Navid Kermanis großer, lang erwarteter neuer Roman - ein Fest der Literatur!
Eine Schriftstellerin auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und zugleich am Tiefpunkt ihres Lebens: Die Ehe gescheitert, die Mutter gestorben, und plötzlich ist auch der Lebensentwurf als öffentliche Intellektuelle in Frage gestellt. Denn der sah vor, dass der Mann sich um Kind und Haushalt kümmert, während sie sich um das Elend der Welt sorgt. Virtuos verknüpft Navid Kermani die Grundfragen unserer Existenz, Geschlecht, Krieg und Vergänglichkeit, mit dem Alltäglichsten. So wie seine Heldin ist auch sein Buch ein Solitär: Roman und Journal, Essay und Meditation, ein Fest der Literatur. Etwas, das es so noch nicht zu lesen gab, weil es, wie alle großen Bücher, seine eigene Form erschafft.
Eine Schriftstellerin auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und zugleich am Tiefpunkt ihres Lebens: Die Ehe gescheitert, die Mutter gestorben, und plötzlich ist auch der Lebensentwurf als öffentliche Intellektuelle in Frage gestellt. Denn der sah vor, dass der Mann sich um Kind und Haushalt kümmert, während sie sich um das Elend der Welt sorgt. Virtuos verknüpft Navid Kermani die Grundfragen unserer Existenz, Geschlecht, Krieg und Vergänglichkeit, mit dem Alltäglichsten. So wie seine Heldin ist auch sein Buch ein Solitär: Roman und Journal, Essay und Meditation, ein Fest der Literatur. Etwas, das es so noch nicht zu lesen gab, weil es, wie alle großen Bücher, seine eigene Form erschafft.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Diedrich Diederichsen wird soghaft hineingezogen in Navid Kermanis neues Buch, das im Gegensatz zu seinem letzten in seiner Themenwahl einen deutlichen Hang zu "Doom und Verzweiflung" aufweise: "Sterbeerzählung", Trauer, Älterwerden. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, beginnt ein Projekt, das es dem Autor laut Rezensent erlaubt, sein spezielles Talent zu entfalten, nämlich das "Abenteuer des Lesenden" zu erzählen: sie beginnt, ihre Bibliothek "von A bis S" durchzulesen. Diese Vermischung von "Philologie, Rezension und Fanfiction" beschert dem Rezensenten nicht nur faszinierende Leseerlebnisse, manches findet er gar zum Gähnen, trotzdem macht er fantastische Neuentdeckungen (zum Beispiel Péter Nadás) und liest auch Bekanntes in neuem Licht. Über die Frage, warum Kermani eine weibliche Figur gewählt hat, deren geistige Verwandtschaft mit dem Autor unübersehbar ist, stellt Diederichsen verschiedene Vermutungen an und hält schließlich fest, dass hier, obwohl die Taktik zunächst irritiert, starke Momente entstehen, weil in dieser Erzählstimme sowohl Kermani (den der Rezensent persönlich kennt) als auch die Schriftstellerin zu hören sind. Die Religiösität des Autors taucht hier in vielen Formen auf, schließt Diederichsen, sowohl "als spirituelle Poesie" als auch "als theologische Nerdigkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2023Im Tod wie im Glauben verschwimmen die Geschlechter
Ein Buch der Trauer und der Liebe zur Literatur: Navid Kermani fasst in seinem Roman "Das Alphabet bis S" den Begriff der Erzählerin sehr weit, aber was er erzählt, ist grandios. Und die Fragen, mit denen sich seine Hauptfigur den Büchern nähert, kreisen immer wieder auch um Gott.
Dies ist ein Tagebuch mit nummerierten Einträgen und Markierung der Jahreszeiten, aber ohne Daten. Es beginnt im Winter, am offenen Grab der Mutter mit der Frage: Was ist Trauer? In Erinnerung an den Jahreswechsel in der vergangenen Nacht und den Anblick des Feuerwerks über dem Kölner Dom folgt gleich auf der nächsten Seite die Antwort: "Das ist Trauer, wenn das Glück, das es doch gibt, nicht mehr zu einem durchdringt. Du siehst es, es ist da, und du verbeugst dich davor oder schüttelst ihm die Hand wie einem Besucher am Grab, mehr aber auch nicht."
