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Der Schriftsteller Labud Ivanovic verbringt die letzten Jahre seines Lebens in der Emigration, wo er auch stirbt. Der Bibliothekar Damjan Savic lebt in Belgrad, arbeitet im Magazin der Bibliothek, bis er die Aufgabe erhält, den Nachlaß des verstorbenen Ivanovic zu ordnen und zur Veröffentlichung vorzubereiten. Der Literaturhistoriker aus Übersee, Adam Rosenberg, dessen Vorfahren aus Europa emigrierten, plant einen Roman, dessen Protagonist die Vita dreier Autorenbiographien (eine davon die Ivanovics), die sich auf ungewöhnliche Weise berühren, in sich vereinigt. Velikic erzählt parallele…mehr

Produktbeschreibung
Der Schriftsteller Labud Ivanovic verbringt die letzten Jahre seines Lebens in der Emigration, wo er auch stirbt. Der Bibliothekar Damjan Savic lebt in Belgrad, arbeitet im Magazin der Bibliothek, bis er die Aufgabe erhält, den Nachlaß des verstorbenen Ivanovic zu ordnen und zur Veröffentlichung vorzubereiten. Der Literaturhistoriker aus Übersee, Adam Rosenberg, dessen Vorfahren aus Europa emigrierten, plant einen Roman, dessen Protagonist die Vita dreier Autorenbiographien (eine davon die Ivanovics), die sich auf ungewöhnliche Weise berühren, in sich vereinigt.
Velikic erzählt parallele Geschichten, zeitlich gebrochen, fragmentiert, mit Rückblicken auf die Herkunftsgeneration der Handlungsträger, die sich annähern und auseinanderentwickeln vor dem Hintergrund des Zerfalls Jugoslawiens, der Rahmen für einige der gezeichneten Lebenswege.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Etwas Besseres als den Tod findest Du überall
Die Reise des Schaffners an das Ende der Welt: Der serbische Romancier Dragan Velikic verlängert das Streckennetz der balkanischen Eisenbahnen / Von Lothar Müller

Niemand, der die Geschichte vom Stationschef Adam Fallmerayer kennt, wird sie je vergessen können. Nicht die unbedeutende Station an der Südbahn, durch die täglich die Expresszüge nach Meran oder Triest rasen. Nicht den Regen, der auf den gläsernen Vorsprung des Perrondaches trommelt, kurz bevor in jener Nacht im März 1914 den Schnellzug nach Meran die Katastrophe ereilt. Und schon gar nicht den Duft nach Juchten und einem namenlosen Parfüm, der nach der Abreise der geretteten Gräfin auf ihr Gut in der Ukraine im Haus des Stationsvorstehers verbleibt. Denn dieser Duft leitet ihn durch den Krieg, der hier wie in Robert Musils großem Roman dem Unfall folgt. Er zieht ihn hinein in sein "merkwürdiges Schicksal", fort vom Telegraphenapparat und der Pensionsberechtigung, auf einen Süden zu, der das höchste Glück verspricht und am Ende, in den Turbulenzen von Nachkriegszeit und russischer Revolution, das größte Unglück bereithält. Joseph Roth hat seine Erzählung "Stationschef Fallmerayer" aus dem Jahr 1933 mit einem Satz abgeschlossen, der dem Helden sein Nachleben in der Einbildungskraft der Leser sichert: "Hierauf reiste Fallmerayer ab; man hat nie mehr etwas von ihm gehört."

