Lebensbaum mit dem Menschen als Krone oder Entwicklung der Arten nach allen Seiten? Bredekamp befragt Darwins Evolutionstheorie und ihre Bilder.Der Name Charles Darwin ist im öffentlichen Bewusstsein untrennbar mit der Theorie vom Überlebenskampf der Arten verbunden. Wenig bekannt ist, von welchen Skrupeln die Ausbildung dieses Prinzips begleitet war. Dies gilt auch für das Baummodell der Evolution, das die Vorstellungen von der Entwicklung der Arten beherrscht und allzugut in sozialdarwinistische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts passt.Für Darwin war dieses Baummodell jedoch nur eine Möglichkeit, den Evolutionsprozeß bildlich darzustellen. Zu seinen Alternativen gehörte die Koralle als Symbol der gesamten Naturentwicklung.Bredekamp rekonstruiert die Bedeutungsgeschichte der Koralle, und zeigt, wie Darwin dieses traditionelle Symbol in seine Überlegungen eingeflochten hat: als Modell einer Evolution, die anarchisch in alle Richtungen wächst und nicht - wie beim Baummodell - den Menschen als Krönung der Entwicklung sieht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2006Heiße Luftsprünge der Evolution
Der Baum des Lebens ist eine Koralle: Horst Bredekamp liest Darwins Bilder vor
Was wäre, wenn plötzlich herausgefunden würde: Der Stiefel, als den wir Italien auf der Landkarte zu bezeichnen pflegen, ist gar kein Stiefel, sondern eine Socke. Wahrscheinlich - der Kalauer sei erlaubt - würde das keine Socke jucken. Einfach deshalb, weil Italien weder ein Stiefel noch eine Socke ist. Italien ist ein Land mit einer fest umrissenen Kartographie. Der Rest ist Metapher, wie immer sie heiße.
Ähnlich begriffsstutzig möchte man sich gegenüber der zentralen These des neuen Buchs von Horst Bredekamp verhalten. Mit einem gewaltigen argumentativen Aufwand läßt uns der Kunsthistoriker wissen: Die Bäume, mit denen Darwin die Evolutionstheorie im Diagramm visualisierte, sind gar keine Bäume, sondern Korallen. So kritisiert Bredekamp zum Beispiel Titelbild und Editorial der Zeitschrift "Science" vom Juni 2003. Das Bild zeigt eine Naturform der Haeckelschen Eiche, auf deren rechte Stammgabel der Titel "Tree of Life" projiziert war. Dazu stand im Editorial geschrieben: "Vor mehr als hundert Jahren gestaltete Charles Darwin die Beziehungen der Organismen in Raum und Zeit. Was herauskam war der Baum des Lebens, ein Eckstein der Evolutionstheorie wie auch der Klassifikation von Organismen, der das Potential hat, die gesamte Biologie zu begreifen." Alles falsch, sagt Bredekamp. Die gesamte Biologie wird im verkehrten Bild begriffen. Nicht der Baum des Lebens, sondern die Koralle des Lebens ist der Eckstein der Evolutionstheorie.
Es ist wie beim Stiefel und der Socke: Was würde sich ändern, sollte wirklich der Baum durch die Koralle ersetzt werden müssen? Die Antwort: nichts Wesentliches. Nicht ein Iota der Evolutionstheorie müßte umgeschrieben werden. Derart schnöde noch vor aller Einlassung nach der "Relevanz", nach dem Mehrwert eines Befundes zu fragen, ist nicht fehl am Platz. Denn dieses Darwin-Buch ist Teil eines weit ausholenden, vom Autor in Büchern über Hobbes (F.A.Z. vom 23. September 1999) und Leibniz (F.A.Z. vom 7. Februar 2005) erprobten Projekts. Es ist der an Erwin Panofskys Ikonologie anknüpfende Anspruch, die Kunstgeschichte zu einer allgemeinen Bildwissenschaft zu erweitern, sich mit dem Instrumentarium der Kunstgeschichte auch der Bilder der Massenmedien und der Naturwissenschaften und aller anderen irgend bildgestützten Wissenschaften anzunehmen.