Es wird im Verlauf des Buchs noch weitere Beschreibungen der Trauer geben. Dass die eigene Trauer einen hinüberzieht zu anderen, die ebenfalls trauern, zum Beispiel. Und immer wieder wird der Text ums Sterben, um den Tod, die Toten kreisen, immer wieder von Totenwaschungen und davon, wie leicht die Körper werden, wenn die Seele sie verlassen hat, die Rede sein, von Beerdigungen, von den Kindern, die anders trauern als die Eltern, von Grabreden, Friedhofsbesuchen und schließlich, am Tag mit der Nummer 305 in Beirut, von der Erkenntnis darüber, wie die Trauer sich mischt mit Verwunderung. Verwunderung über den Tod: "dass es ihn wirklich gibt". Nicht das Alter, sondern der Tod ist die größte Überraschung im Leben.
Dieses Tagebuch ohne Daten ist also ein Trauerbuch. Ein Buch über Verluste, über die Angst. Doch nicht nur. Es geht auch um Familie, darum, was Mutter sein heißt und was Kind sein bedeutet, wie der Atem durch Jivamukti befreit wird, in welchem Verhältnis Leben und Schreiben zueinanderstehen und ob es zumutbar ist, wenn der Schriftsteller das Leben anderer sich als Material zu eigen macht. Geschrieben wird das fiktive Tagebuch - dass es fiktiv ist, das liegt in der Bezeichnung Roman - von einer Namenlosen, einer erfolgreichen Schriftstellerin und öffentlichen Figur, Essayistin auch und Intellektuellen, deren publizistische Interventionen und Reportagen etwa aus Afghanistan, Syrien, Iran oder Tschetschenien ihr Ruhm und Preise eingebracht haben. Das sind Attribute, die sie mit Navid Kermani, dem Verfasser des Romans "Das Alphabet bis S" teilt, wie auch die Wurzeln der Familie in Iran und einige persönliche Katastrophen.
Es wird, so viel ist schon am Anfang klar, ein schweres Jahr für diese Erzählerin werden, und so hat sie sich das Ziel gesetzt, sich ungelesenen oder auch halbvergessenen, weggelegten Büchern in ihrer Bibliothek in alphabetischer Reihenfolge zu widmen - ein Minimalrest von "Plot" in diesem ansonsten jeder Versuchung widerstehenden Text, ein Narrativ zu formen, das Kontrolle über das Geschehen suggerieren könnte, ein Geschehen, das neben den Toden eine Scheidung und eine schwere Erkrankung des Kindes umfasst. Insofern ist auch der Begriff der Erzählerin hier sehr weitgefasst. Es ist sie, die spricht. Eine Erzählung wird nicht daraus oder nur momentweise, wenn sie auf Reisen ist und darüber im Tagebuch eine Reportage schreibt.
Vom Plan einer Frau, all die lang weggelegten Bücher zu lesen
Nicht alle bisher ignorierten Bücher können von Anfang bis Ende gelesen werden, das ist selbstverständlich, aber jedes sollte einmal geöffnet worden sein. Ein ehrgeiziger Plan. Einer, der Überraschungen verspricht, Wiederbegegnungen, neue Verbindungen, Revisionen möglicherweise. Ein Plan auch, der den Tagen, der Arbeit Struktur gibt, neben dem Joggen und dem Yoga, dem Alltag - seit der Trennung von ihrem Mann ein geteilter Alltag -, mit dem Sohn, der Fürsorge für den alten Vater, den Lesungen, Reisen, Anfragen und E-Mail-Antworten. Und immer wieder einem kurzen Mittagsschlaf. Selbst darin ist die Erzählerin eine disziplinierte Frau. An manchen Tagen allerdings stockt das Schreiben über die Lektüren, und wir bekommen zum Teil zauberhafte Miniaturen zu lesen, über den Schnee zum Beispiel, übers Schwimmen oder eine Intimrasur, den "Faust" an der Volksbühne oder die Besonderheit des Schlafs im Zug.
Einer der Ersten, auf den die Namenlose in ihrer Bibliothek trifft, ist Peter Altenberg. Seinen Sexismus findet sie "trostlos", seine Pädophilie "abstoßend", aber dennoch kehrt sie lesend immer wieder zu ihm zurück, weil sie seinen dialektisch gedachten Ästhetizismus interessant findet, die Idee, Unrecht und Gewalt fänden möglicherweise ein Ende, weil "der Anblick uns enerviert". Für ihre eigenen Bücher vermutet oder hofft die Erzählerin, sie möchten die Einsicht fördern, das Elend lande vor der eigenen Haustür, "wenn man es in Afghanistan ignoriert".
