Produktdetails
  • Verlag: WL 1998
  • ISBN-13: 9788308027578
  • Artikelnr.: 26402154
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.12.2013

Das Ich im Herzschlag spüren
Adam Zagajewski hat einen schönen Auswahlband mit Gedichten
seines Landsmannes, des polnischen Nobelpreisträgers Czesław Miłosz, zusammengestellt
VON NICO BLEUTGE
Wenn es nach Czesław Miłosz geht, gleicht der Dichter einem fliegenden Wesen. Und das Wort, das er sucht, ist eine Birne. Der Dichter umkreist sie, hüpft oder berührt sie mit dem Flügel. Aber egal, ob es sich um die Zuckerbirne, die Teigbirne oder die Butterbirne handelt, das Wort entfernt sich von ihm. „Umsonst“, so Miłosz, sind alle seine Bemühungen. Doch er verharrt nicht in Resignation. Mit der ihm eigenen Phantasie kehrt er die Bewegung einfach um: „Zwischen mir und der Birne waren Equipagen, Länder. / Und so werde ich eben leben, verzaubert.“
  Die Welt und die Sprache unter den Vorzeichen eines Zaubers zu sehen, allen historischen Brüchen zum Trotz immer wieder von der „unfassbaren Vielfalt der wahrnehmbaren Dinge“ zu träumen – für Czesław Miłosz war es der Glutkern seines Schreibens. Ein Luftstrom, ein Holzkarren auf der Straße oder nur ein paar Hügel mit etwas Gras: Die Einzelheiten und das Besondere der Welt beschwört er mit seiner Sprache ein ums andere Mal.
  Doch zugleich ist eine große Skepsis im Ton der Gedichte spürbar: „Was tun wir mit der Wirklichkeit? Wo ist sie in den Worten? / Kaum blitzt sie auf, ist sie weg“. Die Sprache mit ihrem Hang zur Abstraktion löscht den Augenblick immer schon aus. Das einst Individuelle wird zur Spielart eines allgemeinen Musters oder einer „grammatikalischen Form“.
  Und mehr noch, Miłosz versucht auch immer wieder, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen, wenn es droht, in Stillstand oder gar in der Idylle zu enden. Das Gedächtnis, Gedanken an die Zukunft oder die Kraft der Phantasie treiben die Wahrnehmung über den jeweiligen Moment hinaus. Am Horizont vieler Verse schimmert die Idee, nicht aus Ruhe und Ordnung, sondern „aus der Bewegung den ewigen / Augenblick zu heben. So wie den Glanz / Auf dem Wasser des schwarzen Flusses“.
  Es sind solche Pendelbewegungen, die Miłosz’ Schreiben von Beginn an bestimmten. Diese Wechsel zwischen gegensätzlichen Sphären erlaubten es ihm, die Gedichte beweglich zu halten. Und sie hielten ihn in Verbindung mit den Ereignissen seiner Zeit. Schon in seinen ersten Bänden, die in den frühen 30er Jahren erschienen – Miłosz war gerade Anfang 20 –, besang er die „riesige, pulsierende Welt“. Als er 2004 in Krakau starb, hatte er mehr als 20 Gedichtbände veröffentlicht, dazu viele Bücher mit Reden und Aufsätzen, in denen er sich mit den Ideologien der Moderne auseinandersetzte. Sein Glaube an die Wirkung der Dichter hielt sich dennoch in Grenzen: „In der planetarischen Mixtur der Bekenntnisse und Sprachen erinnert man sich an uns nicht mehr als an die Erfinder des Flaschenzugs oder des Transistorradios.“
  Was für ein Glück, dass Miłosz sich irren sollte. Auch wenn er lange Zeit glaubte, in seinem Heimatland Polen würde man ihn nicht lesen: Nachdem er 1980 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, wurde er zu einem der bekanntesten Autoren. Sein Dichterkollege Adam Zagajewski hat jetzt eine Auswahl aus Miłosz’ Gedichten zusammengestellt. Sie bietet nicht nur Lieblingsgedichte des Herausgebers, Zagajewski hat auch versucht, die Sammlung an Miłosz’ Leben entlang zu komponieren und die vielen Möglichkeiten seiner Poesie zu zeigen. So kann man beim Lesen erfahren, wie Miłosz sich mit den historischen und politischen Ideen seiner Zeit beschäftigt und wie er die Verse anreichert mit den Atmosphären der Weltgegenden, in denen er sich gerade befindet.