Der Roman "Dante-Platz" des serbischen Schriftstellers Dragan Velikic ist im Jahre 1997 im Original und nun auf Deutsch erschienen. Es ist ein Buch über tote Schriftsteller aus Budapest, Belgrad oder Triest, über Nachlässe und Fotografien aus den letzten Jahrzehnten, über Tagträume, die aus dem Staub aufsteigen, und über die verlässliche Aufbewahrung der Geschichte in den Dingen. Und es ist ein Buch über Schienenstränge. In Belgrad, im zerfallenen Jugoslawien der jüngsten Vergangenheit, erinnert sich der Kontrolleur Milan Savic am Abend des Tages, an dem er seine Frau zu Grabe getragen hat, an seine Dienstzeit in den sechziger Jahren. Für die Reichweite seiner Erinnerungen ist von Belang, dass er damals bereits vom Kondukteur zum Kontrolleur aufgestiegen war. "Die Bestimmungsorte der Kondukteure lagen an den inneren Grenzen des ehemaligen Landes, um derentwillen in den Neunzigern der Krieg entbrennen würde. Für die Kondukteure endete die Reise aus Nis in Vinkovci, wo sie nach ein paar Stunden in den Zug aus Ljubljana oder Maribor zusteigen und in Richtung Belgrad zurückfahren würden. Nur die Kontrolleure und das Schlafwagenpersonal erreichten die Bestimmungsorte, die Endpunkte des Netzes der Jugoslawischen Eisenbahnen."

Nis liegt südöstlich von Belgrad, nahe der serbisch-bulgarischen Grenze, Vinkovci nordwestlich, unweit von Vukovar, kurz hinter der serbisch-kroatischen Grenze. Der Kontrolleur Savic bewegt sich im gesamten Streckennetz. Es eröffnet ihm den Raum, in den hinein die Episoden seines Lebens sich entfalten. Dieser Raum reicht bis zum Meer, hinunter bis nach Ploce südlich von Mostar, von wo die Überfahrt auf die dalmatinischen Inseln erfolgt. Der Fahrplan regiert die kleinen Abenteuer auch dort, wo sie imaginär bleiben wie bei der Begegnung mit der Reisenden im Wagen erster Klasse, die kurz nach Zagreb geweckt werden will, um die Ankunft in Karlovac nicht zu verpassen. Der Kontrolleur wird dem nachkommen, die beiden Koffer der Dame zur Wagentür schleppen, auf den Bahnsteig springen und dort für einen Moment ihre Hand halten: "Er wird sie mit seinem Blick begleiten, solange sie neben dem Kofferträger über den Bahnsteig geht. Hingerissen reist er im Koffer mit, berührt mit den Lippen die Seidenwäsche, ein Ärmel schlingt sich ihm um den Hals. Später, im Schrank, wird er zwischen Kleidern und Kostümen stehen und Lavendelduft einatmen."

Adam Fallmerayer, den es von seiner Station an der Südbahn ins Irgendwo verschlug, hat den Zerfall Österreich-Ungarns überlebt, in den hinein Joseph Roth ihn verschwinden ließ. Der Kontrolleur Milan Savic ist einer seiner Nachkommen. Figuren wie dieser Kenner des gesamten, ungeteilten Streckennetzes, Spezialisten für Nebenstrecken und unterbrochene Verbindungen sind unabkömmlich für das Erzählen vom östlichen und südöstlichen Europa. Denn eine der Hauptaufgaben der Literatur ist hier die Aufrechterhaltung des Verkehrs zwischen den Städten und Regionen, die innere Geschichtsschreibung kultureller Räume, die zu Fragmenten und Parzellen ihrer selbst zu schrumpfen drohen. Der aus Schweden stammende Schriftsteller Richard Swartz hat vor einigen Jahren über seine literarischen Reportagen "aus Europas Nahem Osten" den Titel "Room Service" (1996) gesetzt. Auf den ersten Blick ist das die Erinnerung eines Reisenden an seine Hotelaufenthalte. Auf den zweiten ein literarisches Programm: Dienst am Raum.

Dragan Velikic, der im Jahre 1953 in Belgrad geboren wurde und auf der istrischen Halbinsel in Kroatien aufwuchs, lebt inzwischen in Budapest. Er ist Mitglied der "Gruppe 99", die während der diesjährigen Frankfurter Buchmesse bei einem Schriftstellertreffen in Kranichstein gegründet wurde. Der Verleger Nenad Popovic hat sie initiiert. Serbische, kroatische, bosnische, slowenische Autoren gehören ihr an. Die Anspielung auf die deutsche "Gruppe 47" parallelisiert zwei Nachkriegskonstellationen. In einer knappen Erklärung wurde der kulturelle und politische Chauvinismus im ehemaligen Jugoslawien angeprangert. Ziel der Gruppe ist die Vernetzung der Literaturen und Autoren, sei es in einer künftigen Zeitschrift oder im Internet, der Wiederaufbau eines gemeinsamen Marktes. Sie will "einen lebendigen und freien Kulturraum" schaffen. Ein richtiges Manifest hat sie nicht. Aber Bücher, die diesen Raum vergegenwärtigen.

