Benjamin Stein berichtet in seinem gelungenen Erstlingswerk von Männern und Frauen, die durch Vorsehung miteinander verstrickt, auf unterschiedlichen Wegen ihr Glück zu finden hoffen. Immer ist Liebe im Spiel, der Wunsch nach Erleuchtung, doch zur Erfüllung kommt es kaum. Eine wunderbar erzählte Geschichte aus dem heutigen Berlin und dem alt-neuen Prag.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.1995Der Golem schmatzt
Benjamin Stein buchstabiert "Das Alphabet des Juda Liva"
Die schöne Legende vom Prager Rabbi Juda Löw ben Belzalel, der im sechzehnten Jahrhundert ein künstliches Wesen, den Golem, schuf, es mit dem Namen Gottes belebte und dadurch einen übermenschlich starken, aber auch gefährlichen Diener gewann, hat in dem vorliegenden Buch einen enttäuschenden Ausleger oder Neuerzähler gefunden. Sie ist eingebettet in ein willkürliches Wirrwarr von Wiederauferstehungen, Seelenwanderungen, erfüllten Prophezeiungen, Bekehrungen durch Wunder und dergleichen. Mythologie mischt sich mit sentimentalen Liebeshandlungen, eingebettet in ein modernes Großstadtmilieu. Erzählt wird in einem schnodderigen Ton, der den Kontrast zum Wunderbaren erbringen soll, es aber nur trivialisiert. Der Patenonkel dieser Phantasien ist gewiß E.T.A. Hoffmann, der ja auch das Übernatürliche in eine vertraute Bürgerlichkeit einbrechen ließ. Doch die Erzählkunst der Romantik läßt sich nicht so leicht neu beleben.
Rottenstein, der Held, hat mit einem leichtfertigen Eid den Rabbi Löw samt seinem sagenumwitterten Roboter heraufbeschworen und muß nun orthodoxer Jude werden. Der Golem entpuppt sich als ein niedlicher Junge, des Wunderrabbis Sohn und Bote, der ein auffälliges Stirnband trägt, an dem er sich oft kratzt, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die dahinter verborgenen heiligen Buchstaben zu lenken. Zum ungefährlichen Kind reduziert, verliert diese Gestalt ihre Problematik und damit ihre Funktion. Stilprobe: "Der Bengel schmatzte. Er hatte sich den Daumen in den Mund gesteckt und lutschte selig. Ein Bild für die Götter, dachte Rottenstein und schmunzelte, während er hinter dem Fernseher nach der Cognacflasche angelte . . . Er verstaute die Flasche wieder im Versteck und wetterte: Bubenschmonzes! Wär doch gelacht. Er hätte schon anderes durchgestanden." Der angestrebte Humor versickert ziellos.
Statt die Dialoge mit dem üblichen schlichten "er / sie sagte" zu versehen, stattet der Verfasser sie mit Anweisungen zu ihrem Verständnis aus: Er brummte, süßelte, nuschelte, donnerte, sogar er zynelte. Solch eine bemühte Wortklauberei wirkt irritierend, da sie uns eine Deutung des Gesprochenen, ohne Rücksicht auf unser eigenes Leserurteil, aufzwingt. Weitere Irritationen sind holprige Weisheitsbrocken wie: "Und Beschämung gehört zu den Dingen, die eine Frau selbst Liebe vergessen lassen" oder, über die Bedeutung von Fiktion und Wirklichkeit: "Was ist ein Weltuntergang? Eine nicht zu Ende erzählte Geschichte." (Mit derselben sinnig-unsinnigen Logik könnte man aber auch das Umgekehrte behaupten, nämlich der Weltuntergang sei eine zu Ende erzählte Geschichte.)
Die Begebenheiten tragen sich in einem genau beschriebenen Prag und Budapest zu und werden im heutigen Berlin von einem versoffenen Verrückten in wöchentlichen Fortsetzungen einem jungen Ehepaar aufgetischt, das mit einer Begeisterung zuhört, die ihrerseits für den wirklichen Leser auf ein unfreiwillig komisches Selbstlob des Autors hinausläuft. Die Rottenstein-Handlung ist eine von mehreren, die verschachtelt ineinandergreifen und sich durch ein paar Generationen ziehen. Die Figuren, die praktisch keine Charakterunterschiede aufweisen, sind leicht zu verwechseln. Alle reden im gleichen Tonfall und lassen sich kein Klischee entgehen. Alle Frauen sehnen sich nach der ersten großen Liebe, die zu einer Serie von unehelichen Töchtern führt, während die Männer saufen, Gott suchen und Unvorhergesehenes erleben. Die Frauen sind übrigens mehrfach Engel, nicht im metaphorischen, sondern im eigentlichen Sinne. (Oder handelt es sich doch nur um das Ewigweibliche, das uns wieder einmal hinanzieht?) So wird es uns immer unwichtiger, wer gerade in die Lüfte entschwebt, an Amnesie leidet ("Wie in einem schlechten Science-Fiction-Film erkundigte er sich nach dem Datum") oder sich die eigene Zunge aus dem Mund schneidet (auch das, sogar zweimal).