Es sind, bis auf einige herausragende Ausnahmen, Männer, in deren Bücher sie sich vertieft, Attila Bartis darunter und Julian Greene, dessen überlanges Tagebuch sie rückwärts liest, Cioran (mit seinem grausam schönen Satz: "In der Literatur ist alles langweilig, was nicht unbarmherzig ist"), Shichiro Fukazawa und ihr "Trauerbegleiter" Salvador Espiru und immer wieder Péter Nádas, der über alle Themen, die sie beschäftigen und besetzen, bereits nachgedacht hat. Sein Text über eine Nahtoderfahrung unterfüttert viele ihrer Gedanken zum Sterben und dem Tod; immer wieder kommt die Namenlose auf ihn zurück.
Die herausragenden Ausnahmen im Männerklub dieser Bibliothek sind Emily Dickinson und Helene Hegemann. Emily Dickinson immer wieder mit zweisprachig gedruckten Gedichten, Helene Hegemann in einer grandiosen Revision der Erzählerin, die nach der ersten kursorischen Lektüre von "Axolotl Roadkill" das Buch lustlos zur Seite gelegt hatte: "Spielte Neid hinein, dass ein junges Mädchen derart reüssiert?", fragt sie sich nun und vermutet, sie habe denselben Fehler gemacht wie so viele Kritiker, nämlich die Autorin wiederzuerkennen in ihrem Werk. Man ahnt in diesen Passagen, dass Kermani hier die Missverständnisse über sein Buch und die Figur, die spricht, vorwegnimmt.
Was die größte Herausforderung für den Leser bildet
Tatsächlich stellt sich bei der Lektüre, die über die Strecke an Intensität und Dringlichkeit gewinnt, die Frage, wozu Kermani seine Erzählerin braucht. Warum es eine Frau sein muss, die doch so offensichtlich denkt wie ein Mann, wenn man in den Klischees bleiben will. Die sich ihr Notizbuch in die Gesäßtasche steckt und behauptet, sie habe ihre Weiblichkeit "aus freien Stücken erstickt, Gelehrte und Philosophin". Deren Stimme reflektiert ist, schulmeisternd manchmal, oft fragend, tastend, dann wieder völlig sicher in ihren Beschreibungen anderer Bücher und worauf es ihnen ankommt. Eine Frau, die sich vom Sexismus etwa eines Paul Nizon von der Lektüre nicht abhalten lässt.
Was ist das für eine Figur? Möglicherweise ist es die größte Herausforderung des Lesers, sie nicht infrage zu stellen. Nicht an ihr zu zweifeln, weil der Autor, dem sie ihre Gedanken verdankt, ein Mann ist, der viele ihrer Eigenschaften teilt. Zuzulassen, dass im Tod wie im Glauben die Geschlechter verschwimmen. Und auch in der Literatur möglicherweise. "Selbstverständlich sei jeder Mensch Mann und Frau, und die Vergegenwärtigung des anderen Geschlechts in einem selbst mache nicht nur die Persönlichkeit reicher, sondern auch das Schreiben beweglicher, freier, tiefer", schreibt Julian Greene. Das ist, in Greenes Worten, fast schon der Ansatz einer Poetologie der Namenlosen wie auch von Navid Kermani.
Die Fragen, mit denen sich die Erzählerin den Büchern nähert, kreisen immer wieder auch um Gott. Nicht, dass sie zweifelte. Aber sie findet ihn selbst bei Nádas, der ihn verneint, bei Greene natürlich, und auch bei Helene Hegemann. Ist der Glaube das Gegenteil oder Folge von Wissen, fragt sie. Die Bücher antworten ihr bei der Suche nach den letzten Dingen jenseits von Konfessionen auf jeweils eigene Art, auf ihre Frage nach Erlösung oder nach unserem Platz im Universum, das ohne Gott für die Erzählerin nicht denkbar ist, so scheint es. Und doch ist dies kein frommes Buch, das sich den Ungläubigen verschließt. Sondern ein offenes Gespräch, mit den Büchern und damit auch mit den Lesern.