Dragan Velikic hat im Jahre 1992, nach der Eskalation des Krieges in Jugoslawien, während der Zerstörung kroatischer Dörfer und Städte, den Essay "Stimme aus der Erdspalte" geschrieben. In diesem Plädoyer gegen die "Wiederkehr des Primitivismus" und die Verklärung des serbischen Bodens, in dieser Beschwörung des kosmopolitischen Belgrad gibt es einen autobiographischen Fixpunkt: die Eisenbahnfahrt des Fünfjährigen von Belgrad nach Istrien an einem sonnigen, klaren Novembermorgen, die Ankunft in Pula, "dem äußersten Punkt auf der Landkarte Jugoslawiens, in der uralten Stadt voller römischer Denkmäler".

Aus dieser Ursituation geht die Allgegenwart des Italienischen in den Büchern von Velikic hervor, die unablässige Nachzeichnung der Ellipse mit den Brennpunkten Belgrad und Pula, die obsessive Verklammerung des östlich-balkanischen und des westlichen Europa. Nachdrücklich, aber vergeblich warnte die Stimme aus der Erdspalte vor der Loslösung des jugoslawischen Nordwestens, der sich an Triest anlehnt, vom vorgeblich "barbarischen" und "byzantinischen" Osten und Südosten Serbiens. Schon in seinem Erstling "Via Pula" (1988) ist die innerjugoslawische Spannung zwischen Nordwesten und Südosten auf den gesamteuropäischen Raum von Dublin bis zum Schwarzen Meer bezogen. James Joyce, der einige Zeit in Pula wohnte, ist dabei der Schutzpatron. Der junge Giacomo Casanova, der auf der Fahrt nach Korfu kurz in Osara, dem heutigen Vsar, Station machte, wird herbeizitiert. Nie hat sich Velikic eine Anspielung entgehen lassen, die den Westen im Osten und den Osten im Westen zu Gast sein oder Wurzeln schlagen lässt. Nie eine Handlung erfunden oder einen Schauplatz gewählt, ohne darüber das Netz der westöstlichen Verbindungslinien zu werfen.

Velikic ist ein Autor, der seine Figuren vor allem braucht, um die Orte zur Darstellung zu bringen, an denen sie lieben, leiden oder sterben. Das ist an den Romanen "Das Astragan-Fell" (1990) und "Der Zeichner des Meridian" (1994) leicht ablesbar. Im "Dante-Platz" hat diese topographische Orientierung den Titel erobert. Sie behandelt die Orte wie Palimpseste, deren geheime Botschaft es in immer neuer Lektüre der übereinanderliegenden Zeitschichten zu entziffern gilt. So wie die "Lenjinova" einst die "Via Campo Marcio" war, trug der "Platz der Revolution" in Pula während der italienischen Zeit Istriens den Namen Dantes. In den Ortsnamen stecken die Geschichten. Das Abheben ihrer Schichten holt den Raum zwischen Venedig und Odessa in sie hinein, so wie die Schienen in die Welt hinausführen: "In Gedanken verlängerte er die Arterien der Jugoslawischen Eisenbahnen bis Triest, Klagenfurt und Saloniki." Die Bewegung, an der Dragan Velikic teilhat, lässt sich als Wiederkehr des osteuropäischen Raumes aus der monochromen Flachheit der politischen Landkarten beschreiben. Die mitteleuropäische Literatur war von jeher eine Anwältin des Reliefs gegen die Monochromie. Nun ist sie dabei, das jeweilige Sonderklima der Landschaften und ihre physische Oberfläche aus den übersichtlichen Darstellungen der bipolaren Welt wieder hervortreten zu lassen. Sie kann sich dabei an großen Vorbildern orientieren, etwa an jener wunderlichen Figur aus einer Erzählung von Bruno Schulz, deren "Studien über vergleichende Meteorologie und insbesondere über das spezifische Klima unserer einzigartigen besonderen Provinz" in den "Abriss einer allgemeinen Systematik des Herbstes" münden.

