Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 25,00 €
  • Buch mit Leinen-Einband

Die Fortsetzung des "Opernführers für Fortgeschrittene" von Ulrich Schreiber widmet sich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie schon in den ersten beiden Bänden wird der musikästhetische Rang der vorgestellten Opern vor dem Hintergrund der Musik- und Ideengeschichte dargestellt - in diesem "dramatischen" 20. Jahrhundert aber notwendigerweise mit besonderer Akzentuierung der politischen Geschichte.

Produktbeschreibung
Die Fortsetzung des "Opernführers für Fortgeschrittene" von Ulrich Schreiber widmet sich der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie schon in den ersten beiden Bänden wird der musikästhetische Rang der vorgestellten Opern vor dem Hintergrund der Musik- und Ideengeschichte dargestellt - in diesem "dramatischen" 20. Jahrhundert aber notwendigerweise mit besonderer Akzentuierung der politischen Geschichte.
Autorenporträt
Ulrich Schreiber, geb. 1936 in Essen, war bekannter Musik- und Theaterkritiker, u.a. durch regelmäßige Berichte in der 'Frankfurter Rundschau'. Er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur Musik und Literatur und war Mitarbeiter mehrerer Rundfunkanstalten. Ulrich Schreiber starb im Juni 2007 nach längerem Krebsleiden.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2001

Denn das weiß das Publikum nicht
Musik macht Arbeit: Mit Ulrich Schreiber schreitet die Oper fort

Totgesagte leben länger. So hat die Gattung Oper seit ihrer "Erfindung" vor vierhundert Jahren stilistische, politische und gesellschaftliche Umbrüche überlebt. Sie hat verbale Brandsätze und die Abkehr von der narrativen Literaturoper hin zu offenen Collage-Formen überstanden. Seit einem Jahrzehnt versucht sie, trotz staatlich verfügter Abmagerungskur nicht zuviel Gewicht zu verlieren. Noch hat die Oper mehr Publikum als die Konzertabonnements. Der erhellende "Opernführer für Fortgeschrittene" des Musik- und Theaterpublizisten Ulrich Schreiber, beim vorletzten Band angelangt, ist also (noch) kein Nachruf auf eine scheinbar überlebte, abschaffenswerte Musiksorte. Im Gegenteil: Wie in den beiden früheren Bänden "Von den Anfängen bis zur Französischen Revolution" (1988) und "Das neunzehnte Jahrhundert" (1991) stellt der Autor die Gattung mit oft erstaunlichen Bezügen und Verweisen ins volle Leben der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen und Entwicklungen sämtlicher Künste.

Wiederum ist eine außerordentlich perspektivenreiche Ideen- und Rezeptionsgeschichte angestrebt; wieder wendet sich der aufklärerische Impetus gegen überlieferte Klischees, ideologische Falschmünzereien, diesmal gerade im Nationalsozialismus. Auch jetzt werden die einzelnen Opern nicht gängig und eingängig für rasche Information aufbereitet, sondern im (kultur)geschichtlichen Zusammenhang auf ihren Kunstwerkcharakter hin untersucht. Dazu gehören motivgeschichtliche Analysen von literarischen Vorlagen, Libretti und Kompositionen. Keine Illustration lockert das strenge Pensum auf; Notenbeispiele vermißt man in den detaillierten Musikerläuterungen schmerzlich, denn selbst der fortgeschrittenste Opernkenner kann nicht sämtliche Partituren im Kopf haben.

Der zeitliche Rahmen in diesem ersten Teilband über das zwanzigste Jahrhundert, dem abschließend ein zweiter Teilband bis in die Gegenwart folgen soll, reicht von einem Überblick über das deutsche Musikdrama zwischen Wagner und Strauss bis zum Ende von Faschismus und Nationalsozialismus - mit der wieder recht viel gespielten Oper "Der Kaiser von Atlantis oder Die Todes-Verweigerung" des in Auschwitz ermordeten Viktor Ullmann als Schluß-Menetekel. Wie sehr Komponisten der Generation nach Wagner im Bann dieser musiktheatralischen Übermacht waren, klärt Schreiber gerade an vehementen Absetzbewegungen: in ernstgenommene Komik wie im "Barbier von Bagdad" von Wagners zeitweiligem Adlatus Peter Cornelius; ins Märchen wie in Humperdincks "Hänsel und Gretel", dessen bieder-rührselige Verwässerung gegenüber der Brüder-Grimmschen Vorlage der Autor minutiös mit einem Seitenblick auf Bruno Bettelheims Märchenanalysen nachweist; ins Melodram (Humperdincks "Königskinder") oder in einen mythischen Staat - wie in Walter Braunfels' erst vor wenigen Jahren wiederentdeckten "Vögeln".

