Das Reich ist bedroht: Von Osten her nähern sich Feinde, barbarische Horden, die auf alle diplomatischen Interventionen nur mit der Enthauptung der Botschafter reagieren. Der Erzähler bricht mit einigen Freunden aus der selbstgewissen Lethargie der kulturmüden Hauptstadt auf und begibt sich in die Grenzregion, wo eine Entscheidungsschlacht bevorsteht.
Gracqs Roman "Das Abendreich" aus den frühen 50er Jahren, nie zur Veröffentlichung freigegeben, ist nicht minder eindringlich als seine großen Romane dieser Zeit, "Das Ufer der Syrten" und "Der Balkon im Walde". Seine unerhört eindringliche Prosa taucht die Personen, die Landschaften, die Handlung des Romans in beinahe surrealistisches Licht, gleichzeitig ist "Das Abendreich" auch eine Art Vorläufer der phantastischen Reiche und mythischen Endkämpfe in Tolkiens Epos "Herr der Ringe". Während "das Abendreich" zerfällt, erweisen sich die Phänomene der sichtbaren Welt - die Natur, das Licht, die Wege und die Jahreszeiten - als die eigentlichen Akteure. Die Mythen der europäischen Romantik werden mit denen des phantastischen Romans verschmolzen, in einer Stilistik, die ihresgleichen sucht, da für Gracq der Roman weder ein Mittel der Erkenntnis, noch der Aufklärung ist, sondern eine neue und extreme Erfahrung darstellen muss.
Gracqs Roman "Das Abendreich" aus den frühen 50er Jahren, nie zur Veröffentlichung freigegeben, ist nicht minder eindringlich als seine großen Romane dieser Zeit, "Das Ufer der Syrten" und "Der Balkon im Walde". Seine unerhört eindringliche Prosa taucht die Personen, die Landschaften, die Handlung des Romans in beinahe surrealistisches Licht, gleichzeitig ist "Das Abendreich" auch eine Art Vorläufer der phantastischen Reiche und mythischen Endkämpfe in Tolkiens Epos "Herr der Ringe". Während "das Abendreich" zerfällt, erweisen sich die Phänomene der sichtbaren Welt - die Natur, das Licht, die Wege und die Jahreszeiten - als die eigentlichen Akteure. Die Mythen der europäischen Romantik werden mit denen des phantastischen Romans verschmolzen, in einer Stilistik, die ihresgleichen sucht, da für Gracq der Roman weder ein Mittel der Erkenntnis, noch der Aufklärung ist, sondern eine neue und extreme Erfahrung darstellen muss.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2017Die Herren von Alt-Brega
Zielloser Krieg in der Phantasielandschaft: Warum Julien Gracqs Fantasy-Roman "Das Abendreich", der jetzt auf Deutsch vorliegt, unvollendet blieb.
Das Buch ist tot: Friede seiner Asche", sagte Julien Gracq 1981 im Gespräch mit Jean Roudaut. "Es ist daran gestorben, dass ich, um es in Angriff zu nehmen, nicht den richtigen Ton gewählt habe . . . Und vermutlich auch daran, dass mir der Stoff im Gegensatz zu dem, was ich mir vorstellte, nicht genug am Herzen lag."
Bei dem Buch, von dem die Rede war, handelt es sich um das mehr als zweihundert Seiten umfassende Romanfragment "Les Terres du Couchant", das jetzt unter dem Titel "Das Abendreich" in der Übersetzung von Dieter Hornig, Gracqs mimetischer deutscher Stimme, übersetzt vorliegt. Während mehr als dreitausend Seiten handschriftlicher Notizen aus dem Nachlass von Gracq noch bis 2027 gesperrt sind, gilt diese Sperre nicht für Erstfassungen publizierter Werke oder für Fragmente wie dieses. Entstanden ist es in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in jener Zeit, als Gracq für seinen ersten Roman, "Das Ufer der Syrten", den Prix Goncourt abgelehnt hatte.
Julien Gracq war seit je mit dem befasst, was er in einem anderen Gespräch als "die Arbeit im Gelände" bezeichnet hat, die ihm "von Anfang an sehr gefallen" habe. Diese Aussage bezog sich zwar auf sein Studium der Geographie - bekanntlich war Louis Poirier, der sich als Autor Julien Gracq nannte, Lehrer für Geographie und Geschichte und auf die Einkünfte aus seinen Büchern nicht angewiesen -, darf aber umstandslos auf seine Literatur übertragen werden. Sie gilt auch für das Romanfragment.
Worum geht es darin, genauer: worum geht es alles nicht? Ähnlich wie im "Ufer der Syrten" ist ein Reich bedroht, ebenjenes titelgebende Abendreich, von dem es gleich im ersten Satz heißt: "Im Grunde lebten wir gut." Alt-Brega heißt die Hauptstadt dieses dystopischen Landes, an dessen Grenzen die Barbaren stehen, die zwei Unterhändler, die Alt-Brega zu ihnen geschickt hatte, ohne viel Federlesens einfach geköpft haben. Dennoch hat diese Konstruktion nicht das Geringste mit Pegida-Ängsten vor dem Untergang des Abendlands zu tun. Es geht nicht um geschichtsphilosophische Konstruktionen oder verschlüsselte politische Botschaften. Zwar ist Gracqs Bewunderung für Jüngers "Auf den Marmorklippen" bekannt, aber den Zeitpunkt, an dem er sich von der Politik und etwaigen damit verbundenen Hoffnungen für immer abgewandt hat (Gracq war kurzzeitig Mitglied der KPF), hat er selbst präzise benannt: Seit dem Hitler-Stalin-Pakt habe er "nicht den geringsten Glauben an die Politik aufbringen und sie nicht einmal als ein seriöses Betätigungsfeld für den Geist betrachten" können. Auch um den Kampf als inneres Erlebnis, um noch einen Augenblick bei Jünger zu bleiben, geht es Gracq nicht. Zwar macht sich im Buch eine kleine Schar auf den Weg, um den Kampf aufzunehmen. Doch diese Schar ähnelt eher Tolkiens "Gefährten". "Der Herr der Ringe" erschien in England, während Gracq an diesem Roman arbeitete; gelesen - und sehr geschätzt - hat er das Werk des Kollegen aber erst viel später. Von Einfluss kann man also nicht sprechen, wohl aber von Wesensverwandtschaften, die in Bezug auf den phantasievollen Aufbau und die liebevolle Ausmalung eines imaginären Reiches erstaunlich ausgeprägt sind.
In seinem Roman erweist sich Gracq durchaus als begabter Fantasy-Autor. Zeitlich ist seine Geschichte nicht festzulegen. Im Nachwort siedelt Hornig sie irgendwo zwischen Mittelalter, Renaissance und achtzehntem Jahrhundert an. Die Gefährten jedenfalls machen sich auf Pferden auf den Weg; die Wirtschaftsweise mutet vorkapitalistisch und weitgehend agrarisch an. Die Waffentechnik scheint immerhin auf dem Stand (früh-) neuzeitlicher Feuerwaffen zu sein.
Die Landschaft ist im Gegensatz zum "Ufer der Syrten" nördlich geprägt. Allerdings ziehen sich die wohlhabenden Bewohner von Alt-Brega vor der wiederkehrenden Hitzewelle jedes Jahr in einen höher gelegenen Ort zurück. Das Land hat offenbar die unterschiedlichsten Landschaftsformen aufzuweisen: Gebirgszüge, Steppen, Küstenregionen, oft mit keltisch anmutenden Namen belegt, und der Leser hat jede Freiheit, Gracqs Schilderungen für sich weiter auszumalen.
Bei allen Parallelen zwischen Mittelerde und dem Abendreich gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied: Geht es bei Tolkien, kurz und knapp gesagt, um den Kampf gegen das Böse schlechthin, verbunden mit regelrechten Vernichtungsschlachten, so bleibt Alt-Bregas Kampf gegen die Barbaren an der Grenze merkwürdig verhalten und ziellos, beinahe eine drôle de guerre, wie Gracq sie als Offizier anfangs des Zweiten Weltkriegs selbst erlebt hatte. Zwar gibt es Schilderungen einzelner Scharmützel und auch solche scheußlicher Grausamkeiten der Barbaren, aber diese Episoden haben eher die Funktion, die Handlung wenigstens ansatzweise voranzutreiben.
Den zweiten Teil des Buches nehmen die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers in Anspruch, eine Art Tagebuch. Es ist kein Zufall, dass dieser Ich-Erzähler, bevor er mit seinen Gefährten aufgebrochen ist, um den - von vornherein aussichtslosen - Kampf aufzunehmen, im Katasteramt von Alt-Brega beschäftigt war. Es geht, auf registratorischer wie juristischer Ebene, also wieder einmal um die Arbeit im Gelände, wie immer bei Julien Gracq.
Entsprechend bleiben alle Figuren außer dem Erzähler auch merkwürdig blass, nicht aber aus Unvermögen des Autors, sondern weil sie nicht im Zentrum dieses Romans stehen. "Der Mensch" ist in Julien Gracqs Werk nicht wirklich von Interesse. Dieser Autor war ganz gewiss kein Humanist. Was er über Foucault gedacht, ob er ihn überhaupt wahrgenommen hat, ist nicht bekannt. Bekanntlich stand Gracq der Pariser Szene mit ihren Stars mehr als kritisch gegenüber. Den berühmten letzten Satz der "Ordnung der Dinge", der Mensch werde einst verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", hätte er aber sicher unterschrieben.
Was Gracqs Werk dagegen von Anfang an auszeichnet, ist eine empathische Hinwendung und Liebe zur äußeren, physischen Welt, wie diese Sätze aus einem Gespräch bezeugen: "Ja, die Außenwelt existiert für mich. Und das sehr stark. Und dieses Gefühl einer sehr kraftvollen Existenz geht eher mit einem Ja einher als mit einem Nein." Deshalb kulminiert Gracqs Werk auch in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch, "Der große Weg", das mit seiner literarischen Geographie diese Außenwelt immer wieder durchmisst.
Die Arbeit am "Abendreich" hat Gracq nach drei Jahren eingestellt. Er hatte irgendwann genug Welt gebaut und beschrieben, und das ist überaus lesenswert. Was er anfangs für seinen "Stoff" gehalten hatte, das untergehende Reich, lag ihm dagegen nicht genug am Herzen. Stattdessen schrieb er die Erzählung "Ein Balkon im Wald" - von seinen erzählenden Texten der schönste -, in dem der Fähnrich Grange auf der Suche nach den unbekannten Adern der Erde langsam aus dem Krieg verschwindet, diesmal einem historisch konkreten, dem von 1939/40. Am Ende erscheint ihm die Erde "schön und rein wie nach der Sintflut". "Gracqs einziger Protagonist ist die Erde in ihrer Schönheit", bringt es Dieter Hornig im Nachwort zum "Abendreich" auf den Punkt. Ob es dafür irgendwann noch Leser geben wird, steht auf einem anderen Blatt.
JOCHEN SCHIMMANG
Julien Gracq: "Das Abendreich".
Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz 2017. 220 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zielloser Krieg in der Phantasielandschaft: Warum Julien Gracqs Fantasy-Roman "Das Abendreich", der jetzt auf Deutsch vorliegt, unvollendet blieb.
Das Buch ist tot: Friede seiner Asche", sagte Julien Gracq 1981 im Gespräch mit Jean Roudaut. "Es ist daran gestorben, dass ich, um es in Angriff zu nehmen, nicht den richtigen Ton gewählt habe . . . Und vermutlich auch daran, dass mir der Stoff im Gegensatz zu dem, was ich mir vorstellte, nicht genug am Herzen lag."
Bei dem Buch, von dem die Rede war, handelt es sich um das mehr als zweihundert Seiten umfassende Romanfragment "Les Terres du Couchant", das jetzt unter dem Titel "Das Abendreich" in der Übersetzung von Dieter Hornig, Gracqs mimetischer deutscher Stimme, übersetzt vorliegt. Während mehr als dreitausend Seiten handschriftlicher Notizen aus dem Nachlass von Gracq noch bis 2027 gesperrt sind, gilt diese Sperre nicht für Erstfassungen publizierter Werke oder für Fragmente wie dieses. Entstanden ist es in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in jener Zeit, als Gracq für seinen ersten Roman, "Das Ufer der Syrten", den Prix Goncourt abgelehnt hatte.
Julien Gracq war seit je mit dem befasst, was er in einem anderen Gespräch als "die Arbeit im Gelände" bezeichnet hat, die ihm "von Anfang an sehr gefallen" habe. Diese Aussage bezog sich zwar auf sein Studium der Geographie - bekanntlich war Louis Poirier, der sich als Autor Julien Gracq nannte, Lehrer für Geographie und Geschichte und auf die Einkünfte aus seinen Büchern nicht angewiesen -, darf aber umstandslos auf seine Literatur übertragen werden. Sie gilt auch für das Romanfragment.
Worum geht es darin, genauer: worum geht es alles nicht? Ähnlich wie im "Ufer der Syrten" ist ein Reich bedroht, ebenjenes titelgebende Abendreich, von dem es gleich im ersten Satz heißt: "Im Grunde lebten wir gut." Alt-Brega heißt die Hauptstadt dieses dystopischen Landes, an dessen Grenzen die Barbaren stehen, die zwei Unterhändler, die Alt-Brega zu ihnen geschickt hatte, ohne viel Federlesens einfach geköpft haben. Dennoch hat diese Konstruktion nicht das Geringste mit Pegida-Ängsten vor dem Untergang des Abendlands zu tun. Es geht nicht um geschichtsphilosophische Konstruktionen oder verschlüsselte politische Botschaften. Zwar ist Gracqs Bewunderung für Jüngers "Auf den Marmorklippen" bekannt, aber den Zeitpunkt, an dem er sich von der Politik und etwaigen damit verbundenen Hoffnungen für immer abgewandt hat (Gracq war kurzzeitig Mitglied der KPF), hat er selbst präzise benannt: Seit dem Hitler-Stalin-Pakt habe er "nicht den geringsten Glauben an die Politik aufbringen und sie nicht einmal als ein seriöses Betätigungsfeld für den Geist betrachten" können. Auch um den Kampf als inneres Erlebnis, um noch einen Augenblick bei Jünger zu bleiben, geht es Gracq nicht. Zwar macht sich im Buch eine kleine Schar auf den Weg, um den Kampf aufzunehmen. Doch diese Schar ähnelt eher Tolkiens "Gefährten". "Der Herr der Ringe" erschien in England, während Gracq an diesem Roman arbeitete; gelesen - und sehr geschätzt - hat er das Werk des Kollegen aber erst viel später. Von Einfluss kann man also nicht sprechen, wohl aber von Wesensverwandtschaften, die in Bezug auf den phantasievollen Aufbau und die liebevolle Ausmalung eines imaginären Reiches erstaunlich ausgeprägt sind.
In seinem Roman erweist sich Gracq durchaus als begabter Fantasy-Autor. Zeitlich ist seine Geschichte nicht festzulegen. Im Nachwort siedelt Hornig sie irgendwo zwischen Mittelalter, Renaissance und achtzehntem Jahrhundert an. Die Gefährten jedenfalls machen sich auf Pferden auf den Weg; die Wirtschaftsweise mutet vorkapitalistisch und weitgehend agrarisch an. Die Waffentechnik scheint immerhin auf dem Stand (früh-) neuzeitlicher Feuerwaffen zu sein.
Die Landschaft ist im Gegensatz zum "Ufer der Syrten" nördlich geprägt. Allerdings ziehen sich die wohlhabenden Bewohner von Alt-Brega vor der wiederkehrenden Hitzewelle jedes Jahr in einen höher gelegenen Ort zurück. Das Land hat offenbar die unterschiedlichsten Landschaftsformen aufzuweisen: Gebirgszüge, Steppen, Küstenregionen, oft mit keltisch anmutenden Namen belegt, und der Leser hat jede Freiheit, Gracqs Schilderungen für sich weiter auszumalen.
Bei allen Parallelen zwischen Mittelerde und dem Abendreich gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied: Geht es bei Tolkien, kurz und knapp gesagt, um den Kampf gegen das Böse schlechthin, verbunden mit regelrechten Vernichtungsschlachten, so bleibt Alt-Bregas Kampf gegen die Barbaren an der Grenze merkwürdig verhalten und ziellos, beinahe eine drôle de guerre, wie Gracq sie als Offizier anfangs des Zweiten Weltkriegs selbst erlebt hatte. Zwar gibt es Schilderungen einzelner Scharmützel und auch solche scheußlicher Grausamkeiten der Barbaren, aber diese Episoden haben eher die Funktion, die Handlung wenigstens ansatzweise voranzutreiben.
Den zweiten Teil des Buches nehmen die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers in Anspruch, eine Art Tagebuch. Es ist kein Zufall, dass dieser Ich-Erzähler, bevor er mit seinen Gefährten aufgebrochen ist, um den - von vornherein aussichtslosen - Kampf aufzunehmen, im Katasteramt von Alt-Brega beschäftigt war. Es geht, auf registratorischer wie juristischer Ebene, also wieder einmal um die Arbeit im Gelände, wie immer bei Julien Gracq.
Entsprechend bleiben alle Figuren außer dem Erzähler auch merkwürdig blass, nicht aber aus Unvermögen des Autors, sondern weil sie nicht im Zentrum dieses Romans stehen. "Der Mensch" ist in Julien Gracqs Werk nicht wirklich von Interesse. Dieser Autor war ganz gewiss kein Humanist. Was er über Foucault gedacht, ob er ihn überhaupt wahrgenommen hat, ist nicht bekannt. Bekanntlich stand Gracq der Pariser Szene mit ihren Stars mehr als kritisch gegenüber. Den berühmten letzten Satz der "Ordnung der Dinge", der Mensch werde einst verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", hätte er aber sicher unterschrieben.
Was Gracqs Werk dagegen von Anfang an auszeichnet, ist eine empathische Hinwendung und Liebe zur äußeren, physischen Welt, wie diese Sätze aus einem Gespräch bezeugen: "Ja, die Außenwelt existiert für mich. Und das sehr stark. Und dieses Gefühl einer sehr kraftvollen Existenz geht eher mit einem Ja einher als mit einem Nein." Deshalb kulminiert Gracqs Werk auch in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch, "Der große Weg", das mit seiner literarischen Geographie diese Außenwelt immer wieder durchmisst.
Die Arbeit am "Abendreich" hat Gracq nach drei Jahren eingestellt. Er hatte irgendwann genug Welt gebaut und beschrieben, und das ist überaus lesenswert. Was er anfangs für seinen "Stoff" gehalten hatte, das untergehende Reich, lag ihm dagegen nicht genug am Herzen. Stattdessen schrieb er die Erzählung "Ein Balkon im Wald" - von seinen erzählenden Texten der schönste -, in dem der Fähnrich Grange auf der Suche nach den unbekannten Adern der Erde langsam aus dem Krieg verschwindet, diesmal einem historisch konkreten, dem von 1939/40. Am Ende erscheint ihm die Erde "schön und rein wie nach der Sintflut". "Gracqs einziger Protagonist ist die Erde in ihrer Schönheit", bringt es Dieter Hornig im Nachwort zum "Abendreich" auf den Punkt. Ob es dafür irgendwann noch Leser geben wird, steht auf einem anderen Blatt.
JOCHEN SCHIMMANG
Julien Gracq: "Das Abendreich".
Roman.
Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz 2017. 220 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2017Abendland in der Frühe
Hier stirbt eine Welt ab, ohne Dramatik und Tragik: Das Romanfragment aus dem Nachlass Julien Gracqs
besticht durch Detailschilderungen einer Kulisse, die auf kein Ereignis mehr wartet
VON JOSEPH HANIMANN
Mildes Spätlicht liegt über den Berghängen und Steppen eines ermatteten Reichs namens Alt-Brega. Zeitlich und geografisch ist es schwer lokalisierbar. Gerüchte von hartnäckigen Angriffen an den entlegenen Grenzen sind im Umlauf, doch will man in der Hauptstadt des Reichs die Bedrohung nicht wahrhaben. Seine verbleibende Energie ist darauf angelegt, im Ausbalancieren einer zum Stillstand gekommenen Gegenwart eine lange Vergangenheit zu inventarisieren und unter Vermeidung jeglicher Bewegung aus den Archiven und juristischen Verhandlungsprotokollen Gleichgewicht zu fabrizieren, im „Timbre der verbrauchten Müdigkeit“ eines nur noch aufs Lebenswichtige sich konzentrierenden Willens, bei den Behörden wie unter dem Volk.
So das Eingangsklima in diesem wunderlichen Buch.
Um eines gleich vorwegzunehmen: Es ist ein großes Glück für die deutschen Leser, so einen Übersetzer und Herausgeber und so einen Verlag für Julien Gracq zu haben. Dieses exzentrische Polargestirn der modernen französischen Literatur strahlt dadurch auch in Deutschland unter denselben günstigen Bedingungen wie in seinem Ursprungsland: vorbildlich betreut und zuverlässig ediert. Wer den Autor dennoch nicht liest, ist selber schuld.
Die sonst üblichen Bedenken bei Publikationen aus dem Nachlass braucht man im Fall des 2007 verstorbenen Gracq nicht zu haben. Davor bewahrt uns die wachsame Nachlassverwalterin Bernhild Boie. Vor sechs Jahren erschienen posthum Gracqs „Aufzeichnungen aus dem Krieg“, die Einblick in die Hintergründe des Romans „Ein Balkon im Wald“ gewährten. Das hier vorliegende Romanfragment steht thematisch und atmosphärisch in der Nähe des Romans „Das Ufer der Syrten“, für den der Autor 1951 den Goncourt-Preis ablehnte. Er schrieb an diesem Werk in den frühen Fünfzigerjahren und ließ es dann unfertig liegen. Das Vorhandene wirkt in seiner minutiösen Ausformulierung so gut wie vollendet und lässt in den Bildern und Landschaftsbeschreibungen, in der Wort- und Satzpulsation die Konturen eines großen Romans erahnen.
Wie im Stadtstaat Orsenna auf der Schwelle zwischen Morgen- und Abendland in „Das Ufer der Syrten“ haben wir hier im „Abendreich“ Alt-Brega das Panorama eines imaginären Raum-Zeit-Gebildes vor uns. Und wiederum folgen wir den Ereignissen durch die Breitwinkelperspektive eines gesichtslosen Ich-Erzählers. Feiner als der empfindlichste Seismograf verzeichnet er die Stimmungen und Ereignisse im Zeitlupentempo des Reichs, bis er eines Tages beschließt, dem Zustand des tatenlosen Zusehens und Aufschreibens ein Ende zu machen. Zusammen mit ein paar Kumpanen übersteigt er die hohe Mauer im Gebirge und verlässt Alt-Brega, um sich in einer vom Feind schon umstellten Stadt an der Reichsgrenze der Kampfzone zu nähern. Selbst inmitten der Kriegshandlungen nimmt er daran aber nicht teil und beschränkt sich weiterhin aufs Registrieren der Dinge, als bestünde seine Welt immer nur aus Spuren und Echoklängen.
Darin liegt das faszinierende Paradox von Gracqs Erzählkunst. Keiner versteht genauer und subtiler als er, Orte, Situationen, Atmosphären zu schildern, und doch weiß man nie genau, wo man ist, was gerade passiert, wer da handelt, was auf dem Spiel steht. Gracq war ein Liebhaber der breiten realistischen Erzähltradition vergangener Jahrhunderte, schrieb aber im Bewusstsein, dass diese nach dem Surrealismus und dem Nouveau Roman vorbei war. So schuf er in seinen Romanen weite Räume nach alter Manier, jedoch praktisch ohne Helden und Handlung darin. Seine Figuren haben keine Biografie, seine Beschreibungen keine Anekdoten, seine Ereignisse keine Vorgeschichte. Alles wird höchst anschaulich und fesselnd beschrieben, greifbar nah, zugleich aber auch seltsam entrückt.
Das führt auch in diesem Buch zu wahren Meisterstücken, in denen Detailschilderung, Betrachtung, Kontemplation, Spekulation vollkommen ineinander verschmelzen. Nachdem der Erzähler und seine Kumpanen mit einer Leiter die hohe Mauer auf dem Bergkamm überwunden haben, reiten sie auf einer alten, scheinbar herkunfts- und ziellos sich durchs Land ziehenden Straße dahin: eine „versteinerte Straße“, die mit ihren bald die Böschung überragenden, bald unter der Überwucherung verschwindenden Steinblöcken wie ein Fremdkörper in der Landschaft liegt. Gleichzeitig kommt sie dem Dahinreitenden wie eine „verwitterte Lebenslinie“ vor, Zeugnis eines längst schon toten Willens, „der diese Kerbe einst in die Einöde geschlagen hatte, um Blut und Säfte herbeiströmen zu lassen“, letztlich aber nur eine verhärtete Narbe in der Gegend hinterließ, „eher ein träger Wink weiterzugehen, als ein wirklicher Weg“. Diese Passage ist das Einzige, was Gracq später aus dem Romanfragment aufgriff und in den Erzählungsband „Die Halbinsel“ einfügte.
Was die Reiter am Rand dieser Straße und dann in der besetzten Stadt Roscharta antreffen, Bauernvolk, Handwerker, Dirnen, Soldaten, Beamte, Barbaren, zivilisationsmüde Stadtbewohner, bleibt bei aller Präzision der Darstellung Kulisse. Eine Kulisse, die auf kein Ereignis mehr wartet. Gracq unterschied in einer Aufzeichnung einmal zwei Arten von Schriftstellern: nahsichtige, die das Geringfügigste scharf hervortreten lassen wie Proust, Colette oder André Breton, und weitsichtige, „die nur die großen Bewegungen einer Landschaft festhalten“. Wobei „Landschaft“ beim ausgebildeten Geografie- und Geschichtslehrer Gracq stets so viel wie ein komplexes epochales Gefüge bedeutet. Thematisches Grundmuster ist hier das organische Absterben einer Welt ohne Dramatik und Tragik, im sanft erzitternden Schwinden der Kraft, mit dem auch die Distelkugeln auf der Steppe um Alt-Brega knapp über dem Boden knicken, wenn der Saft nicht mehr hochsteigt, und die wollige Schar der Samen sich in alle Winde verstreut.
Man braucht hier nicht gleich an Oswald Spengler zu denken. Den deutschen Titel für den Originaltitel „Les terres du couchant“ hat der Übersetzer einem Text von Jean Paul entlehnt. Manches erinnert auch an die Vision einer vollendeten Reife im Absterben, wie Thomas Mann sie in seinen frühen Romanen entwickelte – allerdings ohne dessen anekdotische Bürgerlichkeit. Am nächsten fühlte sich der Ex-Kommunist Gracq, den die nicht nur politisch-militärisch erfahrene Endzeit der französischen Niederlage 1940 nachhaltig geprägt hatte, der zerklüfteten Mythologie Ernst Jüngers.
Dessen Buch „Auf den Marmorklippen“ bewunderte er. Statt erstarrter Emphase liegt aber etwas Mildes und im Erzählton zugleich Herbes über seinem Werk. Dieter Hornig lässt diese Verbindung in seiner suggestionsstarken Übersetzung wunderbar nachglühen.
„Die hinter uns verkrochene Stadt bläst ihren schweren Stalltieratem auf unsere Schultern“, lesen wir an der Stelle, wo der Erzähler oben auf dem Wehrgang mit den Wachsoldaten durch die Nacht in Richtung der Belagerer späht. Und das Leben der Stadt hinter ihnen „fließt in diese Girlanden brennender Augen ein, in dieses sensible, atmende Gemäuer“. Man könnte süchtig werden von diesem Sprache gewordenen Spähen in eine Nacht, die schon mehr Morgen als Abend in sich trägt.
Julien Gracq: Das Abendreich. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz-Wien 2017. 220 Seiten. 23 Euro.
Im Zeitlupentempo des Reichs
notiert der gesichtslose
Ich-Erzähler Stimmungen
„Die hinter uns verkrochene Stadt
bläst ihren schweren Stalltieratem
auf unsere Schultern.“
Paris 1951: Julien Gracq lehnt den Prix Goncourt für den Roman „Le Rivage des Syrtes“ ab.
Foto: Gamma-Keystone/Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hier stirbt eine Welt ab, ohne Dramatik und Tragik: Das Romanfragment aus dem Nachlass Julien Gracqs
besticht durch Detailschilderungen einer Kulisse, die auf kein Ereignis mehr wartet
VON JOSEPH HANIMANN
Mildes Spätlicht liegt über den Berghängen und Steppen eines ermatteten Reichs namens Alt-Brega. Zeitlich und geografisch ist es schwer lokalisierbar. Gerüchte von hartnäckigen Angriffen an den entlegenen Grenzen sind im Umlauf, doch will man in der Hauptstadt des Reichs die Bedrohung nicht wahrhaben. Seine verbleibende Energie ist darauf angelegt, im Ausbalancieren einer zum Stillstand gekommenen Gegenwart eine lange Vergangenheit zu inventarisieren und unter Vermeidung jeglicher Bewegung aus den Archiven und juristischen Verhandlungsprotokollen Gleichgewicht zu fabrizieren, im „Timbre der verbrauchten Müdigkeit“ eines nur noch aufs Lebenswichtige sich konzentrierenden Willens, bei den Behörden wie unter dem Volk.
So das Eingangsklima in diesem wunderlichen Buch.
Um eines gleich vorwegzunehmen: Es ist ein großes Glück für die deutschen Leser, so einen Übersetzer und Herausgeber und so einen Verlag für Julien Gracq zu haben. Dieses exzentrische Polargestirn der modernen französischen Literatur strahlt dadurch auch in Deutschland unter denselben günstigen Bedingungen wie in seinem Ursprungsland: vorbildlich betreut und zuverlässig ediert. Wer den Autor dennoch nicht liest, ist selber schuld.
Die sonst üblichen Bedenken bei Publikationen aus dem Nachlass braucht man im Fall des 2007 verstorbenen Gracq nicht zu haben. Davor bewahrt uns die wachsame Nachlassverwalterin Bernhild Boie. Vor sechs Jahren erschienen posthum Gracqs „Aufzeichnungen aus dem Krieg“, die Einblick in die Hintergründe des Romans „Ein Balkon im Wald“ gewährten. Das hier vorliegende Romanfragment steht thematisch und atmosphärisch in der Nähe des Romans „Das Ufer der Syrten“, für den der Autor 1951 den Goncourt-Preis ablehnte. Er schrieb an diesem Werk in den frühen Fünfzigerjahren und ließ es dann unfertig liegen. Das Vorhandene wirkt in seiner minutiösen Ausformulierung so gut wie vollendet und lässt in den Bildern und Landschaftsbeschreibungen, in der Wort- und Satzpulsation die Konturen eines großen Romans erahnen.
Wie im Stadtstaat Orsenna auf der Schwelle zwischen Morgen- und Abendland in „Das Ufer der Syrten“ haben wir hier im „Abendreich“ Alt-Brega das Panorama eines imaginären Raum-Zeit-Gebildes vor uns. Und wiederum folgen wir den Ereignissen durch die Breitwinkelperspektive eines gesichtslosen Ich-Erzählers. Feiner als der empfindlichste Seismograf verzeichnet er die Stimmungen und Ereignisse im Zeitlupentempo des Reichs, bis er eines Tages beschließt, dem Zustand des tatenlosen Zusehens und Aufschreibens ein Ende zu machen. Zusammen mit ein paar Kumpanen übersteigt er die hohe Mauer im Gebirge und verlässt Alt-Brega, um sich in einer vom Feind schon umstellten Stadt an der Reichsgrenze der Kampfzone zu nähern. Selbst inmitten der Kriegshandlungen nimmt er daran aber nicht teil und beschränkt sich weiterhin aufs Registrieren der Dinge, als bestünde seine Welt immer nur aus Spuren und Echoklängen.
Darin liegt das faszinierende Paradox von Gracqs Erzählkunst. Keiner versteht genauer und subtiler als er, Orte, Situationen, Atmosphären zu schildern, und doch weiß man nie genau, wo man ist, was gerade passiert, wer da handelt, was auf dem Spiel steht. Gracq war ein Liebhaber der breiten realistischen Erzähltradition vergangener Jahrhunderte, schrieb aber im Bewusstsein, dass diese nach dem Surrealismus und dem Nouveau Roman vorbei war. So schuf er in seinen Romanen weite Räume nach alter Manier, jedoch praktisch ohne Helden und Handlung darin. Seine Figuren haben keine Biografie, seine Beschreibungen keine Anekdoten, seine Ereignisse keine Vorgeschichte. Alles wird höchst anschaulich und fesselnd beschrieben, greifbar nah, zugleich aber auch seltsam entrückt.
Das führt auch in diesem Buch zu wahren Meisterstücken, in denen Detailschilderung, Betrachtung, Kontemplation, Spekulation vollkommen ineinander verschmelzen. Nachdem der Erzähler und seine Kumpanen mit einer Leiter die hohe Mauer auf dem Bergkamm überwunden haben, reiten sie auf einer alten, scheinbar herkunfts- und ziellos sich durchs Land ziehenden Straße dahin: eine „versteinerte Straße“, die mit ihren bald die Böschung überragenden, bald unter der Überwucherung verschwindenden Steinblöcken wie ein Fremdkörper in der Landschaft liegt. Gleichzeitig kommt sie dem Dahinreitenden wie eine „verwitterte Lebenslinie“ vor, Zeugnis eines längst schon toten Willens, „der diese Kerbe einst in die Einöde geschlagen hatte, um Blut und Säfte herbeiströmen zu lassen“, letztlich aber nur eine verhärtete Narbe in der Gegend hinterließ, „eher ein träger Wink weiterzugehen, als ein wirklicher Weg“. Diese Passage ist das Einzige, was Gracq später aus dem Romanfragment aufgriff und in den Erzählungsband „Die Halbinsel“ einfügte.
Was die Reiter am Rand dieser Straße und dann in der besetzten Stadt Roscharta antreffen, Bauernvolk, Handwerker, Dirnen, Soldaten, Beamte, Barbaren, zivilisationsmüde Stadtbewohner, bleibt bei aller Präzision der Darstellung Kulisse. Eine Kulisse, die auf kein Ereignis mehr wartet. Gracq unterschied in einer Aufzeichnung einmal zwei Arten von Schriftstellern: nahsichtige, die das Geringfügigste scharf hervortreten lassen wie Proust, Colette oder André Breton, und weitsichtige, „die nur die großen Bewegungen einer Landschaft festhalten“. Wobei „Landschaft“ beim ausgebildeten Geografie- und Geschichtslehrer Gracq stets so viel wie ein komplexes epochales Gefüge bedeutet. Thematisches Grundmuster ist hier das organische Absterben einer Welt ohne Dramatik und Tragik, im sanft erzitternden Schwinden der Kraft, mit dem auch die Distelkugeln auf der Steppe um Alt-Brega knapp über dem Boden knicken, wenn der Saft nicht mehr hochsteigt, und die wollige Schar der Samen sich in alle Winde verstreut.
Man braucht hier nicht gleich an Oswald Spengler zu denken. Den deutschen Titel für den Originaltitel „Les terres du couchant“ hat der Übersetzer einem Text von Jean Paul entlehnt. Manches erinnert auch an die Vision einer vollendeten Reife im Absterben, wie Thomas Mann sie in seinen frühen Romanen entwickelte – allerdings ohne dessen anekdotische Bürgerlichkeit. Am nächsten fühlte sich der Ex-Kommunist Gracq, den die nicht nur politisch-militärisch erfahrene Endzeit der französischen Niederlage 1940 nachhaltig geprägt hatte, der zerklüfteten Mythologie Ernst Jüngers.
Dessen Buch „Auf den Marmorklippen“ bewunderte er. Statt erstarrter Emphase liegt aber etwas Mildes und im Erzählton zugleich Herbes über seinem Werk. Dieter Hornig lässt diese Verbindung in seiner suggestionsstarken Übersetzung wunderbar nachglühen.
„Die hinter uns verkrochene Stadt bläst ihren schweren Stalltieratem auf unsere Schultern“, lesen wir an der Stelle, wo der Erzähler oben auf dem Wehrgang mit den Wachsoldaten durch die Nacht in Richtung der Belagerer späht. Und das Leben der Stadt hinter ihnen „fließt in diese Girlanden brennender Augen ein, in dieses sensible, atmende Gemäuer“. Man könnte süchtig werden von diesem Sprache gewordenen Spähen in eine Nacht, die schon mehr Morgen als Abend in sich trägt.
Julien Gracq: Das Abendreich. Roman. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz-Wien 2017. 220 Seiten. 23 Euro.
Im Zeitlupentempo des Reichs
notiert der gesichtslose
Ich-Erzähler Stimmungen
„Die hinter uns verkrochene Stadt
bläst ihren schweren Stalltieratem
auf unsere Schultern.“
Paris 1951: Julien Gracq lehnt den Prix Goncourt für den Roman „Le Rivage des Syrtes“ ab.
Foto: Gamma-Keystone/Getty Images
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