Im Roman von Dragan Velikic taucht schon nach wenigen Seiten die physische Landkarte aus einer Kindheitserinnerung auf: "Kinderhände gleiten über das Relief einer plastifizierten Landkarte. Mit der Höhe der Relieffalten ändert sich ihre Farbe, der Junge berührt neugierig das Weiß der Alpen und fährt dann mit seinem Finger über das angenehme Grün der ungarischen Tiefebene." Aus dem Jungen, der den Falten der Ebenen nachspürt, ist ein Schriftsteller geworden. Er heißt Labud Ivanovic, ist Serbe im Exil, stirbt schon nach wenigen Seiten und ist doch die Hauptfigur des Triptychons, in das Velikic die Umrisse der Figur des mitteleuropäischen Schriftstellers einzeichnet. An der einen Seite steht der Ungar Ottó Korányi, gebürtig aus Budapest und gestorben in der "kleinen Stadt", deren Herbst er im Roman ein Denkmal setzte. Auf der anderen der rumänische Dichter Cornel Buzea, der in Triest lebte. Allen dreien spürt der amerikanische Literaturhistoriker Adam Rosenberg nach, um sie zu einer imaginären Kollektivbiographie zu verschmelzen. Aber diese schüttere Konstruktion ist nur zum Schein das Gerüst des Romans. In Wahrheit hält ihn nicht eine Handlung zusammen, sondern das feste Band, das er um seine vier Hauptmotive legt: das Streckennetz, den Baedeker, die Bibliothek und das Antiquitätengeschäft. Sie geben den Orten ihre Physiognomie und den Zeitschichten ihr Relief.

Der Belgrader Bibliothekar Damjan Savic, geboren im Jahre 1961, Sohn des Eisenbahners Milan Davic, ordnet den Nachlass von Labud Ivanovic. Dieser gehört nicht nur demselben Jahrgang an wie Dragan Velikic, er ist zudem wie dieser als Sohn eines Marineoffiziers in Pula aufgewachsen. "Alles hatte mit den Zügen begonnen. Labud glaubte, die Welt werde als ein Raum zusammengehalten, weil sie durch Geleise und Schienen verbunden sei, und ein möglicher Weltuntergang könne sich nur in Gestalt eines Verschwindens der Schienen ereignen." Aber nicht die autobiographische Grundierung gibt diesem Roman seinen persönlichen Charakter, sondern die Emphase, mit der er einem großen Vorbild huldigt.