Am letzten Tag des Jahres ist das Fundament fürs Familiengrab in den Boden des Friedhofs eingelassen, alles bereit für die heute noch Lebenden und die Erzählerin, die nach diesem Anblick beschwingt nach Hause geht. Sie ist bei ihrer Lektürereise bis S gekommen, das hatte der Titel des Buchs bereits verraten. Ohne den Tod der Mutter, ohne den Herzinfarkt des Sohnes, ohne die Scheidung und die Sorge um den alten Vater hätte sie es vielleicht bis Z geschafft und die Sache zu Ende gebracht. Closure. Aber Lesen wie Schreiben finden im Leben statt und brauchen keine Rekorde. Nicht einmal einen Schlusspunkt. S ist ein guter Buchstabe, um aufzuhören. S wie Nelly Sachs. VERENA LUEKEN
Navid Kermani: "Das Alphabet bis S". Roman.
Hanser Verlag, München 2023. 591 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Buch der Trauer und der Liebe zur Literatur: Navid Kermani fasst in seinem Roman "Das Alphabet bis S" den Begriff der Erzählerin sehr weit, aber was er erzählt, ist grandios. Und die Fragen, mit denen sich seine Hauptfigur den Büchern nähert, kreisen immer wieder auch um Gott.
Dies ist ein Tagebuch mit nummerierten Einträgen und Markierung der Jahreszeiten, aber ohne Daten. Es beginnt im Winter, am offenen Grab der Mutter mit der Frage: Was ist Trauer? In Erinnerung an den Jahreswechsel in der vergangenen Nacht und den Anblick des Feuerwerks über dem Kölner Dom folgt gleich auf der nächsten Seite die Antwort: "Das ist Trauer, wenn das Glück, das es doch gibt, nicht mehr zu einem durchdringt. Du siehst es, es ist da, und du verbeugst dich davor oder schüttelst ihm die Hand wie einem Besucher am Grab, mehr aber auch nicht."
Es wird im Verlauf des Buchs noch weitere Beschreibungen der Trauer geben. Dass die eigene Trauer einen hinüberzieht zu anderen, die ebenfalls trauern, zum Beispiel. Und immer wieder wird der Text ums Sterben, um den Tod, die Toten kreisen, immer wieder von Totenwaschungen und davon, wie leicht die Körper werden, wenn die Seele sie verlassen hat, die Rede sein, von Beerdigungen, von den Kindern, die anders trauern als die Eltern, von Grabreden, Friedhofsbesuchen und schließlich, am Tag mit der Nummer 305 in Beirut, von der Erkenntnis darüber, wie die Trauer sich mischt mit Verwunderung. Verwunderung über den Tod: "dass es ihn wirklich gibt". Nicht das Alter, sondern der Tod ist die größte Überraschung im Leben.
Dieses Tagebuch ohne Daten ist also ein Trauerbuch. Ein Buch über Verluste, über die Angst. Doch nicht nur. Es geht auch um Familie, darum, was Mutter sein heißt und was Kind sein bedeutet, wie der Atem durch Jivamukti befreit wird, in welchem Verhältnis Leben und Schreiben zueinanderstehen und ob es zumutbar ist, wenn der Schriftsteller das Leben anderer sich als Material zu eigen macht. Geschrieben wird das fiktive Tagebuch - dass es fiktiv ist, das liegt in der Bezeichnung Roman - von einer Namenlosen, einer erfolgreichen Schriftstellerin und öffentlichen Figur, Essayistin auch und Intellektuellen, deren publizistische Interventionen und Reportagen etwa aus Afghanistan, Syrien, Iran oder Tschetschenien ihr Ruhm und Preise eingebracht haben. Das sind Attribute, die sie mit Navid Kermani, dem Verfasser des Romans "Das Alphabet bis S" teilt, wie auch die Wurzeln der Familie in Iran und einige persönliche Katastrophen.
Es wird, so viel ist schon am Anfang klar, ein schweres Jahr für diese Erzählerin werden, und so hat sie sich das Ziel gesetzt, sich ungelesenen oder auch halbvergessenen, weggelegten Büchern in ihrer Bibliothek in alphabetischer Reihenfolge zu widmen - ein Minimalrest von "Plot" in diesem ansonsten jeder Versuchung widerstehenden Text, ein Narrativ zu formen, das Kontrolle über das Geschehen suggerieren könnte, ein Geschehen, das neben den Toden eine Scheidung und eine schwere Erkrankung des Kindes umfasst. Insofern ist auch der Begriff der Erzählerin hier sehr weitgefasst. Es ist sie, die spricht. Eine Erzählung wird nicht daraus oder nur momentweise, wenn sie auf Reisen ist und darüber im Tagebuch eine Reportage schreibt.