Auch Hans Pfitzner, dem der erste Schwerpunkt gilt, hatte an Wagner schwer zu tragen, zwischen Anziehung und Abstoßung. Schreiber sieht Pfitzner aber auch im Kontext von Inspirationsästhetik und Künstlerproblematik, deren Linien er bis Schönberg, Schreker, Hindemith ("Cardillac") und Stockhausens "Licht"-Zyklus auszieht. Palestrina tritt in Beziehung zu Doktor Faustus, in Thomas Manns Roman wie in Ferruccio Busonis Opernfragment. Weit hergeholt ist dies keineswegs, hatte Pfitzner doch als Unterzeichner eines Münchener Protests gegen den Dichter dessen Emigration mitverursacht. Das Schopenhauer-Motto der Oper "Palestrina", daß die Künste unbefleckt neben der Weltgeschichte herlaufen, hat sich gerade im "Fall Pfitzner" als Irrglaube herausgestellt. Der "Palestrina"-Abschnitt ist ein Beispiel für den mitunter erdrückenden Reichtum an Fakten, Verweisen und Reflexionen im ganzen Buch.

Eine "La Bohème" gibt es auch von Leoncavallo. Schreiber erörtert ausführlich die Unterschiede zu Puccinis viel bekannterer Oper und wirft so neues Licht auf sie. Das ist charakteristisch für seine Doppelstrategie: Einerseits erkundet er wertvolle Raritäten, von denen nicht wenige seit den achtziger Jahren wiederentdeckt wurden, das Repertoire von Schallplatten und Spielplänen bereichern und so die Rezeption der Gattung vitalisieren; andererseits regt er auch im Allerwelts-Kanon zu genauerem, agilerem Erfassen an. Dies kommt vor allem Puccini und Strauss zugute, den einzigen Komponisten mit eigenen Kapiteln. Strauss' Weg vom exzentrischen Modernisten der "Salome" und "Elektra" zum "Rosenkavalier"-Klassiker und zum ideologieverdächtigen Realitätsflüchtling des "Capriccio" schreitet der Verfasser nicht allein werkbezogen ästhetisch ab; vielleicht entscheidender noch ist das Schlaglicht auf die fintenreichen Zugeständnisse des Opportunisten gegenüber dem nationalsozialistischen Zeitgeist, mit dem Endsieg-Einakter "Friedenstag" als staatlich hochgeschätzter Begleitmusik zur Realpolitik. Schreibers Darstellung läßt an polemischer Zuspitzung nichts zu wünschen übrig.

Puccini, bis in jüngste Zeit als sentimentaler Populist abqualifiziert, rückt Schreiber nicht von ungefähr ins zwanzigste Jahrhundert: An ihm interessieren ihn vor allem die fortschrittlichen Züge. An die filmschnittartige Bild-Isolation in "Manon Lescaut" konnte Hans Werner Henze in seinem stoffverwandten "Boulevard Solitude" anknüpfen. In "Tosca" spürt Schreiber akribisch Frühformen von Atonalität und den historischen Subtext der Handlung auf. In "Madama Butterfly" entdeckt er japanische, in "Turandot" chinesische Originalmelodien als Anregungen zum Entgrenzen der Tonalität. Selbstverständlich entgeht ihm in "Madame Butterfly" nicht der ideologiekritische Hintergrund "eines sextouristischen (und männlichen) Imperialismus in eine vom Untergang bedrohte alte Kultur".

