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Das Reich ist bedroht: Von Osten her nähern sich Feinde, barbarische Horden, die auf alle diplomatischen Interventionen nur mit der Enthauptung der Botschafter reagieren. Der Erzähler bricht mit einigen Freunden aus der selbstgewissen Lethargie der kulturmüden Hauptstadt auf und begibt sich in die Grenzregion, wo eine Entscheidungsschlacht bevorsteht. Gracqs Roman "Das Abendreich" aus den frühen 50er Jahren, nie zur Veröffentlichung freigegeben, ist nicht minder eindringlich als seine großen Romane dieser Zeit, "Das Ufer der Syrten" und "Der Balkon im Walde". Seine unerhört eindringliche Prosa…mehr

Produktbeschreibung
Das Reich ist bedroht: Von Osten her nähern sich Feinde, barbarische Horden, die auf alle diplomatischen Interventionen nur mit der Enthauptung der Botschafter reagieren. Der Erzähler bricht mit einigen Freunden aus der selbstgewissen Lethargie der kulturmüden Hauptstadt auf und begibt sich in die Grenzregion, wo eine Entscheidungsschlacht bevorsteht.
Gracqs Roman "Das Abendreich" aus den frühen 50er Jahren, nie zur Veröffentlichung freigegeben, ist nicht minder eindringlich als seine großen Romane dieser Zeit, "Das Ufer der Syrten" und "Der Balkon im Walde". Seine unerhört eindringliche Prosa taucht die Personen, die Landschaften, die Handlung des Romans in beinahe surrealistisches Licht, gleichzeitig ist "Das Abendreich" auch eine Art Vorläufer der phantastischen Reiche und mythischen Endkämpfe in Tolkiens Epos "Herr der Ringe". Während "das Abendreich" zerfällt, erweisen sich die Phänomene der sichtbaren Welt - die Natur, das Licht, die Wege und die Jahreszeiten - als die eigentlichen Akteure. Die Mythen der europäischen Romantik werden mit denen des phantastischen Romans verschmolzen, in einer Stilistik, die ihresgleichen sucht, da für Gracq der Roman weder ein Mittel der Erkenntnis, noch der Aufklärung ist, sondern eine neue und extreme Erfahrung darstellen muss.
Autorenporträt
Julien Gracq, 1910 als Louis Poirier geboren, war Lehrer für Geographie; er hatte am Beginn seines literarischen Schaffens Kontakte mit dem Surrealismus und war mit André Breton befreundet. Den Prix Goncourt für seinen zweiten Roman, "Das Ufer der Syrten", 1951, lehnte er ab; bis zu seinem Tod 2007 lebte er zurückgezogen in Saint-Florent-le Vieil. Gracq ist einer der großen Einzelgänger der Literatur des 20. Jahrhunderts, sein Werk erschien schon zu Lebzeiten in der Bibliothèque de la Pléïade. Bei Droschl erschienen zuletzt "Gespräche" (2007), seine aus dem Nachlass herausgegebenen "Aufzeichnungen aus dem Krieg" (2013) und der Roman "Der Versucher" (2014); außerdem, in der Essay-Reihe, Philippe Le Guillous Besuche bei Gracq, "Das Mittagessen am Ufer der Loire" (2010).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2017

Die Herren von Alt-Brega

Zielloser Krieg in der Phantasielandschaft: Warum Julien Gracqs Fantasy-Roman "Das Abendreich", der jetzt auf Deutsch vorliegt, unvollendet blieb.

Das Buch ist tot: Friede seiner Asche", sagte Julien Gracq 1981 im Gespräch mit Jean Roudaut. "Es ist daran gestorben, dass ich, um es in Angriff zu nehmen, nicht den richtigen Ton gewählt habe . . . Und vermutlich auch daran, dass mir der Stoff im Gegensatz zu dem, was ich mir vorstellte, nicht genug am Herzen lag."

Bei dem Buch, von dem die Rede war, handelt es sich um das mehr als zweihundert Seiten umfassende Romanfragment "Les Terres du Couchant", das jetzt unter dem Titel "Das Abendreich" in der Übersetzung von Dieter Hornig, Gracqs mimetischer deutscher Stimme, übersetzt vorliegt. Während mehr als dreitausend Seiten handschriftlicher Notizen aus dem Nachlass von Gracq noch bis 2027 gesperrt sind, gilt diese Sperre nicht für Erstfassungen publizierter Werke oder für Fragmente wie dieses. Entstanden ist es in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in jener Zeit, als Gracq für seinen ersten Roman, "Das Ufer der Syrten", den Prix Goncourt abgelehnt hatte.

Julien Gracq war seit je mit dem befasst, was er in einem anderen Gespräch als "die Arbeit im Gelände" bezeichnet hat, die ihm "von Anfang an sehr gefallen" habe. Diese Aussage bezog sich zwar auf sein Studium der Geographie - bekanntlich war Louis Poirier, der sich als Autor Julien Gracq nannte, Lehrer für Geographie und Geschichte und auf die Einkünfte aus seinen Büchern nicht angewiesen -, darf aber umstandslos auf seine Literatur übertragen werden. Sie gilt auch für das Romanfragment.

Worum geht es darin, genauer: worum geht es alles nicht? Ähnlich wie im "Ufer der Syrten" ist ein Reich bedroht, ebenjenes titelgebende Abendreich, von dem es gleich im ersten Satz heißt: "Im Grunde lebten wir gut." Alt-Brega heißt die Hauptstadt dieses dystopischen Landes, an dessen Grenzen die Barbaren stehen, die zwei Unterhändler, die Alt-Brega zu ihnen geschickt hatte, ohne viel Federlesens einfach geköpft haben. Dennoch hat diese Konstruktion nicht das Geringste mit Pegida-Ängsten vor dem Untergang des Abendlands zu tun. Es geht nicht um geschichtsphilosophische Konstruktionen oder verschlüsselte politische Botschaften. Zwar ist Gracqs Bewunderung für Jüngers "Auf den Marmorklippen" bekannt, aber den Zeitpunkt, an dem er sich von der Politik und etwaigen damit verbundenen Hoffnungen für immer abgewandt hat (Gracq war kurzzeitig Mitglied der KPF), hat er selbst präzise benannt: Seit dem Hitler-Stalin-Pakt habe er "nicht den geringsten Glauben an die Politik aufbringen und sie nicht einmal als ein seriöses Betätigungsfeld für den Geist betrachten" können. Auch um den Kampf als inneres Erlebnis, um noch einen Augenblick bei Jünger zu bleiben, geht es Gracq nicht. Zwar macht sich im Buch eine kleine Schar auf den Weg, um den Kampf aufzunehmen. Doch diese Schar ähnelt eher Tolkiens "Gefährten". "Der Herr der Ringe" erschien in England, während Gracq an diesem Roman arbeitete; gelesen - und sehr geschätzt - hat er das Werk des Kollegen aber erst viel später. Von Einfluss kann man also nicht sprechen, wohl aber von Wesensverwandtschaften, die in Bezug auf den phantasievollen Aufbau und die liebevolle Ausmalung eines imaginären Reiches erstaunlich ausgeprägt sind.

In seinem Roman erweist sich Gracq durchaus als begabter Fantasy-Autor. Zeitlich ist seine Geschichte nicht festzulegen. Im Nachwort siedelt Hornig sie irgendwo zwischen Mittelalter, Renaissance und achtzehntem Jahrhundert an. Die Gefährten jedenfalls machen sich auf Pferden auf den Weg; die Wirtschaftsweise mutet vorkapitalistisch und weitgehend agrarisch an. Die Waffentechnik scheint immerhin auf dem Stand (früh-) neuzeitlicher Feuerwaffen zu sein.

Die Landschaft ist im Gegensatz zum "Ufer der Syrten" nördlich geprägt. Allerdings ziehen sich die wohlhabenden Bewohner von Alt-Brega vor der wiederkehrenden Hitzewelle jedes Jahr in einen höher gelegenen Ort zurück. Das Land hat offenbar die unterschiedlichsten Landschaftsformen aufzuweisen: Gebirgszüge, Steppen, Küstenregionen, oft mit keltisch anmutenden Namen belegt, und der Leser hat jede Freiheit, Gracqs Schilderungen für sich weiter auszumalen.

Bei allen Parallelen zwischen Mittelerde und dem Abendreich gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied: Geht es bei Tolkien, kurz und knapp gesagt, um den Kampf gegen das Böse schlechthin, verbunden mit regelrechten Vernichtungsschlachten, so bleibt Alt-Bregas Kampf gegen die Barbaren an der Grenze merkwürdig verhalten und ziellos, beinahe eine drôle de guerre, wie Gracq sie als Offizier anfangs des Zweiten Weltkriegs selbst erlebt hatte. Zwar gibt es Schilderungen einzelner Scharmützel und auch solche scheußlicher Grausamkeiten der Barbaren, aber diese Episoden haben eher die Funktion, die Handlung wenigstens ansatzweise voranzutreiben.

Den zweiten Teil des Buches nehmen die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers in Anspruch, eine Art Tagebuch. Es ist kein Zufall, dass dieser Ich-Erzähler, bevor er mit seinen Gefährten aufgebrochen ist, um den - von vornherein aussichtslosen - Kampf aufzunehmen, im Katasteramt von Alt-Brega beschäftigt war. Es geht, auf registratorischer wie juristischer Ebene, also wieder einmal um die Arbeit im Gelände, wie immer bei Julien Gracq.

Entsprechend bleiben alle Figuren außer dem Erzähler auch merkwürdig blass, nicht aber aus Unvermögen des Autors, sondern weil sie nicht im Zentrum dieses Romans stehen. "Der Mensch" ist in Julien Gracqs Werk nicht wirklich von Interesse. Dieser Autor war ganz gewiss kein Humanist. Was er über Foucault gedacht, ob er ihn überhaupt wahrgenommen hat, ist nicht bekannt. Bekanntlich stand Gracq der Pariser Szene mit ihren Stars mehr als kritisch gegenüber. Den berühmten letzten Satz der "Ordnung der Dinge", der Mensch werde einst verschwinden "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand", hätte er aber sicher unterschrieben.

Was Gracqs Werk dagegen von Anfang an auszeichnet, ist eine empathische Hinwendung und Liebe zur äußeren, physischen Welt, wie diese Sätze aus einem Gespräch bezeugen: "Ja, die Außenwelt existiert für mich. Und das sehr stark. Und dieses Gefühl einer sehr kraftvollen Existenz geht eher mit einem Ja einher als mit einem Nein." Deshalb kulminiert Gracqs Werk auch in seinem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch, "Der große Weg", das mit seiner literarischen Geographie diese Außenwelt immer wieder durchmisst.

Die Arbeit am "Abendreich" hat Gracq nach drei Jahren eingestellt. Er hatte irgendwann genug Welt gebaut und beschrieben, und das ist überaus lesenswert. Was er anfangs für seinen "Stoff" gehalten hatte, das untergehende Reich, lag ihm dagegen nicht genug am Herzen. Stattdessen schrieb er die Erzählung "Ein Balkon im Wald" - von seinen erzählenden Texten der schönste -, in dem der Fähnrich Grange auf der Suche nach den unbekannten Adern der Erde langsam aus dem Krieg verschwindet, diesmal einem historisch konkreten, dem von 1939/40. Am Ende erscheint ihm die Erde "schön und rein wie nach der Sintflut". "Gracqs einziger Protagonist ist die Erde in ihrer Schönheit", bringt es Dieter Hornig im Nachwort zum "Abendreich" auf den Punkt. Ob es dafür irgendwann noch Leser geben wird, steht auf einem anderen Blatt.

JOCHEN SCHIMMANG

Julien Gracq: "Das Abendreich".

Roman.

Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl, Graz 2017. 220 S., geb., 23,- [Euro].

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