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Aus Fabeln, Märchen und Legenden, Sprichwörtern und Redensarten schöpft Rudolf Schenda den Stoff für hundert poetische Geschichten. Er erzählt von Denken, Fühlen und Handeln der Tiere und den oft irrigen Urteilen der Menschen über das Tierverhalten.

Produktbeschreibung
Aus Fabeln, Märchen und Legenden, Sprichwörtern und Redensarten schöpft Rudolf Schenda den Stoff für hundert poetische Geschichten. Er erzählt von Denken, Fühlen und Handeln der Tiere und den oft irrigen Urteilen der Menschen über das Tierverhalten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Gottes pelzige Finger
Rudolf Schenda baut eine Arche / Von Christian Geyer

Was nützt es, über den Zustand dieser Welt zu lamentieren? Besser wäre es, wenn jeder an dem Platz, an den ihn die Schöpfung gestellt hat, sein Scherflein zum Gelingen dieser Schöpfung beitrüge. Gemäß dem afrikanischen Sprichwort: Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Lichter anzünden, dann wird die Welt alsbald heller sein. Rudolf Schenda hat dort, wo er als Professor steht, im Seminar für Europäische Volksliteratur an der Universität Zürich, solch ein Lichtlein entzündet. Statt eitel seinen Namen bei Großdemonstrationen gegen Tierexperimente in die Waagschale zu werfen oder publizistisch gut dotierte Expeditionen zur Rettung des chinesischen Pandas anzuführen, ist er bei den Leisten der europäischen Volksliteratur geblieben und hat, aus dieser ihm wohlbekannten Quelle schöpfend, in aller Ruhe ein beunruhigendes Buch zum Nutzen der Tierwelt geschrieben.

"Das Abc der Tiere" ist ein Buch über Tiergeschichten, ein Buch über die Meinungen und Einstellungen europäischer Menschen zur einheimischen und zum Teil exotischen Tierwelt, wie sie seit der Antike über die Lehren des Mittelalters, der frühen Neuzeit und des Aufklärungszeitalters bis in unsere Gegenwart hinein in Texten aller Art überliefert worden sind. Eine Unmenge von Quellen wurde ausgewertet, von der 1666 veröffentlichten Dissertation des Niederländers Hieronymus Rorarius zu dem Thema "Daß die wilden Tiere oftmals besser als der Mensch den Verstand gebrauchen" bis zu dem 1903 erschienen Buch "Der Hasenroman" des französischen Dichters Francis Jammes, der - an eine hitzige Debatte zwischen Franziskanern und Jesuiten anknüpfend - den Tieren ein gesondertes Paradies zugesteht, in dem sie zwar nicht von Menschen gestört würden, aber auch nicht in den Genuß der vollen Anschauung Gottes gelangten.

Die Neugierde spätmittelalterlicher Menschen auf seltsame Tiere überliefert Schenda aus Nachrichten über Jahrmarktsvorführungen ebenso wie mit Stellen aus weltlichen und geistlichen Tierbüchern, die Bestiarien genannt wurden. Zitiert werden die großen Naturkundler des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, die das Tierwissen der Antike und des Mittelalters sammelten, es geschickt mit eigenen Beobachtungen vermischten und in Wort und Bild einem breitenstadtbürgerlichen Publikum vorstellten. E. T. A. Hoffmann kommt zu Wort, der 1822 seinen märchenhaften "Meister Floh" mit philosophischem Verstand und menschlicher Stimme begabt. Und wir hören von den Andachtsschriftstellern, die jahrhundertelang der Meinung waren, daß die Tiere in ganz besonderem Maße befähigt seien, als "Finger Gottes" dessen Schöpfer- und Wunderkraft zu bezeugen.

Zu hundert Tieren liefert Schenda fast tausend Geschichten, Zitate und Worterklärungen. In diesem Zusammenhang, wie oben geschehen, von einem Lichtlein zu sprechen wäre gleichwohl übertrieben, würde es sich lediglich um eine buchhalterische Kompilation europäischer Tiernachrichten handeln. Doch seine Ambitionen gehen über die eines Kompilators weit hinaus. In dem Wissen, daß es in der Tierwelt möglicherweise schon fünf vor zwölf ist, verschanzt er sich nicht in der Nische seiner Gelehrsamkeit. Andererseits widersteht er der Versuchung, die von Ulrich Wickert angeführte Tugenddebatte ins Tierreich zu verlängern.

Zwar versteht Schenda sich offenkundig als ein Rufer in der Wüste der Menschlichkeit, in der das Tier nicht mehr als Mit-Geschöpf ("fellow-creature") des Menschen firmiert, sondern als eine Art lebendiges Ding für beliebige Zwecke verfrühstückt wird. Sein Buch will zu der Erkenntnis beitragen, "daß unsere Fremdbilder von Tieren zusammengesetzt sind aus traditionsgelenkten Fehlverständnissen, aus Anthropozentrismen und aus Projektionen unserer eigenen Mängel und abgründigen Bosheiten". Denn: "Kein Pech klebt so zäh wie das der Tradition; kein Karren holpert so langsam voran wie jener der Aufklärung."

Schenda prangert die "dualistische Tendenz" vieler der von ihm reportierten Tiererzählungen an. Nicht wenige Tiere erfreuen sich menschlicher Zuneigung, ja Hingebung - insbesondere die Katze, der Hund, selbst der Esel. Aber daneben werden eben auch zahllose böse Vorurteile über Säugetiere, Vögel, Reptilien oder Insekten sichtbar, und manche Arten wie das Krokodil oder die Hyäne, die Kreuzotter oder die Fledermaus, die Spinnen und die Wespen kommen durchgängig schlecht weg.

Schenda versäumt es nicht, sich in diesem Zusammenhang mit der Horrorfilmindustrie anzulegen, die alle Trickmaschinerien in Bewegung setzt, um uns Haie, Wölfe, schwarze Vögel, Skorpione und Schlangen hassens- und vernichtenswert erscheinen zu lassen. Er moniert die Titel von Massenblättern, die die noch von Franziskus als Brüder und Schwestern bezeichneten Tiere tagein, tagaus als "Räuber", "Lustmolche" und "Killer" diffamieren.

Doch läßt Schenda die Dinge im wesentlichen für sich selbst sprechen, dem Leser nur hier und da augenzwinkernd einen Nasenstüber verpassend. So etwa, wenn er den Autofahrern den Wink gibt, auf den Igel besser achtzugeben, jenes brave Gartentier, das da kreucht und nicht fleuchen kann. Oder wenn er klarstellt, daß der Hamster, der Gesellige, durch Einzelhaft zum Neurotiker wird, daß der Verzehr von Hühnerfleisch in Deutschland jedes vernünftige Maß überschritten hat und daß die Schauergeschichten über den Geier in Wirklichkeit jeder Grundlage entbehren.

Rudolf Schenda: "Das Abc der Tiere". Märchen, Mythen und Geschichten. C. H. Beck Verlag, München 1995. 436 S., 51 Abb., geb., 48,- DM.

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