Er ist ein Grabmal nicht für den imaginären serbischen Exilschriftsteller Labud Ivanovic, sondern für den leibhaftigen serbischen Exilschriftsteller Danilo Kis, der kurz vor dem Fall der Berliner Mauer im Oktober 1989 in Paris gestorben ist. Das Grabmal ist aus Zitaten und Anspielungen aufgeschichtet. Der amerikanische Literaturhistoriker mit osteuropäischen Vorfahren findet seinen genealogischen Ursprung in jener Familie Rosenberg aus der Nähe von Novi Sad, die bei Kis im Roman "Sanduhr" (1972) zu Beginn der vierziger Jahre nicht ganz saubere Geschäfte mit dem ehemaligen Eisenbahninspektor Eduard Sam macht. Dieser Eduard Sam ist einer der großen delirierenden Phantasten im europäischen Roman dieses Jahrhunderts. Er ist ein Überlebender des von ungarischen Faschisten verübten Massakers, dem im Januar 1942 in Novi Sad Tausende von Juden und Serben zum Opfer fielen. Und er ist, "von Länder- und Städtenamen ganz allmählich intoxiert", der unermüdliche Autor eines "Fahrplans des Autobus-, Schiffs-, Eisenbahn- und Flugzeugverkehrs", dessen erste Fassung sich zur dritten, bearbeiteten und erweiterten Ausgabe verhält wie der "Urfaust" zum "Faust II". Er wächst sich zu einem ungeheuren Bauwerk von über achthundert Seiten aus, in dem eine Fülle von Texten zwischen den Zeilen, Randbemerkungen und Fußnoten die dünnen Linien des eigentlichen Fahrplans bis zur Unkenntlichkeit überwuchert. Im Roman "Garten, Asche" (1964) beschreibt Kis dieses Werk als eine apokryphe Bibel, in der sich das Wunder der Weltwerdung wiederholt, alle Ungerechtigkeiten Gottes und die Ohnmacht der Menschen aber aufgehoben sind. Dieses anarchistische, esoterische Neue Testament steht im Hintergrund des Nekrologs, den Eduard Sam in der "Sanduhr" im Dezember 1941 auf den Eisenbahninspektor Béla Sternberg hält, der sich unter die Räder eines Güterzuges geworfen hat. Diese Rede parodiert das Fortschrittspathos bei

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der Eröffnung einer neuen Strecke, aber die messianische Utopie der Eisenbahn als "einer internationalen Organisation für die Verbindung aller Menschen guten Willens" und der Protest gegen ihre Pervertierung zum Instrument der "internationalen Schlächterei" sind ernst gemeint. Der Kontrolleur Milan Savic in Velikics Roman bezieht sein Berufsethos im Jugoslawien der sechziger Jahre aus diesem Nekrolog des Eduard Sam am Grabe eines Kollegen.

Im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts wurden die Eisenbahnen in einen weitgehend leeren Raum hineingebaut, der durch sie überhaupt erst als Verkehrsraum erschlossen wurde. Sie sind daher mit dem Bild des geraden, auf den Horizont zuführenden Schienenstrangs verknüpft. In zentralistischen Staaten wie Frankreich erscheint die Metropole als Spinne im Netz der auf sie zulaufenden Eisenbahnlinien. Der Blick auf eine beliebige Übersichtskarte der österreichisch-ungarischen Eisenbahnen zeigt demgegenüber die polyzentrische Struktur dieses weit verzweigten, aus einer Fülle von Lokalbahnen zusammengesetzten Netzes. Hier war die Eisenbahn Fortschrittssymbol und Vorposten der fernen Obrigkeit. So schildert Ivo Andric in dem Roman "Die Brücke über die Drina" (1945) den Bau der Ostbahn in Visegrad, durch den die Brücke ins Abseits gerät, als einen Akt sehr zweischneidiger Modernisierung. Aber das Gradlinige, der Zubringerdienst zum Zentrum wurde durch die Energien der Peripherie abgelenkt, überwuchert und auf Umwege verwiesen. In der Literatur ist die Welt der österreichisch-ungarischen Eisenbahnen von den Nebenstrecken und Provinzbahnhöfen, dem Warten auf Anschlusszüge und den Fahrten von irgendwo nach nirgendwo bestimmt.

Diese Hintergrundvoraussetzung kam der Spiegelung des Romans im imaginären, anarchisch-messianischen Fahrplan des Eduard Sam entgegen. Sie erlaubte es Danilo Kis, das Eisenbahnnetz als Modell nicht-linearen, labyrinthischen Erzählens an die Seite der Großstadt zu stellen, auf die bei James Joyce und Robert Musil die moderne Form des Romans bezogen war. Man muss nur nachlesen, wie Eduard Sams Wertschätzung des talmudischen Dankgebetes für die Wohlgerüche mit seiner Erinnerung "an den schweren Parfümduft einer koketten Dame" zusammenhängt, die er auf der Rückfahrt von Novi Sad im Gang vor dem Erste-Klasse-Abteil streifte, um zu erkennen, dass der schlichte Stationschef Fallmerayer auch in der avancierten Form des modernen Romans überlebte. Aber er ist, seit Danilo Kis, durch sie verwandelt worden. Ihm ist das noch in der Verwirrung einfache Schicksal abhanden gekommen.

