Ein dramatisches Zeitalter auf wenigen Seiten zu besichtigen, dazu bedarf es der minimalistischen Kunst eines großen Autors. Taras Prochasko verwandelt ein Familienepos, das Hunderte Geschichten birgt, in lauter erzählerische Extrakte, die eine versunkene Welt und ihre Bewohner heraufbeschwören und zum Gegenstand der Meditiation machen. Diese Welt heißt Stanislau und liegt im Karpatenvorland, einem Winkel des Habsburger Reichs. Nach zwei Weltkriegen ist dort nichts mehr wie zuvor. Nur der Enkel Taras wohnt noch immer im Haus seines tschechischen Großvaters an der Hauptstraße. Nicht nur ihre verworrenen Lebensläufe ruft er auf, sondern auch die vielen Dinge, die es einmal gab: "Manchmal, wenn ich nichts mache und nichts sage, scheint es mir, daß genau dies das allerrealste Ich ist. Eine Sammlung chaotischer, unnützer Dinge."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.05.2009Poetik des Feuerzeugs
Der Unterschied zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn, so heißt es bei Robert Musil, ist der Unterschied zwischen Bäumen ("soundsoviel Festmeter bestimmter Qualität") und Wald (etwas "schwer Ausdrückbares"). Folglich ist der Westukrainer Taras Prochasko ein Mann mit zweierlei Eigenschaften. Der ehemals praktizierende Forstwirtschaftler bekennt selbst, den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen zu haben: "Unser Auge war derart geschult, dass wir die Wälder am Straßenrand nicht mehr neutral betrachten konnten, selbst bei Fahrten mit dem Autobus: sechs Buchen zwei Tannen eine Erle." Als Schriftsteller steht Prochasko aber entschieden auf der Seite des Waldes: Schon der Titel seines neuen Prosabandes macht klar, dass es hier um nichts als Möglichkeiten geht: "Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen". Prochasko unternimmt Gedankenflüge über das Rohmaterial alltäglicher Erinnerungen an zumeist ländliche Szenen: Ein Wachhund, der so scharf ist, dass kein Briefträger mehr die Post bringen will, ein betrunkenes Mädchen, dem der Erzähler die Zunge mit einer Sicherheitsnadel am Kragen befestigt, damit sie nicht daran erstickt. Aus der Betrachtung banalster Gebrauchsgegenstände folgt schließlich Poetologie: "Das Einwegfeuerzeug dient, wenn man ihm Beachtung schenkt, als täglicher Passierschein in die literarische Praxis. Indem man lernt zu beschreiben, wie das eigene Feuerzeug aussehen könnte, erhält man alle möglichen Feuerzeuge der Welt." Diese im Stil mündlicher Erzählung vorgetragene Kurzprosa verweigert literarische Geschlossenheit. Die Sprachgenauigkeit, in der Prochasko scheinbar wenig Spektakuläres anschaulich macht, erweist ihn als großen Könner der kleinen Form. Aus dem Schatten seines Landsmanns Juri Andruchowytsch tritt er jedenfalls leichtfüßig heraus. (Taras Prochasko: "Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen". Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. 125 S., br., 10,- [Euro].) spe
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Unterschied zwischen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn, so heißt es bei Robert Musil, ist der Unterschied zwischen Bäumen ("soundsoviel Festmeter bestimmter Qualität") und Wald (etwas "schwer Ausdrückbares"). Folglich ist der Westukrainer Taras Prochasko ein Mann mit zweierlei Eigenschaften. Der ehemals praktizierende Forstwirtschaftler bekennt selbst, den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen zu haben: "Unser Auge war derart geschult, dass wir die Wälder am Straßenrand nicht mehr neutral betrachten konnten, selbst bei Fahrten mit dem Autobus: sechs Buchen zwei Tannen eine Erle." Als Schriftsteller steht Prochasko aber entschieden auf der Seite des Waldes: Schon der Titel seines neuen Prosabandes macht klar, dass es hier um nichts als Möglichkeiten geht: "Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen". Prochasko unternimmt Gedankenflüge über das Rohmaterial alltäglicher Erinnerungen an zumeist ländliche Szenen: Ein Wachhund, der so scharf ist, dass kein Briefträger mehr die Post bringen will, ein betrunkenes Mädchen, dem der Erzähler die Zunge mit einer Sicherheitsnadel am Kragen befestigt, damit sie nicht daran erstickt. Aus der Betrachtung banalster Gebrauchsgegenstände folgt schließlich Poetologie: "Das Einwegfeuerzeug dient, wenn man ihm Beachtung schenkt, als täglicher Passierschein in die literarische Praxis. Indem man lernt zu beschreiben, wie das eigene Feuerzeug aussehen könnte, erhält man alle möglichen Feuerzeuge der Welt." Diese im Stil mündlicher Erzählung vorgetragene Kurzprosa verweigert literarische Geschlossenheit. Die Sprachgenauigkeit, in der Prochasko scheinbar wenig Spektakuläres anschaulich macht, erweist ihn als großen Könner der kleinen Form. Aus dem Schatten seines Landsmanns Juri Andruchowytsch tritt er jedenfalls leichtfüßig heraus. (Taras Prochasko: "Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen". Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. 125 S., br., 10,- [Euro].) spe
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Autor vermisst die Westukraine wie kein Zweiter. Ganz Ohr ist Ilma Rakusa, wenn Taras Prochasko in diesen beiden Prosastücken so bescheiden wie präzise ansetzt, Alltag und Geschichte zu verbinden. Laut Rakusa kommt hier erstmals ein Autor (von Maria Weißenböck "vorzüglich" übertragen, schreibt sie) auf den deutschen Buchmarkt, der als Chronist der kleinen Dinge Großes leistet. Konkrete "Lebensläufe, die einen schwindlig machen", weil sie von Krieg und Flucht geprägt sind. Daneben "knappe, prägnante" Auslassungen über Salzbrunnen, Fichtenlikör und Zigarettenmangel. Rakusa kann kaum glauben, dass so etwas Spannung erzeugen kann. Prochasko gelingt das Kunststück offenbar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Der Gedanke, eine Geschichte in einem Satz erzählen zu können, ist so verlockend wie unmöglich, möchte man meinen. Doch Taras Prochasko verkehrt ... das vermeintlich Unmögliche ins Gegenteil: Tatsächlich lassen sich in einem Satz, ja Halbsatz ganze Geschichten erzählen. ... Größtes Lob: Das kleine Buch funktioniert perfekt, wo immer man auch beginnt zu lesen.« Harald Eggebrecht Süddeutsche Zeitung 20090705