Der dahinterstehende Plan, die Kunstgeschichte von einem Orchideenfach zu einer Leitwissenschaft auszubauen, ist in Zeiten knapper Fördermittel gewiß eine respektable Strategie. Ob sie aufgeht, wird freilich vom analytischen Mehrwert abhängen, den eine Bildwissenschaft gegenüber jenen Disziplinen abwirft, auf deren Gegenstände sie sich stürzt. Ist ein solcher Mehrwert nicht auszumachen, dann dürfte das Projekt einer Bildwissenschaft im Zeichen des iconic turn zu Ende sein, noch bevor es richtig begonnen hat.
Tatsächlich trägt Bredekamp interessante Indizien zusammen, um die Korallen-These zu tragen. Aber sie runden sich nicht zu einem schlüssigen Kontext, weswegen - anders als der Autor behauptet - kein einzelnes von ihnen "schlagend" ist. Wohl sagt Darwin einmal, die Bäume des Lebens, von denen er ansonsten unentwegt spricht, müßten eigentlich Korallen heißen. Aber das bezieht sich, wie der von Bredekamp ausgeblendete Zusammenhang zeigt, nicht auf die Umrißgestalt der Koralle, nicht auf die Art, wie eine Koralle sich verzweigt, sondern auf die Schichtung von Lebendigem auf Totem. Darwin sagt nicht: Meine Baumzweige sind Korallenarme. Er sagt: Der Baum des Lebens ist genauso aufgebaut wie ein Korallenriff. Deshalb ist das Diagramm der Artenverzweigung aber nicht schon eine Koralle - sowenig wie es ein Baum ist. Es ist überhaupt nicht figürlich gemeint, weder als Baum noch als Koralle, es ist ein Diagramm.
Entsprechend führt es in die Irre, solche Diagramme figürlich zu interpretieren. Als Diagramme gehorchen sie einer ausgefeilten Symbolsprache, die sich - wie Julia Voss in ihrer demnächst erscheinenden Dissertation "Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 bis 1874" zeigt - in den naturhistorischen Bildern des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. Sie sind keine Abbilder von Bäumen oder Korallen. Sie symbolisieren Zeit (als Strich), Variation (als Gabelung), Aussterben (als abreißende Linie). Bredekamps ganze Fragestellung tut gewissermaßen nichts zur Sache. Auch die moderne Graphentheorie kennt "Bäume". Aber sie muß nicht von einer Bildwissenschaft belehrt werden, daß ihre Baumgraphen keine Bäume, sondern womöglich Korallen oder Algen oder Haarnetze seien. Daß Baumgraphen, wie immer man sie sonst nennen könnte, Graphen sind und bleiben, ist der Graphentheorie genug.
Bredekamp sucht seine These naturgemäß mit einer Erkenntnistheorie zu sichern, die vom Bild her denkt. Er möchte sie an Darwins erstem Bild der Evolution veranschaulichen, einer Skizze, die Darwin im Frühjahr 1837 im Notebook B anfertigte, dem ersten von vier Notizbüchern, die er zur Frage des Artenwandels angelegt hatte. Darwin leitet die Skizze mit den Worten "I think" ein und wechselt dann von dem verbal angekündigten Gedankengang ins Bild, um das Gedachte in einem faustgroßen Diagramm darzulegen. Man sieht hier zum ersten Mal das gestalterische Zusammenspiel von Variation und Aussterben, also den Grundelementen von Darwins Evolutionstheorie. Sichtbar wird das Variieren der Arten in der Geschichte der Generationen: Dort, wo die Linien mit einem Querstrich abschließen, werden rezente, also noch existierende Arten illustriert, die anderen Linien veranschaulichen ausgestorbene Arten.
Aber was heißt schon "sichtbar werden", "veranschaulichen" oder "illustrieren"? Für Bredekamp sind das viel zu bescheidene Begriffe. Will er Darwins Skizze von 1837 doch die Erkenntnistheorie des iconic turn entnehmen: "Das Bild ist nicht Derivat oder Illustration, sondern aktiver Träger des Denkprozesses. ,I think', schreibt der Denker - und spricht die Skizze." Das Bild ist Wort geworden und hat unter uns gesprochen. Sehen so die heißen Luftsprünge der Evolution aus? Wird nicht umgekehrt ein Stiefel daraus: Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder?
CHRISTIAN GEYER
Horst Bredekamp: "Darwins Korallen". Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005. 111 S., Farb- u. S/W-Abb., geb., 18,50 [Euro].