Vom Plan einer Frau, all die lang weggelegten Bücher zu lesen
Nicht alle bisher ignorierten Bücher können von Anfang bis Ende gelesen werden, das ist selbstverständlich, aber jedes sollte einmal geöffnet worden sein. Ein ehrgeiziger Plan. Einer, der Überraschungen verspricht, Wiederbegegnungen, neue Verbindungen, Revisionen möglicherweise. Ein Plan auch, der den Tagen, der Arbeit Struktur gibt, neben dem Joggen und dem Yoga, dem Alltag - seit der Trennung von ihrem Mann ein geteilter Alltag -, mit dem Sohn, der Fürsorge für den alten Vater, den Lesungen, Reisen, Anfragen und E-Mail-Antworten. Und immer wieder einem kurzen Mittagsschlaf. Selbst darin ist die Erzählerin eine disziplinierte Frau. An manchen Tagen allerdings stockt das Schreiben über die Lektüren, und wir bekommen zum Teil zauberhafte Miniaturen zu lesen, über den Schnee zum Beispiel, übers Schwimmen oder eine Intimrasur, den "Faust" an der Volksbühne oder die Besonderheit des Schlafs im Zug.
Einer der Ersten, auf den die Namenlose in ihrer Bibliothek trifft, ist Peter Altenberg. Seinen Sexismus findet sie "trostlos", seine Pädophilie "abstoßend", aber dennoch kehrt sie lesend immer wieder zu ihm zurück, weil sie seinen dialektisch gedachten Ästhetizismus interessant findet, die Idee, Unrecht und Gewalt fänden möglicherweise ein Ende, weil "der Anblick uns enerviert". Für ihre eigenen Bücher vermutet oder hofft die Erzählerin, sie möchten die Einsicht fördern, das Elend lande vor der eigenen Haustür, "wenn man es in Afghanistan ignoriert".
Es sind, bis auf einige herausragende Ausnahmen, Männer, in deren Bücher sie sich vertieft, Attila Bartis darunter und Julian Greene, dessen überlanges Tagebuch sie rückwärts liest, Cioran (mit seinem grausam schönen Satz: "In der Literatur ist alles langweilig, was nicht unbarmherzig ist"), Shichiro Fukazawa und ihr "Trauerbegleiter" Salvador Espiru und immer wieder Péter Nádas, der über alle Themen, die sie beschäftigen und besetzen, bereits nachgedacht hat. Sein Text über eine Nahtoderfahrung unterfüttert viele ihrer Gedanken zum Sterben und dem Tod; immer wieder kommt die Namenlose auf ihn zurück.
Die herausragenden Ausnahmen im Männerklub dieser Bibliothek sind Emily Dickinson und Helene Hegemann. Emily Dickinson immer wieder mit zweisprachig gedruckten Gedichten, Helene Hegemann in einer grandiosen Revision der Erzählerin, die nach der ersten kursorischen Lektüre von "Axolotl Roadkill" das Buch lustlos zur Seite gelegt hatte: "Spielte Neid hinein, dass ein junges Mädchen derart reüssiert?", fragt sie sich nun und vermutet, sie habe denselben Fehler gemacht wie so viele Kritiker, nämlich die Autorin wiederzuerkennen in ihrem Werk. Man ahnt in diesen Passagen, dass Kermani hier die Missverständnisse über sein Buch und die Figur, die spricht, vorwegnimmt.
Was die größte Herausforderung für den Leser bildet
Tatsächlich stellt sich bei der Lektüre, die über die Strecke an Intensität und Dringlichkeit gewinnt, die Frage, wozu Kermani seine Erzählerin braucht. Warum es eine Frau sein muss, die doch so offensichtlich denkt wie ein Mann, wenn man in den Klischees bleiben will. Die sich ihr Notizbuch in die Gesäßtasche steckt und behauptet, sie habe ihre Weiblichkeit "aus freien Stücken erstickt, Gelehrte und Philosophin". Deren Stimme reflektiert ist, schulmeisternd manchmal, oft fragend, tastend, dann wieder völlig sicher in ihren Beschreibungen anderer Bücher und worauf es ihnen ankommt. Eine Frau, die sich vom Sexismus etwa eines Paul Nizon von der Lektüre nicht abhalten lässt.
