Als der schwedischen Historikerin Linda Segtnan während ihrer Arbeit im Archiv zufällig ein Zeitungsausschnitt über den Mord an der neunjährigen Birgitta Sivander im Jahre 1948 im schwedischen Perstorp in die Hände fällt, ist ihr Interesse sofort geweckt. Wer war diese Birgitta und wieso konnte der
Fall nie geklärt werden? Die hochschwangere Frau beginnt zu recherchieren, sichtet Materialien,…mehrAls der schwedischen Historikerin Linda Segtnan während ihrer Arbeit im Archiv zufällig ein Zeitungsausschnitt über den Mord an der neunjährigen Birgitta Sivander im Jahre 1948 im schwedischen Perstorp in die Hände fällt, ist ihr Interesse sofort geweckt. Wer war diese Birgitta und wieso konnte der Fall nie geklärt werden? Die hochschwangere Frau beginnt zu recherchieren, sichtet Materialien, besucht den Tatort und spricht mit damaligen Zeug:innen. Doch die Recherchen bringen Segtnan nicht nur an ihre körperlichen Grenzen. Ganz langsam scheinen sich auch in ihrem Bewusstsein die unterschiedlichen Zeitebenen aufzuheben, so dass die Autorin das Gefühl bekommt, unmittelbarer Teil der Ermittlungen Ende der 1940er-Jahre zu sein und eine besondere Verbindung zu Birgitta herzustellen. Über allem scheint die Angst vor dem Tod, der Vergänglichkeit zu schweben. Und so steigert sich Linda in eine Art Besessenheit hinein, um den Mordfall neu aufzurollen und endlich aufzuklären. Eine Besessenheit, die auch die Existenz ihrer eigenen Familie infrage stellt...
"Das achte Haus" ist das literarische Debüt der schwedischen Autorin Linda Segtnan, das jetzt in der deutschen Übersetzung von Kerstin Schöps im Schweizer Atrium Verlag erschienen ist. Der Verlag hat sich im Bereich der anspruchsvollen Spannungsliteratur beispielsweise durch die Veröffentlichungen von Mark Billingham oder den überragenden Genresprenger "Westwind" von Samantha Harvey einen Namen gemacht. "Das achte Haus" passt somit ganz hervorragend in sein Programm, denn Linda Segtnans Debüt schert sich weder um Genregrenzen, noch ist es in seiner Mischung aus True Crime und Autofiktion besonders gefällig. 2022 stand Segtnan damit auf der Short List des renommierten schwedischen Literaturpreises "Adlibrispriset" für den besten Debütroman. Dabei handelt es sich gar nicht um einen Roman.
Vielmehr verknüft Segtnan auf überwiegend gelungene Art zwei Erzählstränge, die sich überraschenderweise stärker überschneiden als anfangs gedacht. Der Haupthandlungsstrang bezieht sich dabei auf den deutschen Untertitel des Buches "In Gedenken an ein Mädchen". Er ist der eindeutig stärkere Faden des Werks. Denn Segtnan gelingt dieses "Gedenken" an Birgitta Sivander auf ganz erstaunliche Weise. Sprachlich setzt sie auf eine gelungene Mischung aus klassischen Spannungsmotiven und fast unbändiger Empathie. Besonders eindrücklich und intensiv ist in diesem Zusammenhang die Szene, in der sich Vergangenheit und Gegenwart vereinen. Während Birgitta im Wald des Jahres 1948 um ihr Leben rennt, fühlt sich Linda Segtnan an selber Stelle schier zu Boden gedrückt von den überwältigenden Ereignissen 70 Jahre zuvor. Und von der Boshaftigkeit der Welt, in die Segtnan selbst in nicht allzu langer Zeit ein Mädchen setzen wird.
Überhaupt lebt "Das achte Haus" von seiner gelungenen Konzeption. So wechselt die Perspektive beispielsweise im Mittelteil des Buches von zwei Mädchen zu zwei Jungen. Während zu Beginn Mordopfer Birgitta und Lindas neugeborene Tochter Vivianne im Fokus stehen, sind es kurz darauf plötzlich ein tatverdächtiger Junge und Segtnans erstgeborener Sohn Sam. Nur um im finalen Part eine weitere unvorhersehbare Volte zu schlagen.
Dennoch hat das Buch auch Schwächen. So nimmt beispielsweise das Privatleben der Autorin einen viel zu großen Rahmen ein. Dezidiert berichtet Segtnan über ihre Ängste und Empfindungen während der Schwangerschaft und der Geburt, umfangreich erzählt sie von den familiären Problemen mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Das ist als emotionaler Unterbau der eigentlichen Geschichte durchaus verständlich und interessant, rückt aber das Gedenken an Birgitta in diesen Momenten viel zu stark in den Hintergrund. Hinzu kommt, dass nicht jeder literarische Kunstgriff sitzt. So wirkt es einigermaßen grotesk, wenn sich Linda in der Mitte des Buches plötzlich unmittelbar in die Mutter des beschuldigten Jungen verwandelt und in Ich-Perspektive von der damaligen Gerichtsverhandlung erzählt. Auch die esoterischen Momente und Spukgeschichten nehmen dem Text ein Stück seiner Ernsthaftigkeit.
Sieht man über diese Kritikpunkte hinweg und erwartet weder ein typisches "True Crime"-Buch noch einen Thriller, erhält man mit "Das achte Haus" aber eine lohnenswerte Lektüre, die gleichermaßen spannend wie bewegend ist. Es ist eine Lektüre, die mich zwar glücklicherweise nicht zu einem Besessenen werden ließ, aber durchaus dafür sorgte, dass mich der Mordfall Birgitta wahrlich mitgenommen hat. Insgesamt ist Linda Segtnan mit "Das achte Haus" und dem dazugehörigen Einsatz von Fotos, Zeitungsausschnitten und Karten das "Gedenken an ein Mädchen" sehr gelungen.