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Der Baum des Lebens ist eine Koralle: Horst Bredekamp liest Darwins Bilder vor
Was wäre, wenn plötzlich herausgefunden würde: Der Stiefel, als den wir Italien auf der Landkarte zu bezeichnen pflegen, ist gar kein Stiefel, sondern eine Socke. Wahrscheinlich - der Kalauer sei erlaubt - würde das keine Socke jucken. Einfach deshalb, weil Italien weder ein Stiefel noch eine Socke ist. Italien ist ein Land mit einer fest umrissenen Kartographie. Der Rest ist Metapher, wie immer sie heiße.
Ähnlich begriffsstutzig möchte man sich gegenüber der zentralen These des neuen Buchs von Horst Bredekamp verhalten. Mit einem gewaltigen argumentativen Aufwand läßt uns der Kunsthistoriker wissen: Die Bäume, mit denen Darwin die Evolutionstheorie im Diagramm visualisierte, sind gar keine Bäume, sondern Korallen. So kritisiert Bredekamp zum Beispiel Titelbild und Editorial der Zeitschrift "Science" vom Juni 2003. Das Bild zeigt eine Naturform der Haeckelschen Eiche, auf deren rechte Stammgabel der Titel "Tree of Life" projiziert war. Dazu stand im Editorial geschrieben: "Vor mehr als hundert Jahren gestaltete Charles Darwin die Beziehungen der Organismen in Raum und Zeit. Was herauskam war der Baum des Lebens, ein Eckstein der Evolutionstheorie wie auch der Klassifikation von Organismen, der das Potential hat, die gesamte Biologie zu begreifen." Alles falsch, sagt Bredekamp. Die gesamte Biologie wird im verkehrten Bild begriffen. Nicht der Baum des Lebens, sondern die Koralle des Lebens ist der Eckstein der Evolutionstheorie.
Es ist wie beim Stiefel und der Socke: Was würde sich ändern, sollte wirklich der Baum durch die Koralle ersetzt werden müssen? Die Antwort: nichts Wesentliches. Nicht ein Iota der Evolutionstheorie müßte umgeschrieben werden. Derart schnöde noch vor aller Einlassung nach der "Relevanz", nach dem Mehrwert eines Befundes zu fragen, ist nicht fehl am Platz. Denn dieses Darwin-Buch ist Teil eines weit ausholenden, vom Autor in Büchern über Hobbes (F.A.Z. vom 23. September 1999) und Leibniz (F.A.Z. vom 7. Februar 2005) erprobten Projekts. Es ist der an Erwin Panofskys Ikonologie anknüpfende Anspruch, die Kunstgeschichte zu einer allgemeinen Bildwissenschaft zu erweitern, sich mit dem Instrumentarium der Kunstgeschichte auch der Bilder der Massenmedien und der Naturwissenschaften und aller anderen irgend bildgestützten Wissenschaften anzunehmen.
Der dahinterstehende Plan, die Kunstgeschichte von einem Orchideenfach zu einer Leitwissenschaft auszubauen, ist in Zeiten knapper Fördermittel gewiß eine respektable Strategie. Ob sie aufgeht, wird freilich vom analytischen Mehrwert abhängen, den eine Bildwissenschaft gegenüber jenen Disziplinen abwirft, auf deren Gegenstände sie sich stürzt. Ist ein solcher Mehrwert nicht auszumachen, dann dürfte das Projekt einer Bildwissenschaft im Zeichen des iconic turn zu Ende sein, noch bevor es richtig begonnen hat.
Tatsächlich trägt Bredekamp interessante Indizien zusammen, um die Korallen-These zu tragen. Aber sie runden sich nicht zu einem schlüssigen Kontext, weswegen - anders als der Autor behauptet - kein einzelnes von ihnen "schlagend" ist. Wohl sagt Darwin einmal, die Bäume des Lebens, von denen er ansonsten unentwegt spricht, müßten eigentlich Korallen heißen. Aber das bezieht sich, wie der von Bredekamp ausgeblendete Zusammenhang zeigt, nicht auf die Umrißgestalt der Koralle, nicht auf die Art, wie eine Koralle sich verzweigt, sondern auf die Schichtung von Lebendigem auf Totem. Darwin sagt nicht: Meine Baumzweige sind Korallenarme. Er sagt: Der Baum des Lebens ist genauso aufgebaut wie ein Korallenriff. Deshalb ist das Diagramm der Artenverzweigung aber nicht schon eine Koralle - sowenig wie es ein Baum ist. Es ist überhaupt nicht figürlich gemeint, weder als Baum noch als Koralle, es ist ein Diagramm.