  Wer die Gedichte durchquert, sieht die „Lichtflecken“ der Transzendenz in einem auf das Hier und Jetzt ausgerichteten Schreiben. Allen Reflexionen über die Zeichenhaftigkeit der Sprache zum Trotz lässt sich Miłosz immer wieder auf Spuren der Geschichte ein. In seinen frühen Gedichten sind es die Verwerfungen des Krieges, nationalistischer „Götzenkult“ oder das Warschauer Ghetto. Miłosz vermeidet es, sich in direkter Kritik zu verlieren, er baut brüchige Arrangements und schreibt seinen Gedichten die Bewegung des Schwankens ein: „Erste Bewegung ist Singen, / Erste Bewegung ist Lust, / Aber sie wird genommen.“ Später, als er, ein beredter Kritiker des Stalinismus, ins Exil flüchtete – zuerst nach Paris, dann nach Berkeley, wo er fast 40 Jahre lebte – kommen Landschaften und Momente aus der amerikanischen Kultur und Geschichte hinzu.
  Ein ruhiges Leben, jedenfalls an der Oberfläche, so wollte Miłosz es selbst sehen. In seinem Gedicht „Für Allen Ginsberg“ skizzierte er seine Form der dichterischen Kraft: „Auch so kann die Schule der Visionen sein, ohne die Drogen und das abgeschnittene Ohr von van Gogh, ohne die Bruderschaft der besten Geister hinter Krankenhausgittern.“
  Doch Miłosz hatte seine eigenen Stimmen und „teuflischen Gnome“. In seinen stärksten Gedichten lässt er die Sprache pulsieren. Es sind oft Langgedichte, die verschiedene Töne und Bildwelten zu Konstellationen formieren. Kleine Skizzen, Erinnerungen, Reflexionen oder imaginäre Streifzüge – und darin Bilder, die sich nie auflösen lassen, die mit jedem neuen Vers die Perspektive verschieben: „Alle sind vierbeinig, ihre Schenkel freuen sich, wenn sie die Weichheit von Bär und Dachs berühren, wenn rosige Zungen sich gegenseitig das Fell ablecken. / Erstaunt spürt man das ,ich’ im Herzschlag, aber die ganze Erde mit ihrem Frühling und Sommer kann seine Weite nicht füllen.“
  Es ist ein wenig schade, dass die Ausgabe nicht zweisprachig ist. Gerne hätte man versucht, der polnischen Sprache zu folgen und so wenigstens ein Gespür zu bekommen für die Klänge, mitunter auch Reime, die Miłosz benutzt. Dafür falten gleich vier Übersetzer seine Verse auf. Ihnen gelingt es nicht zuletzt, auch jene Stücke in ein gut lesbares Deutsch zu verwandeln, die weniger überzeugen. So verschränkt viele Gedichte in den Schichtungen ihrer Bilder und Ideen sind, so plan erscheinen manche andere in der Behauptung bloßer Aussagen. Aber Miłosz’ Ton trägt über solch schwächere Zeilen hinweg. Es ist ein Ton, der um die Brüche und Ängste im Untergrund des Bewusstseins weiß. Nur im Denken an jenen Untergrund, das machen die Gedichte immer wieder deutlich, lässt sich die Welt überhaupt „preisen“. Und nur so lassen sich die einzelnen Menschen beschreiben, mitsamt ihren „Ohrringen, Spiegeln, einem verrutschten Träger“.
Czesław Miłosz: Gedichte. Aus dem Polnischen von Doreen Daume, Karl Dedecius, Gerhard Gnauck und Christian Heidrich. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Adam Zagajewski. Carl Hanser Verlag, München 2013. 175 Seiten, 17,80 Euro.
Zagajewski hat seine Auswahl an
Miłosz’ Leben entlang komponiert
„Was tun wir mit der Wirklichkeit?
Wo ist sie in den Worten? /
Kaum blitzt sie auf, ist sie weg.“
Czesław Miłosz am 9. Juni 1981 während einer Lesung seiner Gedichte an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Ein halbes Jahr später, am 13. Dezember 1981, wurde in Polen das Kriegsrecht ausgerufen.
Foto: Keystone/Getty Images
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