Das umfangreichste Kapitel ist der Zwischenkriegszeit in Deutschland gewidmet, einer relativ kurzen Periode erstaunlicher Innovationsschübe in ästhetischer und institutioneller Hinsicht, geprägt von bedeutenden Opernhäusern, Dirigenten, von musikalisch und kulturell revolutionären Richtungen und Programmen, deren Divergenzen und Dialektik gerade die "goldenen" Zwanziger zum Gär- und Nährboden für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg werden ließen. Vom ungeheuren Potential dieser Zeit können heute die Wiederentdecker Schrekers und Zemlinskys zehren. Die auf zwei Einakter Hindemiths bezogene Überschrift "Von heute auf morgen oder hin und zurück" trifft nicht allein die nach wie vor diskutierte Wandlung Hindemiths vom Bürgerschreck zum erschreckten Bürger, sondern bezeichnet auch den Janus-Blick des Komponisten und Theoretikers Ferruccio Busoni oder die Wandelbarkeit des Stilpluralisten Ernst Krenek.

Leitlinien für die Gegenwart gehen auch von Arnold Schönberg aus, dessen Zwölftonsystem über seinen Schüler Anton Webern die Ästhetik nach 1945 eine Zeitlang fast dogmatisch beherrschte; oder von Alban Bergs Expressivität für neotonale Bestrebungen im Widerstreit zur seriellen Fixierung; vom endlich rehabilitierten Filmmusik-Erneuerer Erich Wolfgang Korngold zum Crossover zwischen Bühne und Projektion; von der anhaltenden Auseinandersetzung über Kurt Weills Spagat zwischen künstlerischer Wahrheit und Ware zur beklagenswerten, aber unaufhaltsamen Kommerzialisierung in der Event-Kultur; von der "Beggar's Opera" des achtzehnten Jahrhunderts über Brechts und Weills "Dreigroschenoper" zu den Illusionsbrüchen der heutigen, bewußt nicht mehr folgerichtig erzählenden Opern-Collagen; von Hanns Eislers revolutionären Weltveränderungs-Klängen zu totalitär benutzbarer Gebrauchsmusik.

Für den fortgeschrittenen Opernrezipienten bietet sich also übergenug anregender, anstrengender Stoff zum Mit- und Weiterdenken. Daß Musik nicht verlustlos beschrieben werden kann, bekennt Schreiber im Vorwort; die Mühe ist den gepreßten Satzpaketen anzumerken, zum Glück nicht allzuoft auf Kosten der Spannung in den geistreichen Stromkreisen der Gedanken. Daß Schreibers höchst anspruchsvolles Kompendium der modischen Spaßkultur des Schnellkonsums widerspricht, signalisiert schon das als Motto vorangestellte Busoni-Zitat: "Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß."

ELLEN KOHLHAAS

Ulrich Schreiber: "Opernführer für Fortgeschrittene". Die Geschichte des Musiktheaters. Band 3/1: Das 20. Jahrhundert I. Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus. Bärenreiter Verlag, Kassel 2000. 772 S., geb., 88,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Lebensleistung, Meisterleistung! jubelt der Rezensent. Die von Udo Bermbach gewürdigten Details des abschließenden Bandes von Ulrich Schreibers Operngeschichte lassen sich kaum unterbringen. Entsprechend der Monumentalität des Werkes greift Bermbach weit aus und greift tief in die Kiste mit den Superlativen. So viel ist sicher, meint Bermbach: Das hat Bestand. Dem jetzt vorliegenden Band über die Entwicklung des Musiktheaters in Ost- und Nordeuropa im 20. Jahrhundert bescheinigt er dabei die gleichen Vorzüge wie dem gesamten auf fünf Bände angelegten Unternehmen: Eine schier unüberbietbare Breite der Betrachtung (kein "Opern-Eurozentrismus"), bestechende Methodik und Genauigkeit (bei der "harmonischen und strukturellen Analyse"), die Fähigkeit, dem Leser historische und kulturelle Zusammenhänge zu erschließen, sowie eine Klarheit des Ausdrucks, die Bermbach das Buch auch dem Laien ans Herz legen lässt. Von jeder Seite scheint dem Rezensenten die Begeisterung des Verfassers für sein Sujet entgegen zu strahlen. Dass der Leser nicht mit jedem "Einzelurteil" Schreibers übereinzustimmen braucht, ist für Bermbach angesichts dessen so selbstverständlich wie nebensächlich.

© Perlentaucher Medien GmbH