Im Roman von Dragan Velikic beruft sich der Kontrolleur Milan Savic auf Eduard Sams Pathos der Vernetzung und der Autor auf die Kreuzung von Baedeker und Fahrplan in seinem welterlösenden literarischen Dienst am Raum. Seine Gestalt verdankt der "Dante-Platz" der hartnäckigen Treue zum labyrinthischen Erzählen. Diese Treue hat zwei Grundsätze. Der erste verlangt, dass das Raunen und Murmeln des Chores der unerzählten Geschichten in den erzählten ständig hörbar bleibt.

Der zweite Grundsatz verlangt vom Autor, dass er seine Figuren nicht einengt, dass er ihnen Abschweifungen, plötzliches Verschwinden und das kurz entschlossene Umsteigen in den Nachbarzug erlaubt. "Ich verachte die Geschichte, die mich ins Geschirr spannt wie einen Gaul." So enthüllt sich dem strapazierten, bisweilen erschöpften, dann wieder hellwachen Leser erst allmählich eine Dreiecksgeschichte, die im Ferien-Jugoslawien um 1970 beginnt und in den neunziger Jahren ein spätes Opfer fordert. Die Orte des Exils, bei München oder in Amsterdam, sind von den Erinnerungen an Belgrad oder Pula überdeckt. En passant werden Paare wie Waggons zusammengestellt und entkoppelt. Nur langsam rückt auf dem Nebengleis die Geschichte des Briefträgers Petar Furcic voran, in dem die Hoffnungen der sechziger Jahre implodiert sind. Die Peripherie verhindert, dass es im Roman ein Zentrum gibt, in dem "das einmalige Gefüge einer romantischen Geschichte" stehen könnte.

Das umwegige, zersplitterte Erzählen entspringt hier nicht einer halsstarrig-demütigen Anklammerung an die Hohlformen der Avantgarde. Es entspringt dem tiefen Misstrauen gegen jede Auslieferung der Literatur an das "Genre", dem Misstrauen gegen die ursprungsseligen Geschichten der "nervösen Berglandbewohner" in Serbien und anderswo, von denen im Essay "Stimme aus der Erdspalte" die Rede war. Es entspringt der Attacke auf die antiurbanen serbischen "Seher-Dichter", die "im Tragen von Fellen und im Ziehen von Drähten die Urkraft der Dichtung sehen". Es entspringt der Hoffnung, "dass Europa nicht den verschiedenen Genre-Geschichten aufsitzt": den einfachen Erzählungen vom Balkan.

Wie an einem Amulett, einem Schutzschild des Kosmopolitismus gegen das Stammesdenken hält Dragan Velikic am Erbe von Musil, Joyce und Danilo Kis fest. Er nimmt zur stummen Welt der Dinge seine Zuflucht, zum Sammelsurium und zum Trödel, um "die Geschichte mit dem großen Anfangsbuchstaben" zu unterlaufen. Er fertigt enzyklopädische Auflistungen an, Verzeichnisse von Menschen und Dingen, die es nicht mehr gibt. Er schreibt die Geschichte mit dem kleinen Anfangsbuchstaben: "An diesem Junitag in Fiume vor dem Schaufenster des Geschäfts, in dem man Lampen verkaufte, zeichnete Atilje Doric für einen Augenblick die Koordinaten eines möglichen Lebens, indem er in den Eisenwellen der Lampe all jene Schiffsreisen begrub, auf die er sich nie begeben sollte."

Mit einem erzählerischen Crescendo aus der Welt der Dinge, einem Kommentar zu neun Verkaufsgegenständen aus dem Antiquitätengeschäft am Dante-Platz endet der Roman. Beiläufig werden im Blick auf eine Schwarzweißfotografie, eine Taschenuhr, eine Waage, einen gläsernen Tischschmuck, einen Zeitungshalter, einen Reisekoffer, eine Lampe, einen Kontrolleursstempel der "Jugoslawischen Eisenbahnen" und einen silbernen Herrenring die Namen, Schauplätze und Episoden zusammengezogen und verknotet.

Das sieht aus wie mit leichter Hand gemacht. Aber in diesem Buch rumort eine untergründige Panik. Sie ist an der Anstrengung abzulesen, mit der sich dieser im Jahr 1997 fertig gestellte Roman die Zeit vom Leibe hält, in der er entstanden und angesiedelt ist. So reich sich seine retrospektive Phantasie entfaltet, so spröde verhält er sich zu den neunziger Jahren, den Jahren des Zerfalls und des Krieges. Er gönnt ihnen nur eine vage, unklare Chronologie und enthält ihnen eine scharf konturierte Physiognomie vor. Ihre Schrecken nimmt er nur als Einsprengsel in sich auf, meist indirekt. So in einer Notiz aus dem Londoner "Observer" von 1822, die von der Überführung der Knochen aus den Schlachtfeldern der Napoleonischen Kriege in die dampfbetriebenen Knochenmühlen von Yorkshire berichtet. Oder in der Überblendung eines alten Baedeker-Textes über die Folterkammer in einem mittelalterlichen Schloss der Schweiz mit einer Tagebucheintragung aus dem Nachlass des Schriftstellers Ivanovic vom September 1993: "Jetzt, da ich am Wahnsinn des Krieges teilhabe, wünsche ich, der Autor jenes Baedeker von Murray über die Schweiz zu sein, der glaubte, dass die Kultur des Verbrechens ihren Höhepunkt in der krankhaften Invention eines alpenländischen Drakula hatte."

Über die Weigerung, am Genre der Reportage und an der Fiktion des Dabeigewesenseins teilzuhaben, geht die Sprödigkeit hinaus, mit der sich dieser Roman die neunziger Jahre auf Distanz hält. Sie wandert in das Innere des Buches ein und gefährdet die Balance zwischen Welterschließung und Rückzug der Literatur auf sich selbst. Für das Erste stehen die Obsession für das Streckennetz und die Mimikry mit dem Baedeker, für das Zweite steht die Apotheose der Bibliothek. Damjan Savic schreibt im Magazin der Belgrader Bibliothek auf die Margina entliehener Bücher Buchstaben, Worte und Sätze, die sich zu einem virtuellen Buch ohne Titel und Existenz zusammenschließen. Für dieses Buch, das aus der Bibliothek hervorgegangen ist und sie nie verlassen wird, gilt der Schlusssatz in Velikics Roman "Der Zeichner des Meridian": "Es existiert nichts als die Wirklichkeit des Buches." Das ist ein geläufiger Satz in der modernen Literatur. Er klingt lakonisch. Aber er ist eine Schutzbehauptung gegen die Zumutungen der neunziger Jahre. In ihm verbirgt sich die Panik, die im "Dante-Platz" untergründig herrscht. Es ist die Panik einer Nachkriegszeit, die ahnt, dass sie zugleich Vorkriegszeit ist.

Dragan Velikic hat sich in diesem Roman das Erbe des Fahrplan-Phantasten Eduard Sam erschlossen. Einen Satz aus dem Roman "Garten, Asche" von Danilo Kis hat er als Motto über seinen Abschnitt "Emigration" gesetzt. Aber er hat diesen Satz noch nicht auf die Gegenwart hin ausgelotet, hat die Katastrophen der Jetztzeit noch nicht in sein Streckennetz eingezeichnet. Sie sind nur als Panik zu spüren, die den Roman in sich selbst und den Autor ins Asyl der Bibliothek einzuschließen droht. Der Satz von Danilo Kis lautet: "Der Gedanke an die Flucht machte uns noch schwindliger: wir begannen in unserem Zimmer wie in einem Zugabteil zu leben."

Dragan Velikic: "Dante-Platz". Roman. Aus dem Serbischen übersetzt von Bärbel Schulte. Wieser Verlag, Klagenfurt 1999. 385 S., geb., 44,90 DM.

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