluß aufquellend / um geborstene Bäume / vollgesogen / mit Säure mit Salz" entgegendünstet. Wenn das "blutgetünchte Wolkentheater / sich nährend / aus der Kloake / Afrika" seine Schreckenskulissen entfaltet. Wenn in den "Baracken Workutas wo Raubmörder würfeln um Feuchtes", sie "alle versinken / Ein kreisendes Floß brandvoll mit schreienden / Leibern" und "mit zerfetzter Lunge schlafen wir nackt auf Beton". Wenn das Zeilen-Ende das Ende aller Zeiten vom Kriegsgefangenenlager des Zweiten Weltkriegs in einem Enjambement-Wirbel hinüberzieht in die Höllenwüsten Nigerias, wo der Wind Plastiktüten "vor uns her rollt über das rote / rauchende Land", in dem die Nächte widerklingen "von der Machete Klang an fremder Pforte" und "Kein Schlaf nachts Schüsse / vorm lichtlosen Haus / Wörter wie Wunden / blaue Fetzen aus Blei". So viel Gegenwart war lange nicht mehr in Gedichten.
Plötzlich wird eine Sprache, die nicht die Welt nur beschreibt, sondern durch sie hindurchschaut, wieder politisch. In dem Sinne, dass Lyrik sich einmischt - aber nun nicht "Müll, Ölplacken, Autowracks, Moscheen, verkohlte Felder, Vieh brüllend vor Durst auf deinen steinharten Weiden" als Afrika- oder Nigeria-Schreckensstimmungsbild ausmalt. Auch verkneift sich der offenbar weitgereiste Dichter die Attitüde "Ich war da! Ich weiß Bescheid!". Vielmehr kommen die Gesänge einer wahrhaft höllischen Komödie, die ein richtiges Paradies nicht mehr kennt, auf das "Ich sah" als Pointe. Und schon auch mal auf ein "Ich fraß" - nämlich "den Staub deiner Städte und Dörfer, flirrend im Mittag, Hundefleisch ledern".
Buselmeier klagt nicht an. Aber er macht ungeniert die Augen auf, die eine ganze Welt voller eurozentrischer Reste-Gucker peinlich provinziell geschlossen hält. Selbst "die Kinder am Ziehbrunnen, Blut hustend im Bus neben mir" werden ihm weder zu Vehikeln, denen man mal eben so ein paar lyrische Sonder-Sentiment-Spenden auflädt, noch zum ganz und gar Fremden, Unbegreiflichen. Im Gegenteil. Dass sie so begreiflich, so nah sind (nur ein paar Flugstunden entfernt), macht aus dem nüchternen Sichwundern des Weltläufers und Weltaufnehmers Buselmeier/Dante ein Wunder an lyrischer Ausnahme-Präzision. Betrachtet man die Kladden aktueller weltabgewandter lyrischer Produktion, die aus den Schubladen komparatistisch geschulter, ewig lang schon kurz vor der nie fertig werdenden Lebenspromotion stehender Selbstreferenzlinge zu quellen scheint, wirken Buselmeiers Gedichte wie ein Erfrischungsbad. An Wahrnehmung und Weltöffnung.
Gerade weil ihm das ganze Abend- und auch Morgenland, neben Dante noch die Bibel, die katholische Liturgie (Fronleichnam, Osternacht), Schuberts Impromptus, Heines Ironie, Rilkes Topographie, Benns Leichenschauhäuser und die Schreckensstürme des Expressionismus, ebenso leicht und virtuos in Kopf und Hirn und Herz sitzen und dort Assoziationen stiften, wie ihm Reim, Rhythmus und musikalische Kontrapunktik, kunstvoll harte Fügung und bildphantastisches Aquarellieren zu Gebote stehen, entsteht ein herrlicher, in allen Sprachdüsterfarben funkelnder Weltbogen. Und der ehemalige Dramaturg Buselmeier sieht den "Faust" als "Reptil mit Kahlkopf / das alle Rollen spielt". Hier dichtet einer mit der violetten Tinte eines realistischen Surrealisten.
Aber das Abgründige, das sich in den sprechenden Bildern und den wie herausgemeißelten Wörtern auftut, ist nur Knall oder Effekt. Gerade dort, wo Buselmeier im Kleinen, Nebensächlichen das Große, Wahnwitzige entdeckt, wenn er in eine Albtraumnacht seiner Kindheit zurücksinkt oder den Abriss des Theaters seiner Stadt in einem schmerzentzündeten Lamento aufflackern lässt ("Engelsbrot. Eine Klage"), wird die sorgsam bedachte und herausmusizierte Überraschung zur Eintrittskarte in die phantastische Kehrseite der bewohnten Welt. Damit lässt sich gut reisen. Man muss nur auch was aushalten können. Nicht nur in Afrika. Heidelberg reicht schon.