Was ist das für eine Figur? Möglicherweise ist es die größte Herausforderung des Lesers, sie nicht infrage zu stellen. Nicht an ihr zu zweifeln, weil der Autor, dem sie ihre Gedanken verdankt, ein Mann ist, der viele ihrer Eigenschaften teilt. Zuzulassen, dass im Tod wie im Glauben die Geschlechter verschwimmen. Und auch in der Literatur möglicherweise. "Selbstverständlich sei jeder Mensch Mann und Frau, und die Vergegenwärtigung des anderen Geschlechts in einem selbst mache nicht nur die Persönlichkeit reicher, sondern auch das Schreiben beweglicher, freier, tiefer", schreibt Julian Greene. Das ist, in Greenes Worten, fast schon der Ansatz einer Poetologie der Namenlosen wie auch von Navid Kermani.
Die Fragen, mit denen sich die Erzählerin den Büchern nähert, kreisen immer wieder auch um Gott. Nicht, dass sie zweifelte. Aber sie findet ihn selbst bei Nádas, der ihn verneint, bei Greene natürlich, und auch bei Helene Hegemann. Ist der Glaube das Gegenteil oder Folge von Wissen, fragt sie. Die Bücher antworten ihr bei der Suche nach den letzten Dingen jenseits von Konfessionen auf jeweils eigene Art, auf ihre Frage nach Erlösung oder nach unserem Platz im Universum, das ohne Gott für die Erzählerin nicht denkbar ist, so scheint es. Und doch ist dies kein frommes Buch, das sich den Ungläubigen verschließt. Sondern ein offenes Gespräch, mit den Büchern und damit auch mit den Lesern.
Am letzten Tag des Jahres ist das Fundament fürs Familiengrab in den Boden des Friedhofs eingelassen, alles bereit für die heute noch Lebenden und die Erzählerin, die nach diesem Anblick beschwingt nach Hause geht. Sie ist bei ihrer Lektürereise bis S gekommen, das hatte der Titel des Buchs bereits verraten. Ohne den Tod der Mutter, ohne den Herzinfarkt des Sohnes, ohne die Scheidung und die Sorge um den alten Vater hätte sie es vielleicht bis Z geschafft und die Sache zu Ende gebracht. Closure. Aber Lesen wie Schreiben finden im Leben statt und brauchen keine Rekorde. Nicht einmal einen Schlusspunkt. S ist ein guter Buchstabe, um aufzuhören. S wie Nelly Sachs. VERENA LUEKEN
Navid Kermani: "Das Alphabet bis S". Roman.
Hanser Verlag, München 2023. 591 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sollten Sie jemals entscheiden müssen, welches Buch Sie auf eine einsame Insel mitnehmen, um für den Rest Ihres Lebens etwas zu lesen zu haben, empfehle ich 'Das Alphabet bis S'." Juli Zeh, The Pioneer Literatur-Podcast Edle Federn, 30.12.24
"Das ist wirklich großartig, das ist klug und schön und nicht so besserwisserisch." Michael Krüger, Tagesspiegel, 08.12.23
"Wie ein hochwertiger persischer Teppich." Claudia Schülke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.23
"Ein Buch, das alle Gattungsgrenzen sprengt... Eine Fundgrube für Literaturliebhaber... Sechshundert abwechslungsreiche, kluge und glänzend geschriebene Seiten." Wolfgang Seibel, Ö1 ex libris, 12.11.23
"Eine Wundertüte voll Geist, Gefühl und Genre." Bernd Melichar, Kleine Zeitung, 18.10.23
"Das macht Navid Kermani so leicht niemand nach: den Sprung in die Szene, in den Konflikt, in die Situation. 365 Abschnitte - woher kennt man die Zahl noch mal? - hat 'Das Alphabet bis S', und immer wieder neu, liebevoll, rätselhaft, soghaft wird man hineingebeamt in diesen je neuen Tag." Diedrich Diedrichsen, taz, 17.10.23
"Neben all seinen reportagehaften, dokumentarischen, autofiktionalen und poetologischen Anteilen vor allem ein anregendes, überaus originelles Lektüreprotokoll." Marianna Lieder, Welt am Sonntag, 15.10.23
