Dr. Murray Watson lehrt an der Universität Glasgow Englische Literatur. Seit er mit 16 Jahren die Gedichte von Archie Lunan gelesen hat, ist er von diesem früh verstorbenen Dichter fasziniert und hat sich vorgenommen, eine Lunan-Biografie zu schreiben. Lunans Nachlass erweist sich als nicht sehr ergiebig, sein kurzes Leben dafür als umso geheimnisvoller. Der vielversprechende junge Dichter, ein Hippie und Aufschneider, war in den 70er Jahren der Mittelpunkt eines Schriftstellerzirkels an der Universität, an der Watson beschäftigt ist. Die Literatur, bewusstseinserweiternde Drogen und Alkohol scheinen für ihn wichtiger gewesen zu sein als das Studium - bis er unter ungeklärten Umständen in einem Segelboot vor der Küste von Lismore ums Leben kam. Je mehr sich Watson mit Lunan beschäftigt, desto tiefer wird er in einen Sumpf aus Geheimnissen, Lügen, Sex und Tod gezogen. Brillant spielt Louise Welsh mit den Mitteln des Kriminalromans und zieht die Leser in ihren Bann: »Das Alphabet der Knochen« ist ihr bisher dunkelster und unwiderstehlichster Roman.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2010Was wurde eigentlich aus Gewalt, Sex und Sprachwitz?
Wer sich im Urlaub nicht langweilen will, sollte Louise Welshs neuen Krimi lesen
Es ist immer ein Fehler, von einem Autorenfoto Rückschlüsse auf die Prosa zu ziehen; so wie es auch fast immer ein Fehler ist, einem Buch das Etikett "Kriminalroman" wie einen Freibankstempel aufzudrücken. Louise Welsh, 45, die als Antiquarin arbeitete, bevor sie zu schreiben begann, sieht so harmlos und bieder aus wie "unsere Lieblingskunstlehrerin" ("The Guardian") - und sie schreibt sehr düstere und vertrackte Romane, die mit Gothic Novel, Krimi- und Thrillergenre flirten, voller Gewalt, Sex und Sprachwitz, gekonnt gebaut, gut recherchiert und spannend sowieso.
"Das Alphabet der Knochen" (im Original "Naming the Bones") ist der vierte Roman der Engländerin, die in Glasgow lebt; es gibt ein Geheimnis, eine Spurensuche, die in die Vergangenheit führt, und eine Lösung, die in einen Abgrund blicken lässt - aber eben keine reine Genre-Erzählung, welche allein der Logik eines Plots folgte. Da sind ein toter Dichter und ein Literaturwissenschaftler, der über dessen Werk und Leben forscht und der schnell feststellen muss, dass es mit Werkphilologie so wenig getan ist wie mit schlichtem Biographismus. Und Louise Welsh weiß, wie man aus diesem nicht gerade aufregenden literaturwissenschaftlichen Methodenstreit Funken schlägt, ohne sich im Genre des Campus-Romans zu verlaufen.
Dr. Murray Watson lehrt Literatur in Glasgow, er hat sich freistellen lassen für seine Arbeit über Archie Lunan, er hat die dreißig überschritten und ein ziemlich überschaubares Privatleben. Watson ist nicht gerade ein strahlender Held, er ist fast schon ein Langweiler, ohne deshalb ein langweiliger Romancharakter zu sein. Denn Louise Welsh hat ihm in einigen Passagen inneren Monologs die nötige Portion Selbstironie mit auf den Weg gegeben. Er räsoniert nie so viel, dass er als Grübler erschiene, aber gerade genug, um sein Handeln nachvollziehbar zu machen, ohne es übermäßig zu psychologisieren.
Seit der Pubertät bewundert Watson die Lyrik Lunans, der nach einem kurzen, wilden Leben Anfang der siebziger Jahre nahe der Insel Lismore, vor der schottischen Westküste, ertrunken ist und nur einen schmalen Band mit Gedichten hinterlassen hat. Watson will den Verkannten rehabilitieren, er will mit Lunans alten Bekannten Interviews führen - ordentliche Forschung halt, aber es ist ziemlich klar, dass der leicht frustrierte Akademiker sich davon auch eine kleine Flucht aus seinem gleichförmigen Leben erhofft. Wie Louise Welsh ihn in den Roman einführt, bei einem Treffen mit seinem Bruder während einer Vernissage, beim hastigen Sex im Büro mit der Frau eines Kollegen, beim Studium von Lunans kargem Nachlass, das lässt einen schon ahnen, dass ihm die ganze Sache womöglich über den Kopf wachsen könnte.
Aber nicht nur Watson, auch das übrige Personal des Romans gewinnt eine Anschaulichkeit und einen Reichtum an Facetten, die alle Charaktere weit übers Stereotyp hinausreichen lassen: die tristen Fachbereichskollegen, die Wirtin des Bed & Breakfast auf Lismore, bei der Watson Quartier bezieht, und natürlich die große Geheimnisvolle, Christie, Lunans ehemalige Freundin, die noch immer im einsamen Haus auf der Insel lebt, krank und erfolgreich als Autorin eher trivialer Gothic Novels; oder der aalglatte Literaturprofessor Fergus Baine, mit dessen Frau Watson eine Affäre hat (als einer unter vielen, wie er erfahren muss) und der Lunan in den wilden Bohemejahren besser kannte, als er zugeben mag.
Louise Welsh hat ein Talent, die Dinge in der Schwebe zu halten; das zwanghafte Aufklären aller dunklen Sachverhalte ist ihr fremd. Sie legt, wie schon in ihrem Roman "Dunkelkammer" (2004), verwirrende Spuren aus, und der Leser muss sie so geduldig entziffern wie der Protagonist. Wie Murray Watson vorgeht, erst in Edinburgh und Glasgow, dann auf Lismore, das ähnelt von ferne dem Procedere einer detektivischen Ermittlung. Doch Louise Welsh folgt diesem Muster nicht einfach, sie schlägt Seitenwege ein, sie spielt mit der üblichen Ermittlungslogik, weil ihr deren bloße Exekution ganz offensichtlich zu langweilig wäre.
Und sie kann, bissig und mit wenigen Strichen, ein Milieu so plastisch schildern, dass man es vor sich zu sehen glaubt. Man amüsiert sich über Schafe, die "aufgeschreckt und in blödsinniger Eile davon stürzten, wie fette Damen, die in High Heels einen Berg hinunterstöckelten"; in einem Café, "in dem es nach billigem Raumspray mit einem Hauch heißem Schweinefett und Sarson's-Essig roch", dreht sich einem nicht erst der Magen um, wenn der Kabeljau zu kalten Fritten serviert wird, wofür einen auch später die "Dosenpfirsiche mit Sprühsahne" nicht entschädigen können. Und Watson zweifelt zwischenzeitlich derart am Sinn seines Forschungsvorhabens, dass ihm beim Anblick eines kastrierten Katers durch den Kopf geht: "Sich von allen Begierden lösen, vielleicht war das der Weg zur Zufriedenheit."
Es ist übrigens auch ein smarter Schachzug, sich gar nicht erst daran zu versuchen, die Lyrik des toten Dichters nachzubuchstabieren. Drei, vier Verse, das ist alles, was Louise Welsh offeriert, weil die Imitation psychedelisch-rebellischer Siebziger-Jahre-Gedichte auch eine Autorin, die so sicher den Ton trifft, leicht hätte aus der Kurve tragen können. Dafür schafft es Louise Welsh, mit einer Handvoll Motive ganz leichthändig zu jonglieren, die andere Romane überfrachtet hätten. Um Väter und Söhne geht es so beiläufig wie um Drogen und Hippieträume der frühen siebziger Jahre; um den Kontrast zwischen dem Alltag des akademischen Betriebs und der ländlichen Welt auf Lismore.
Man möchte auf dieser gerade mal sechzehn Kilometer langen und zwei Kilometer breiten Insel nun nicht gerade Urlaub machen, obwohl die Autorin in ihrer Danksagung ein wenig Abbitte leistet, wenn sie schreibt, die Leute dort seien freundlicher als in ihrem Roman; aber karge Cottages, tückische Karsttrichter, mieses Wetter und sture Einheimische, gegen die nur eine ordentliche Ration (in Oban gebrannten) Malt Whiskys hilft, sind für ein Buch, das man jetzt in der Sonne liest, eine angenehme Erfrischung.
Louise Welsh bewegt sich in diesen verschiedenen Landschaften immer wie eine Einheimische. Sie weiß, wann sie das Erzähltempo erhöhen muss und wann ein retardierendes Element beginnt, der Spannung zu schaden - bis hin zum Finale auf Lismore, über das man schon deshalb nichts verraten sollte, weil es ebenso viele Fragen offenlässt wie beantwortet. "Was ist hier wirklich passiert?", fragt Dr. Watson gegen Ende einmal - und das ist nicht bloß rhetorisch gemeint.