Zwar ist es zu begrüßen, daß es wieder, oder noch immer, deutsche Romane gibt, die jüdische Traditionen als Hintergrund verarbeiten. Jiddische Brocken und viele Anspielungen auf jüdisches Brauchtum sind eingestreut, ergänzt durch eine Seite ernsthafter Worterklärungen am Ende. Doch hier hat sich ein sehr junger Autor - Jahrgang 1970 - verleiten lassen, seine Einfälle zu verschleudern, bevor einige davon zu Ideen reifen konnten. Denn Einfälle, ein ganzer Zettelkasten voller Einfälle, das ergibt noch kein Buch. RUTH KLÜGER
Benjamin Stein: "Das Alphabet des Juda Liva".Ammann Verlag, Zürich 1995. 328 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Benjamin Stein buchstabiert "Das Alphabet des Juda Liva"
Die schöne Legende vom Prager Rabbi Juda Löw ben Belzalel, der im sechzehnten Jahrhundert ein künstliches Wesen, den Golem, schuf, es mit dem Namen Gottes belebte und dadurch einen übermenschlich starken, aber auch gefährlichen Diener gewann, hat in dem vorliegenden Buch einen enttäuschenden Ausleger oder Neuerzähler gefunden. Sie ist eingebettet in ein willkürliches Wirrwarr von Wiederauferstehungen, Seelenwanderungen, erfüllten Prophezeiungen, Bekehrungen durch Wunder und dergleichen. Mythologie mischt sich mit sentimentalen Liebeshandlungen, eingebettet in ein modernes Großstadtmilieu. Erzählt wird in einem schnodderigen Ton, der den Kontrast zum Wunderbaren erbringen soll, es aber nur trivialisiert. Der Patenonkel dieser Phantasien ist gewiß E.T.A. Hoffmann, der ja auch das Übernatürliche in eine vertraute Bürgerlichkeit einbrechen ließ. Doch die Erzählkunst der Romantik läßt sich nicht so leicht neu beleben.
Rottenstein, der Held, hat mit einem leichtfertigen Eid den Rabbi Löw samt seinem sagenumwitterten Roboter heraufbeschworen und muß nun orthodoxer Jude werden. Der Golem entpuppt sich als ein niedlicher Junge, des Wunderrabbis Sohn und Bote, der ein auffälliges Stirnband trägt, an dem er sich oft kratzt, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die dahinter verborgenen heiligen Buchstaben zu lenken. Zum ungefährlichen Kind reduziert, verliert diese Gestalt ihre Problematik und damit ihre Funktion. Stilprobe: "Der Bengel schmatzte. Er hatte sich den Daumen in den Mund gesteckt und lutschte selig. Ein Bild für die Götter, dachte Rottenstein und schmunzelte, während er hinter dem Fernseher nach der Cognacflasche angelte . . . Er verstaute die Flasche wieder im Versteck und wetterte: Bubenschmonzes! Wär doch gelacht. Er hätte schon anderes durchgestanden." Der angestrebte Humor versickert ziellos.
Statt die Dialoge mit dem üblichen schlichten "er / sie sagte" zu versehen, stattet der Verfasser sie mit Anweisungen zu ihrem Verständnis aus: Er brummte, süßelte, nuschelte, donnerte, sogar er zynelte. Solch eine bemühte Wortklauberei wirkt irritierend, da sie uns eine Deutung des Gesprochenen, ohne Rücksicht auf unser eigenes Leserurteil, aufzwingt. Weitere Irritationen sind holprige Weisheitsbrocken wie: "Und Beschämung gehört zu den Dingen, die eine Frau selbst Liebe vergessen lassen" oder, über die Bedeutung von Fiktion und Wirklichkeit: "Was ist ein Weltuntergang? Eine nicht zu Ende erzählte Geschichte." (Mit derselben sinnig-unsinnigen Logik könnte man aber auch das Umgekehrte behaupten, nämlich der Weltuntergang sei eine zu Ende erzählte Geschichte.)
Die Begebenheiten tragen sich in einem genau beschriebenen Prag und Budapest zu und werden im heutigen Berlin von einem versoffenen Verrückten in wöchentlichen Fortsetzungen einem jungen Ehepaar aufgetischt, das mit einer Begeisterung zuhört, die ihrerseits für den wirklichen Leser auf ein unfreiwillig komisches Selbstlob des Autors hinausläuft. Die Rottenstein-Handlung ist eine von mehreren, die verschachtelt ineinandergreifen und sich durch ein paar Generationen ziehen. Die Figuren, die praktisch keine Charakterunterschiede aufweisen, sind leicht zu verwechseln. Alle reden im gleichen Tonfall und lassen sich kein Klischee entgehen. Alle Frauen sehnen sich nach der ersten großen Liebe, die zu einer Serie von unehelichen Töchtern führt, während die Männer saufen, Gott suchen und Unvorhergesehenes erleben. Die Frauen sind übrigens mehrfach Engel, nicht im metaphorischen, sondern im eigentlichen Sinne. (Oder handelt es sich doch nur um das Ewigweibliche, das uns wieder einmal hinanzieht?) So wird es uns immer unwichtiger, wer gerade in die Lüfte entschwebt, an Amnesie leidet ("Wie in einem schlechten Science-Fiction-Film erkundigte er sich nach dem Datum") oder sich die eigene Zunge aus dem Mund schneidet (auch das, sogar zweimal).
Zwar ist es zu begrüßen, daß es wieder, oder noch immer, deutsche Romane gibt, die jüdische Traditionen als Hintergrund verarbeiten. Jiddische Brocken und viele Anspielungen auf jüdisches Brauchtum sind eingestreut, ergänzt durch eine Seite ernsthafter Worterklärungen am Ende. Doch hier hat sich ein sehr junger Autor - Jahrgang 1970 - verleiten lassen, seine Einfälle zu verschleudern, bevor einige davon zu Ideen reifen konnten. Denn Einfälle, ein ganzer Zettelkasten voller Einfälle, das ergibt noch kein Buch. RUTH KLÜGER
Benjamin Stein: "Das Alphabet des Juda Liva".Ammann Verlag, Zürich 1995. 328 S., geb., 38,- DM.
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