Entsprechend führt es in die Irre, solche Diagramme figürlich zu interpretieren. Als Diagramme gehorchen sie einer ausgefeilten Symbolsprache, die sich - wie Julia Voss in ihrer demnächst erscheinenden Dissertation "Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837 bis 1874" zeigt - in den naturhistorischen Bildern des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. Sie sind keine Abbilder von Bäumen oder Korallen. Sie symbolisieren Zeit (als Strich), Variation (als Gabelung), Aussterben (als abreißende Linie). Bredekamps ganze Fragestellung tut gewissermaßen nichts zur Sache. Auch die moderne Graphentheorie kennt "Bäume". Aber sie muß nicht von einer Bildwissenschaft belehrt werden, daß ihre Baumgraphen keine Bäume, sondern womöglich Korallen oder Algen oder Haarnetze seien. Daß Baumgraphen, wie immer man sie sonst nennen könnte, Graphen sind und bleiben, ist der Graphentheorie genug.
Bredekamp sucht seine These naturgemäß mit einer Erkenntnistheorie zu sichern, die vom Bild her denkt. Er möchte sie an Darwins erstem Bild der Evolution veranschaulichen, einer Skizze, die Darwin im Frühjahr 1837 im Notebook B anfertigte, dem ersten von vier Notizbüchern, die er zur Frage des Artenwandels angelegt hatte. Darwin leitet die Skizze mit den Worten "I think" ein und wechselt dann von dem verbal angekündigten Gedankengang ins Bild, um das Gedachte in einem faustgroßen Diagramm darzulegen. Man sieht hier zum ersten Mal das gestalterische Zusammenspiel von Variation und Aussterben, also den Grundelementen von Darwins Evolutionstheorie. Sichtbar wird das Variieren der Arten in der Geschichte der Generationen: Dort, wo die Linien mit einem Querstrich abschließen, werden rezente, also noch existierende Arten illustriert, die anderen Linien veranschaulichen ausgestorbene Arten.
Aber was heißt schon "sichtbar werden", "veranschaulichen" oder "illustrieren"? Für Bredekamp sind das viel zu bescheidene Begriffe. Will er Darwins Skizze von 1837 doch die Erkenntnistheorie des iconic turn entnehmen: "Das Bild ist nicht Derivat oder Illustration, sondern aktiver Träger des Denkprozesses. ,I think', schreibt der Denker - und spricht die Skizze." Das Bild ist Wort geworden und hat unter uns gesprochen. Sehen so die heißen Luftsprünge der Evolution aus? Wird nicht umgekehrt ein Stiefel daraus: Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder?
CHRISTIAN GEYER
Horst Bredekamp: "Darwins Korallen". Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005. 111 S., Farb- u. S/W-Abb., geb., 18,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Burkhard Müller gerät ins Schwärmen über die "kenntnis- und gedankenreiche" schmale Studie von Horst Bredekamp, der sich aus kunst- und kulturhistorischer Perspektive mit den frühen Grundlagen der Darwinschen Evolutionstheorie auseinandersetzt. Nicht der Baum sei die adäquate Metapher um die menschliche Entwicklungsgeschichte abzubilden, sondern die Koralle. Angesichts dieser Erkenntnis, die dem Korallenliebhaber und Sammler Darwin über einer "wackligen Skizze auf einem Notizblock" gekommen ist, sei dem Naturfoscher ein "Glücksmoment der Wissenschaftsgeschichte" widerfahren, wie der Autor zitiert wird. Diesem "Denkbild" des Koralle spüre Bredekamp nach und zeige auf, wie sich die einzelnen Verzweigungen als Individuen beschreiben lassen, die zwar nur an den außenliegenden Spitzen lebendig sind, aber deren abgestorbene Teile auf einen Zusammenhang in der Vergangenheit verweisen. Aus diesem Grundstock lasse sich das "Modell der Evolutionstheorie" herleiten, die der Autor entgegen der herrschenden Interpretation als janusköpfig bezeichne, da sie nicht nur eine naturphilosophiesche Tradition "vernichte" sondern auch vollende.
© Perlentaucher Medien GmbH
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