Es ist daher auch völlig egal, in welches Regal man dieses Buch schließlich stellt - zu den Krimis, Thrillern oder einfach zur Belletristik. Das muss jeder selber wissen, der auf diese Taxonomien nicht verzichten kann. Hauptsache, der Roman findet die Leser, die er verdient.
PETER KÖRTE
Louise Welsh: "Das Alphabet der Knochen". Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Kunstmann-Verlag, München 2010, 432 Seiten, 22 Euro
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Wer sich im Urlaub nicht langweilen will, sollte Louise Welshs neuen Krimi lesen
Es ist immer ein Fehler, von einem Autorenfoto Rückschlüsse auf die Prosa zu ziehen; so wie es auch fast immer ein Fehler ist, einem Buch das Etikett "Kriminalroman" wie einen Freibankstempel aufzudrücken. Louise Welsh, 45, die als Antiquarin arbeitete, bevor sie zu schreiben begann, sieht so harmlos und bieder aus wie "unsere Lieblingskunstlehrerin" ("The Guardian") - und sie schreibt sehr düstere und vertrackte Romane, die mit Gothic Novel, Krimi- und Thrillergenre flirten, voller Gewalt, Sex und Sprachwitz, gekonnt gebaut, gut recherchiert und spannend sowieso.
"Das Alphabet der Knochen" (im Original "Naming the Bones") ist der vierte Roman der Engländerin, die in Glasgow lebt; es gibt ein Geheimnis, eine Spurensuche, die in die Vergangenheit führt, und eine Lösung, die in einen Abgrund blicken lässt - aber eben keine reine Genre-Erzählung, welche allein der Logik eines Plots folgte. Da sind ein toter Dichter und ein Literaturwissenschaftler, der über dessen Werk und Leben forscht und der schnell feststellen muss, dass es mit Werkphilologie so wenig getan ist wie mit schlichtem Biographismus. Und Louise Welsh weiß, wie man aus diesem nicht gerade aufregenden literaturwissenschaftlichen Methodenstreit Funken schlägt, ohne sich im Genre des Campus-Romans zu verlaufen.
Dr. Murray Watson lehrt Literatur in Glasgow, er hat sich freistellen lassen für seine Arbeit über Archie Lunan, er hat die dreißig überschritten und ein ziemlich überschaubares Privatleben. Watson ist nicht gerade ein strahlender Held, er ist fast schon ein Langweiler, ohne deshalb ein langweiliger Romancharakter zu sein. Denn Louise Welsh hat ihm in einigen Passagen inneren Monologs die nötige Portion Selbstironie mit auf den Weg gegeben. Er räsoniert nie so viel, dass er als Grübler erschiene, aber gerade genug, um sein Handeln nachvollziehbar zu machen, ohne es übermäßig zu psychologisieren.
Seit der Pubertät bewundert Watson die Lyrik Lunans, der nach einem kurzen, wilden Leben Anfang der siebziger Jahre nahe der Insel Lismore, vor der schottischen Westküste, ertrunken ist und nur einen schmalen Band mit Gedichten hinterlassen hat. Watson will den Verkannten rehabilitieren, er will mit Lunans alten Bekannten Interviews führen - ordentliche Forschung halt, aber es ist ziemlich klar, dass der leicht frustrierte Akademiker sich davon auch eine kleine Flucht aus seinem gleichförmigen Leben erhofft. Wie Louise Welsh ihn in den Roman einführt, bei einem Treffen mit seinem Bruder während einer Vernissage, beim hastigen Sex im Büro mit der Frau eines Kollegen, beim Studium von Lunans kargem Nachlass, das lässt einen schon ahnen, dass ihm die ganze Sache womöglich über den Kopf wachsen könnte.
Aber nicht nur Watson, auch das übrige Personal des Romans gewinnt eine Anschaulichkeit und einen Reichtum an Facetten, die alle Charaktere weit übers Stereotyp hinausreichen lassen: die tristen Fachbereichskollegen, die Wirtin des Bed & Breakfast auf Lismore, bei der Watson Quartier bezieht, und natürlich die große Geheimnisvolle, Christie, Lunans ehemalige Freundin, die noch immer im einsamen Haus auf der Insel lebt, krank und erfolgreich als Autorin eher trivialer Gothic Novels; oder der aalglatte Literaturprofessor Fergus Baine, mit dessen Frau Watson eine Affäre hat (als einer unter vielen, wie er erfahren muss) und der Lunan in den wilden Bohemejahren besser kannte, als er zugeben mag.
Louise Welsh hat ein Talent, die Dinge in der Schwebe zu halten; das zwanghafte Aufklären aller dunklen Sachverhalte ist ihr fremd. Sie legt, wie schon in ihrem Roman "Dunkelkammer" (2004), verwirrende Spuren aus, und der Leser muss sie so geduldig entziffern wie der Protagonist. Wie Murray Watson vorgeht, erst in Edinburgh und Glasgow, dann auf Lismore, das ähnelt von ferne dem Procedere einer detektivischen Ermittlung. Doch Louise Welsh folgt diesem Muster nicht einfach, sie schlägt Seitenwege ein, sie spielt mit der üblichen Ermittlungslogik, weil ihr deren bloße Exekution ganz offensichtlich zu langweilig wäre.
Und sie kann, bissig und mit wenigen Strichen, ein Milieu so plastisch schildern, dass man es vor sich zu sehen glaubt. Man amüsiert sich über Schafe, die "aufgeschreckt und in blödsinniger Eile davon stürzten, wie fette Damen, die in High Heels einen Berg hinunterstöckelten"; in einem Café, "in dem es nach billigem Raumspray mit einem Hauch heißem Schweinefett und Sarson's-Essig roch", dreht sich einem nicht erst der Magen um, wenn der Kabeljau zu kalten Fritten serviert wird, wofür einen auch später die "Dosenpfirsiche mit Sprühsahne" nicht entschädigen können. Und Watson zweifelt zwischenzeitlich derart am Sinn seines Forschungsvorhabens, dass ihm beim Anblick eines kastrierten Katers durch den Kopf geht: "Sich von allen Begierden lösen, vielleicht war das der Weg zur Zufriedenheit."
Es ist übrigens auch ein smarter Schachzug, sich gar nicht erst daran zu versuchen, die Lyrik des toten Dichters nachzubuchstabieren. Drei, vier Verse, das ist alles, was Louise Welsh offeriert, weil die Imitation psychedelisch-rebellischer Siebziger-Jahre-Gedichte auch eine Autorin, die so sicher den Ton trifft, leicht hätte aus der Kurve tragen können. Dafür schafft es Louise Welsh, mit einer Handvoll Motive ganz leichthändig zu jonglieren, die andere Romane überfrachtet hätten. Um Väter und Söhne geht es so beiläufig wie um Drogen und Hippieträume der frühen siebziger Jahre; um den Kontrast zwischen dem Alltag des akademischen Betriebs und der ländlichen Welt auf Lismore.
Man möchte auf dieser gerade mal sechzehn Kilometer langen und zwei Kilometer breiten Insel nun nicht gerade Urlaub machen, obwohl die Autorin in ihrer Danksagung ein wenig Abbitte leistet, wenn sie schreibt, die Leute dort seien freundlicher als in ihrem Roman; aber karge Cottages, tückische Karsttrichter, mieses Wetter und sture Einheimische, gegen die nur eine ordentliche Ration (in Oban gebrannten) Malt Whiskys hilft, sind für ein Buch, das man jetzt in der Sonne liest, eine angenehme Erfrischung.
Louise Welsh bewegt sich in diesen verschiedenen Landschaften immer wie eine Einheimische. Sie weiß, wann sie das Erzähltempo erhöhen muss und wann ein retardierendes Element beginnt, der Spannung zu schaden - bis hin zum Finale auf Lismore, über das man schon deshalb nichts verraten sollte, weil es ebenso viele Fragen offenlässt wie beantwortet. "Was ist hier wirklich passiert?", fragt Dr. Watson gegen Ende einmal - und das ist nicht bloß rhetorisch gemeint.
Es ist daher auch völlig egal, in welches Regal man dieses Buch schließlich stellt - zu den Krimis, Thrillern oder einfach zur Belletristik. Das muss jeder selber wissen, der auf diese Taxonomien nicht verzichten kann. Hauptsache, der Roman findet die Leser, die er verdient.
PETER KÖRTE
Louise Welsh: "Das Alphabet der Knochen". Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Kunstmann-Verlag, München 2010, 432 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main