Michael Buselmeier: "Dante deutsch". Gedichte.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2012. 98 S., geb., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wohin Gedichte gelangen können, wenn sie sich den richtigen Begleiter suchen: Michael Buselmeiers gewaltiger Geselle "Dante deutsch".
Von Gerhard Stadelmaier
Plötzlich wieder ein - wie lange? seit Ewigkeiten! - vermisster Ton, zupfgeschmettert auf einer Harfe, die mit Saiten aus Menschenhaut bespannt scheint: "Laß uns wieder von der Folter Gebrauch machen, / Bischof - Schandrad und glühende Stiefel!", bis die Dichter, zu Scharen getrieben, "zu Schiff!, ruft Charon, ruft Orpheus", sich zur Rückseite der Erde bewegen, "über die Säulen des Herkules hinaus, / ihr Spitzel in Eis oder Feuer gebannt, in die / Wüsten der Meere, vom Hungertuch überspannt, / Brandgänse, Geier, wo Ugolino aufs Neue / das elende Fleisch seiner Söhne verschlingt / und sich den Mund mit den Locken auswischt".
So gebildet beginnt "Die Hölle (I)", der erste - wie soll man das anders und schöner nennen? - Gesang, den der vierundsiebzigjährige Wahl-Heidelberger und gebürtige Berliner Dichter Michael Buselmeier - wie soll man das anders und schöner nennen - anhebt? Die Geschichte des Grafen Ugolino della Gherardesca, den sein Gegenspieler, der Erzbischof Ruggiero Ubaldini, in einen Turm hat sperren lassen, wo er zusammen mit seinen Söhnen über der Giftleiche seiner Frau an den Delirien des Hungers und des Wahnsinns zugrunde geht (inklusive Kannibalismus), steht im 32. beziehungsweise 33. Gesang des "Inferno" der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri.
Wer einen Gedichtband so beginnen lässt und sich Dante, den uralten Wanderer durch Hölle, Fegefeuer und Himmel, zum Weggenossen wählt, mit ihm als "Dante deutsch" auch im Titel prunkt und ihm, vom "Inferno" übers "Purgatorio" bis hin zum "Paradiso", zwölf von insgesamt dreiundsechzig Gedichten des Buches widmet - wohin gelangt er? Ins gymnasialpoetisch verstreberte Karteikartenreich eines poeta schmocktus? Ins wonnige Land Vorgestrien, über dem das Zitat-Gebirg' seine schneebedeckten Gipfel erhebt?
Er gelangt unmittelbar ins geheimnis- und schreckenssatte Heute. Wenn seinem Dante "ein Faulfluß aufquellend / um geborstene Bäume / vollgesogen / mit Säure mit Salz" entgegendünstet. Wenn das "blutgetünchte Wolkentheater / sich nährend / aus der Kloake / Afrika" seine Schreckenskulissen entfaltet. Wenn in den "Baracken Workutas wo Raubmörder würfeln um Feuchtes", sie "alle versinken / Ein kreisendes Floß brandvoll mit schreienden / Leibern" und "mit zerfetzter Lunge schlafen wir nackt auf Beton". Wenn das Zeilen-Ende das Ende aller Zeiten vom Kriegsgefangenenlager des Zweiten Weltkriegs in einem Enjambement-Wirbel hinüberzieht in die Höllenwüsten Nigerias, wo der Wind Plastiktüten "vor uns her rollt über das rote / rauchende Land", in dem die Nächte widerklingen "von der Machete Klang an fremder Pforte" und "Kein Schlaf nachts Schüsse / vorm lichtlosen Haus / Wörter wie Wunden / blaue Fetzen aus Blei". So viel Gegenwart war lange nicht mehr in Gedichten.
Plötzlich wird eine Sprache, die nicht die Welt nur beschreibt, sondern durch sie hindurchschaut, wieder politisch. In dem Sinne, dass Lyrik sich einmischt - aber nun nicht "Müll, Ölplacken, Autowracks, Moscheen, verkohlte Felder, Vieh brüllend vor Durst auf deinen steinharten Weiden" als Afrika- oder Nigeria-Schreckensstimmungsbild ausmalt. Auch verkneift sich der offenbar weitgereiste Dichter die Attitüde "Ich war da! Ich weiß Bescheid!". Vielmehr kommen die Gesänge einer wahrhaft höllischen Komödie, die ein richtiges Paradies nicht mehr kennt, auf das "Ich sah" als Pointe. Und schon auch mal auf ein "Ich fraß" - nämlich "den Staub deiner Städte und Dörfer, flirrend im Mittag, Hundefleisch ledern".
