Die alphabetische Organisation des Buchs gibt manche Gelegenheit zu unerwarteten Abschweifungen und Einlassungen. Doch jede dieser Digressionen, aus denen sich dieses "Alphabet" zusammensetzt, bietet eine Fülle von Funden, Einsichten, Querverbindungen und nicht zuletzt von Quellen der Rechtsgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2005A, B, C - so viel Nacktheit tut weh
Das Recht hat ja keine Kleider an! ruft dieses Buch. "Das Recht ist nackt", schreibt Rainer Maria Kiesow ("Das Alphabet des Rechts". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004. 320 S., br., 16,90 [Euro]). Alle Versuche, es in Worte oder gar in ein System zu fassen, sind gescheitert und werden scheitern. Man fragt sich freilich, warum der Verfasser für die Verkündigung dieser Wahrheit, die jedem Juristen, Politiker und allen unterlegenen Prozeßparteien geläufig ist, dreihundertzwanzig Druckseiten benötigt. Antwort: Weil die Leute vor etwa dreihundert Jahren tatsächlich geglaubt haben, man könne das Recht enzyklopädisch zusammenfassen. Geschichte also.
Aber die Geschichte reicht bis in die Gegenwart. Noch leben entfernte Nachfahren der Enzyklopädien: Wörterbücher, Handbücher, Lehrbücher und Lexika. Wenn diese Werke auch eigentlich nicht Recht bieten, sondern Handwerkszeug, allenfalls einen ersten Zugang zum Recht, so besteht doch eine gewisse Verwechslungsgefahr. Deshalb ist klar zu unterscheiden. Die Enzyklopädien wandten sich an die Wissenschaft. Sie wollten das gesamte Recht wahrhaftig darstellen. Moderne Wörterbücher dienen nur der ersten Information. Sie sind Gedächtnisstützen.
Der ganzheitliche Anspruch bietet jedoch keine Gliederungsgesichtspunkte. Deshalb zwingt er die Enzyklopädien, den Stoff nach einem evident rechtsfremden System zu gliedern, nach dem Alphabet. "Die Alphabete", schreibt Kiesow in seinem "Alphabet des Rechts", "sind unersättlich. Sie scheinen zwar einen Anfang und ein Ende zu besitzen, doch sind A und Z lediglich äußere Begrenzungen, die gerade keinen Anfang und kein Ende bezeichnen. Nicht nur ist zwischen A und Z unendlich viel Platz, die Anordnung, die Abfolge der Buchstaben, die alphabetische Ordnung selbst ist willkürlich. Nach Z kommt A. Immer wieder kann man von vorne, von neuem beginnen." Das ist eine wichtige, möglicherweise folgenschwere Einsicht.
Freilich meint Kiesow, damit sei das Gliederungsproblem erledigt. Das ist nicht der Fall. Besonders nahe liegt eine chronologische Gliederung. Sie ist zwar auch rechtsfremd, ermöglicht aber eine leidliche Orientierung, wie viele Entscheidungssammlungen und Fachzeitschriften belegen, und liefert sogar sachhaltige Argumente, weil jüngeres dem älteren Recht vorgeht. Kiesow erörtert die Möglichkeit einer Chronologie nicht, wenn man nicht seine Bemerkung, Entscheidungssammlungen seien alphabetisiert, als Erörterung gelten läßt. Ihm kommt es offenbar darauf an, den Gedanken einer systematischen Ordnung des Rechts schlechthin zu destruieren. Jedenfalls gliedert er seinen eigenen Text nach dem Schema, das er selbst in Grund und Boden kritisiert hat: nach dem Alphabet von A wie "Anbruch" bis Z wie "Zeitnot". Das ist weniger ein Spiel mit der Not der Gliederung und mehr eine Spekulation auf intellektuelle Überraschungseier. "Das alphabetische Arrangement", heißt es im Klappentext, "gibt dabei manche Gelegenheit zu unerwarteten Abschweifungen und Einlassungen. Doch jede dieser Digressionen, aus denen sich dieses Alphabet des Rechts zusammensetzt, bietet eine Fülle von Funden, Einsichten, Querverbindungen und nicht zuletzt von Quellen der Rechtsgeschichte."
Der Rezensent hält den Einfall, den eigenen Text alphabetisch zu gliedern, nicht für glücklich. Gewiß, wenn alle Gliederungsgesichtspunkte "rechtswidrig" sind, macht das Alphabet die Falschheit wenigstens offensichtlich. Aber bei einer chronologischen Gliederung wäre nicht nur die Entwicklung der Enzyklopädisierung schärfer hervorgetreten, der Verfasser hätte auch Wiederholungen und Ungereimtheiten vermeiden können. Zum Beispiel, wenn "Recht immer Richterrecht" ist, muß man dann noch darüber reden, daß Gesetzessammlungen nicht das Recht sammeln?
Allerdings bereitet die Lektüre Vergnügen. Anregend ist Kiesows "Alphabet des Rechts" auch. Der Rezensent hätte sich nicht getraut, "Schmerz" am Beispiel einer lästigen Rezensionsverpflichtung darzustellen. Aber wenn es nicht gelingt, die Verpflichtung zu verdrängen, quält sie tatsächlich. