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Produktdetails
  • Verlag: Matthes & Seitz Berlin
  • Seitenzahl: 232
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 354g
  • ISBN-13: 9783882212792
  • ISBN-10: 3882212799
  • Artikelnr.: 25299055
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1998

Absturz ins Bodenlose
Rudolf Schlichters Abenteuer der Kunst

In Deutschland kamen auch die Nachkriegszeiten ohne Schlachtenlärm nicht aus. Kaum schwiegen die Waffen und senkte sich der Rauch über den Trümmern, meldeten sich die Kampfbücher und Streitschriften zurück, und die Federn wurden vor allem gespitzt, um über "Kunst", "Künstler" und beider "Zeit" zu streiten. Wie die Avantgarde war auch der moderne Kunstkampf vor allem ein publizistisches Phänomen. Dem Drang, der Zeit durch die Kunst auf die Sprünge zu verhelfen, kam das Bedürfnis entgegen, der Kunst ihrerseits die Pulsschläge der Zeit abzulauschen. Im Feuilleton der Zeitungen und Zeitschriften fanden beide Antriebe zusammen. Aus der Allianz von Kunst und Journalismus erwuchs eine neue Generation von Publizisten. Auf der maschinell beschleunigten Wegstrecke, die zwischen der Bleistiftskizze und dem gedruckten Wort zurückzulegen war, strebten sie nach einer Verschmelzung von Anschauung und Denken.

Zu den Mehrfachbegabungen gehörte der Maler, Graphiker und Schriftsteller Rudolf Schlichter, der sich in einem Lebenslauf aus dem Jahr 1945 auch als "journalistischer Zeichner" auswies. Der Zeichenstift markiert in seinem Werk die Mitte zwischen dem Pinsel des Malers der Neuen Sachlichkeit und den Schreibwerkzeugen des Publizisten, der neben unzähligen kämpferischen Artikeln auch Literarisches zu Papier gebracht hatte, darunter zwei in den frühen dreißiger Jahren erschienene autobiographische Romane, welche die Vivisektion der eigenen Person mit dem Anspruch einer "Liquidation der dargestellten Epoche" verbanden.

Die Verbindung von Epochenschau und Introspektion ist das literarische Äquivalent zu Schlichters Bildkunst, die ein Panoptikum der Grausamkeiten und Obsessionen ausbreitet und doch Selbstdarstellung einer gequälten Künstlerkreatur bleibt. Eine Probe darauf in einem anderen, gelehrten Genre liefert Schlichters späte Abhandlung über die europäische Kunstentwicklung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Der im Jahr 1949 bei Rowohlt als dünne, unbebilderte Broschüre erschienene, jetzt von den Verlegern Matthes & Seitz in ein delikates Kunstbuch verwandelte Text war aus Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen hervorgegangen, mit denen Schlichter der Vorherrschaft der Abstraktion in der Nachkriegskunst den Kampf angesagt hatte.

Hinter dem braven Titel "Das Abenteuer der Kunst" verbirgt sich Sarkasmus. Geistreich, aggressiv und mit der Sprachkraft des graphischen Bildners zeichnet Schlichter ein halbes Millennium der Kunstgeschichte nach. Um die Kunst sei es geschehen gewesen, als sie sich vom Kult und von der Dienstbarkeit gegenüber den transzendentalen Mächten befreit habe. Von der Renaissance sei der moderne "Absturz ins Bodenlose" ausgegangen. Die Abenteuerfahrt Kunst erlitt Schiffbruch, denn sie stand "Im Schatten des Satans" - so lautete die Überschrift der früher publizierten Zeitschriftenversion von Schlichters "Appassionata über die europäische Kunst".

Der leibhaftige Gegenspieler Gottes steht synonym für das Schwinden von Sinn und Bedeutung in der modernen Welt, für das "Vakuum", das die Kunst zusammen mit allen anderen Lebensäußerungen erfaßt habe. Erst aus der Vogelperspektive des heiligen Geistes, die Schlichters Höhenflug über die europäische Kunstgeschichte einnimmt, ordnet sich die Welt zu einer beziehungsvollen, wenn auch tragischen Landkarte, und das Sinnlose erfährt eine bestimmbare, notfalls dämonische Bedeutung. Der Preis dafür ist nicht niedrig; denn je höher einer fliegt, um so flacher und eingeebneter erscheint ihm das, was er auf Erden sieht. "Das einzig Tröstliche in diesem Elend einer tragischen Ausweglosigkeit", schrieb Schlichter an Ernst Jünger, "ist vielleicht das Beispielhafte unserer Situation in der Heilsgeschichte des Planetenbewohners."

Das ist die Sprache nicht nur eines Verzweifelten, sondern auch eines Erwählten, und so wirkt dieses Künstlerdokument der zweiten Nachkriegsperiode noch vom heißen Atem der Evangelien und Apokalypsen der Zwischenkriegszeit durchweht. Schlichters Kulturdiagnosen waren alle schon einmal zu lesen, bei Spengler, Klages, Jung, Thieß und Broch oder im Feuilleton der "Frankfurter Zeitung". Das Leiden am modernen Totalitätsschwund ließ die Generation der "transzendental Obdachlosen" empfänglich werden für die Unterwerfung unter alte Traditionsmächte oder unter neue totalitäre Gewalten. Schlichter war Ende der zwanziger Jahre vom Kommunismus zum Katholizismus konvertiert. Außer im Religiösen entdeckte er im Nationalen die vermeintlich stärksten Antriebskräfte der Kunst und polemisierte gegen die "aus Paris importierte Zöllner-, Briefträger- und Negerkunst". Vom Nationalsozialismus, den er zunächst begrüßt hatte, wandte er sich bald ab. "Geblieben", heißt es in der Philippika aus dem Jahr 1949, sei nur "der Abgrund schlechthin".

Fataler Beziehungszauber und Verknüpfungszwang diktieren Schlichters historische Generalbefunde: Für den Sündenfall der Kunst während der Renaissance macht er die Humanisten verantwortlich, in deren Philologie "der bilderfeindliche Geist der altjüdischen Gottesauffassung" nachwirke, da "der ganze mediterrane Raum weitgehend von semitischem Blut durchsetzt" sei. Analog wird der "Intellektualismus" des zwanzigsten Jahrhunderts zur Erbkrankheit der modernen Kunst erklärt, und die abstrakte Malerei erscheint als Rückfall in die "jüdische" Bilderfeindlichkeit. Dem Stil des Verlagshauses gemäß versieht der Herausgeber Dirk Heißerer dergleichen Geraune mit dem Kommentar, daß "Schlichters Kulturkritik" eben "kein Tabu" kenne.

Das Buch ist auch ein Lehrstück dafür, wie ein Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts gegen die Moderne und ihre Voraussetzungen zu Felde zieht und dabei doch moderner Künstler bleibt. Nicht nur in der praktischen Auflösung und Durchdringung der bildlichen und schriftlichen Gattungen ist Schlichter ein authentisches Avantgardeprodukt. Als erklärter "Griffel- und pinselführender Darsteller der sinnlich-sichtbaren Gestalt" breitet er nochmals das Evangelium des modernen Künstlers aus, der eine Mission zu erfüllen habe und aus dessen besten Schöpfungen "der erschütternde Schrei des in seiner Existenz tödlich getroffenen Menschen" hervorbreche. Schlichter selbst war eines jener "überreifen, überwachen Kinder ihrer Zeit", als die er die Künstler beschreibt, und er bleibt in seinem Traktat mehr der autographische Historiker seiner selbst und seiner Generation als ein Historiker der Kunst.

Noch kurz vor seinem Tod im Jahr 1955 unterbreitete Schlichter seinem Verleger Ledig-Rowohlt den lange gehegten Plan für "ein neuartiges Kunstbuch - in diesem Fall meine Person betreffend": Aus "Novellen", kurzen "Story's von mir, Abhandlungen über Kunst, Bemerkungen" und dazu passenden Illustrationen und Reproduktionen sollte ein "Mittelding zwischen Kunstbuch und Belletristik", eine "völlig neuartige Form der Malerbiographie", entstehen. Dieses Buch hatte Schlichter längst geschrieben; es hieß "Das Abenteuer der Kunst". Maßlos überfordert er sie. Aber was bliebe dem Künstler auch anderes übrig. VOLKER BREIDECKER

Rudolf Schlichter: "Das Abenteuer der Kunst und andere Texte". Hrsg. v. Dirk Heißerer. Verlag Matthes & Seitz, München 1998. 232 Seiten, Abb., geb., 39,80 DM.

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