Buselmeier klagt nicht an. Aber er macht ungeniert die Augen auf, die eine ganze Welt voller eurozentrischer Reste-Gucker peinlich provinziell geschlossen hält. Selbst "die Kinder am Ziehbrunnen, Blut hustend im Bus neben mir" werden ihm weder zu Vehikeln, denen man mal eben so ein paar lyrische Sonder-Sentiment-Spenden auflädt, noch zum ganz und gar Fremden, Unbegreiflichen. Im Gegenteil. Dass sie so begreiflich, so nah sind (nur ein paar Flugstunden entfernt), macht aus dem nüchternen Sichwundern des Weltläufers und Weltaufnehmers Buselmeier/Dante ein Wunder an lyrischer Ausnahme-Präzision. Betrachtet man die Kladden aktueller weltabgewandter lyrischer Produktion, die aus den Schubladen komparatistisch geschulter, ewig lang schon kurz vor der nie fertig werdenden Lebenspromotion stehender Selbstreferenzlinge zu quellen scheint, wirken Buselmeiers Gedichte wie ein Erfrischungsbad. An Wahrnehmung und Weltöffnung.
Gerade weil ihm das ganze Abend- und auch Morgenland, neben Dante noch die Bibel, die katholische Liturgie (Fronleichnam, Osternacht), Schuberts Impromptus, Heines Ironie, Rilkes Topographie, Benns Leichenschauhäuser und die Schreckensstürme des Expressionismus, ebenso leicht und virtuos in Kopf und Hirn und Herz sitzen und dort Assoziationen stiften, wie ihm Reim, Rhythmus und musikalische Kontrapunktik, kunstvoll harte Fügung und bildphantastisches Aquarellieren zu Gebote stehen, entsteht ein herrlicher, in allen Sprachdüsterfarben funkelnder Weltbogen. Und der ehemalige Dramaturg Buselmeier sieht den "Faust" als "Reptil mit Kahlkopf / das alle Rollen spielt". Hier dichtet einer mit der violetten Tinte eines realistischen Surrealisten.
Aber das Abgründige, das sich in den sprechenden Bildern und den wie herausgemeißelten Wörtern auftut, ist nur Knall oder Effekt. Gerade dort, wo Buselmeier im Kleinen, Nebensächlichen das Große, Wahnwitzige entdeckt, wenn er in eine Albtraumnacht seiner Kindheit zurücksinkt oder den Abriss des Theaters seiner Stadt in einem schmerzentzündeten Lamento aufflackern lässt ("Engelsbrot. Eine Klage"), wird die sorgsam bedachte und herausmusizierte Überraschung zur Eintrittskarte in die phantastische Kehrseite der bewohnten Welt. Damit lässt sich gut reisen. Man muss nur auch was aushalten können. Nicht nur in Afrika. Heidelberg reicht schon.
Michael Buselmeier: "Dante deutsch". Gedichte.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2012. 98 S., geb., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nach der Lektüre des neuen, unter dem Titel "Dante deutsch" erschienenen Gedichtbandes des vierundsiebzigjährigen Dichters Michael Buselmeier findet Rezensent Gerhard Stadelmaier kaum genug Worte, um seine Bewunderung auszudrücken. Wie Gesänge erscheinen ihm diese lyrischen Glanzstücke, die seiner Ansicht nach den offensiven Bezug zu Dante nicht zu scheuen brauchen. Darüber hinaus entdeckt der Kritiker in diesem ebenso gelehrten wie "funkelnden Weltbogen" mit meisterhafter Leichthändigkeit gesetzte Verweise auf Schuberts Impromptus, Heines Ironie, Rilkes Topografie oder die "Schreckensstürme" des Expressionismus. Zugleich gelinge es Buselmeier, den der Rezensent als "Weltaufnehmer und Wunder an lyrischer Ausnahme-Präzision" lobt, stets den Bezug zur "schreckenssatten" Gegenwart herzustellen: So macht er etwa auf die politischen Probleme in Afrika aufmerksam, jedoch nicht anklagend, sondern in der ihm eigenen musikalischen Sprache, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Dass sie so begreiflich, so nah sind (...), macht aus dem nüchternen Sichwundern des Weltläufers und Weltaufnehmers Buselmeier/Dante ein Wunder an lyrischer Ausnahme-Präzision. (...) entsteht ein herrlicher, in allen Sprachdüsterfarben funkelnder Weltbogen.« Gerhard Stadelmaier, FAZ »Buselmeiers »Dante deutsch« beschreibt und profiliert das verunsichernde Ausgesetztsein zwischen diesen beiden Polen als Modus unserer Existenz und gehört zwingend in die Hausbücherei der Gegenwart.« Helmuth Kiesel, FAZ »Buselmeiers »Dante deutsch« beschreibt und profiliert das verunsichernde Ausgesetztsein zwischen diesen beiden Polen als Modus unserer Existenz und gehört zwingend in die Hausbücherei der Gegenwart.« Helmuth Kiesel, FAZ