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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.1999

Die Evolution zum freien Willen

Warum tun wir, was wir tun? Warum klopfen manche Leute das Ei an der stumpfen Seite auf und andere an der spitzen? Ist es wahr, dass Darwins Selektionstheorie auch auf das menschliche Verhalten ausgedehnt werden kann, mithin auf das Gebiet, auf dem der freie Wille sein Schattenboxen betreibt? Selten ist die Evolutionstheorie so raffiniert auf Vorgänge jenseits ihres eigentliches Gebietes angewandt worden wie von Michael R. Rose, selten ist Darwins Leben so amüsant-konzise zusammengefasst worden ("Darwin's Spectre". Revolutionary Biology in the Modern World. Princeton University Press, Princeton 1998. 233 S., geb., 17,50 brit. Pfund). Es ist ein Jammer, dass bisher kein deutscher Verlag Interesse an dem Buch gefunden hat.

Der Evolutionsbiologe Rose ist einer der besten Kritiker seiner eigenen Disziplin. Die Versuche, den Altruismus oder das "Jagd"-Verhalten im Supermarkt auf eingewachsene genetische Bestimmungen zurückzuführen, hält er für naiv. Die Kapriolen der menschlichen Psyche - die Liebe, den Hass, die Langeweile - könne man nämlich nicht auf evolutionstechnische Codierungen reduzieren. Edward O. Wilson, der so hartnäckig darauf pocht, dass die Wallungen unserer Psyche genetisch bedingt seien, wird von Rose erst freundlich verteidigt und dann ebenso freundlich abgetan: "Wilsons soziobiologisches Programm" sei "nicht glaubwürdiger" als die Versuche von einst, das magische Phlogiston oder den geheimnisvollen kosmischen Äther dingfest zu machen. Als Evolutionsbiologe weiß Rose, was er der natürlichen Auslese unter den Theorien schuldig ist.

"Darwin's Spectre" beschreibt, wie der Darwinismus uns in der Medizin, der Landwirtschaft und der Anthropologie erklärend unter die Arme greift. Am Ende des Buches hat der freie Wille ein Rückgrat erhalten, das ist aus den Prinzipien der biologischen Auslese gemacht. Rose beginnt mit der Nationalökonomie: Anhand ihrer stellt er Mechanismen der Auslese dar. Es gebe nämlich, so Rose, zwei Arten die Handlungen der Menschen in der Welt des Marktes zu sehen. Dem herkömmlichen Modell zufolge agieren sie stets gleich und sind insofern berechenbar. Als Produzenten, schreibt Rose, täten sie sich schwer, von einem Produkt auf ein anderes umzustellen. Als Konsumenten blieben sie bestimmten Produkten treu.

Überträgt man dieses Modell auf die Evolutionsbiologie, so kommt ein Bild des Menschen dabei heraus, wie Edward O. Wilson ihn sich vorstellt: Sein Verhalten im Supermarkt wäre ebenso vorhersehbar wie sein Geschmack im Liebesleben. Ein unerfreulicher Seitenaspekt dieses Modells, so es denn der Wirklichkeit entspräche, wäre der Sozialdarwinismus: Wenn die Wege zum Erfolg - dem besten Abendessen und dem geeigneten Lebenspartner - von vornherein eindeutig bestimmbar wären, dann hätten all jene Recht behalten, die eine Hierarchie unter den Menschen entwarfen und empfahlen, den "schlechten" Typen die Fortpflanzung zu untersagen.

Gegen dieses System, dem auf dem Gebiet der Wirtschaft ein Liberalismus des Verdrängungswettbewerbs entspricht, in dem "der Stärkste überlebt", stellt Rose sein eigenes Modell wirtschaftlicher Freiheitlichkeit. Roses Vorschlag ist offener, insofern er dem Menschen die unbegrenzte Fähigkeit zur Anpassung unterstellt. Er benutzt dafür den Begriff "immanenter Darwinismus". Immanent deshalb, weil die Menschen nicht inhaltlich geprägt seien, sondern lediglich den "darwinistischen" Auftrag mitbekommen hätten, in jeder Situation aufs Neue eine Entscheidung zu treffen, unabhängig von den Entscheidungen, die sie zuvor getroffen haben. Der freie Wille wäre demnach eine Sache der evolutionsbiologischen Effizienz. So kann man es natürlich auch sehen. Für Rose liegt diese Sichtweise schon deshalb nahe, weil sie plausibel mache, warum der Sozialismus nicht funktionieren kann: Einerlei, wie wohlmeinend der Staat das Leben seiner Untertanen plane, würden diese immer einen Weg suchen, die ihnen vorgezeichneten Bahnen zu verlassen und jegliche Planung zu konterkarieren.

Was ökonomisch vernünftig klingt, gebe auch ein Denkmodell für die Evolutionsbiologie her, meint Rose. Das Weltbild des sogenannten klassischen Liberalismus mit seinen starken Individuen, die nichts lernen mussten, habe in der Biologie noch nachgewirkt, als die Ökonomen es schon verabschiedet hatten. So sei es kein Wunder, dass die Biologen nicht auf den Kollaps des Liberalismus in den dreißiger Jahren vorbereitet waren und ihr Heil bei anderen Ideologien suchten, im Kommunismus oder Faschismus.

Auch der Marktwirtschaftler Rose weiß, dass der Mensch sich nicht aller Fesseln entledigen kann: Er ist ein Spezialist für das Altern. Und diese Last der conditio humana wirft ihre Schatten weit voraus: Jegliche Krankheit, die erst den "alten" Körper packt, den nämlich, der sein Teil zur Erhaltung der Art schon getan hat, wird diesen gnadenlos heimsuchen. Ihren Gipfelpunkt erreicht diese herzlose Sachlichkeit der Natur beim männlichen Geschlecht. Es gebe, so Rose, Anzeichen dafür, dass Kastraten länger leben als gewöhnliche Männer. Im Reich mancher Beuteltiere und der Pazifiklachse ist das sogar erwiesen. Die Evolution hat die Spezies nur gegen jene Malaisen leidlich geschützt, die den jungen Menschen befallen. Was danach kommt, ist der Biologie egal. "Und so altern wir", schreibt Rose, "weil die natürliche Selektion letztlich die Quelle unserer Gesundheit ist." Nur der Darwinismus, der hat eine Zukunft, einerlei, wie alt er wird.

FRANZISKA AUGSTEIN

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