"Navid Kermani ist einer der vielseitigsten, facettenreichsten, auch schlicht und einfach klügsten und intelligentesten Erzähler und Intellektuellen, die wir in diesem Land haben. ... Ich war wirklich beeindruckt von der intellektuellen Schärfe dieses Buchs, aber auch gleichzeitig von der Wärme." Denis Scheck, WDR 3 Mosaik, 09.10.23
"Eine Liebeserklärung an die Literatur und an das Leben in all seiner soliden Fehlerhaftigkeit. Ein erfreulich disparates Buch, so disparat wie das Leben selbst." Shirin Sojitrawalla, Deutschlandfunk Büchermarkt. 24.09.23
"Ich habe das Buch einigermaßen atemlos gelesen ... Es stecken so viele Gedanken und Denkanstöße in diesem Buch." Fridtjof Küchemann, FAZ Bücher-Podcast, 24.09.23
"Ein Buch der Trauer und der Liebe zur Literatur: Navid Kermani fasst den Begriff der Erzählerin sehr weit, aber was er erzählt, ist grandios." Verena Lueken, FAZ.NET, 14.09.23
"Ein Füllhorn. Ein Tagebuch als Denk- und Bücherbuch. Ein reiches und bereicherndes Kompendium zu Fragen der Zeit, anregend und anspruchsvoll. Es lohnt sich, im Buchhandel unter K wie Kermani nach dem Roman zu greifen." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 09.09.23
"Das ist wirklich großartig, das ist klug und schön und nicht so besserwisserisch." Michael Krüger, Tagesspiegel, 08.12.23
"Wie ein hochwertiger persischer Teppich." Claudia Schülke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.23
"Ein Buch, das alle Gattungsgrenzen sprengt... Eine Fundgrube für Literaturliebhaber... Sechshundert abwechslungsreiche, kluge und glänzend geschriebene Seiten." Wolfgang Seibel, Ö1 ex libris, 12.11.23
"Eine Wundertüte voll Geist, Gefühl und Genre." Bernd Melichar, Kleine Zeitung, 18.10.23
"Das macht Navid Kermani so leicht niemand nach: den Sprung in die Szene, in den Konflikt, in die Situation. 365 Abschnitte - woher kennt man die Zahl noch mal? - hat 'Das Alphabet bis S', und immer wieder neu, liebevoll, rätselhaft, soghaft wird man hineingebeamt in diesen je neuen Tag." Diedrich Diedrichsen, taz, 17.10.23
"Neben all seinen reportagehaften, dokumentarischen, autofiktionalen und poetologischen Anteilen vor allem ein anregendes, überaus originelles Lektüreprotokoll." Marianna Lieder, Welt am Sonntag, 15.10.23
"Navid Kermani ist einer der vielseitigsten, facettenreichsten, auch schlicht und einfach klügsten und intelligentesten Erzähler und Intellektuellen, die wir in diesem Land haben. ... Ich war wirklich beeindruckt von der intellektuellen Schärfe dieses Buchs, aber auch gleichzeitig von der Wärme." Denis Scheck, WDR 3 Mosaik, 09.10.23
"Eine Liebeserklärung an die Literatur und an das Leben in all seiner soliden Fehlerhaftigkeit. Ein erfreulich disparates Buch, so disparat wie das Leben selbst." Shirin Sojitrawalla, Deutschlandfunk Büchermarkt. 24.09.23
"Ich habe das Buch einigermaßen atemlos gelesen ... Es stecken so viele Gedanken und Denkanstöße in diesem Buch." Fridtjof Küchemann, FAZ Bücher-Podcast, 24.09.23
"Ein Buch der Trauer und der Liebe zur Literatur: Navid Kermani fasst den Begriff der Erzählerin sehr weit, aber was er erzählt, ist grandios." Verena Lueken, FAZ.NET, 14.09.23
"Ein Füllhorn. Ein Tagebuch als Denk- und Bücherbuch. Ein reiches und bereicherndes Kompendium zu Fragen der Zeit, anregend und anspruchsvoll. Es lohnt sich, im Buchhandel unter K wie Kermani nach dem Roman zu greifen." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 09.09.23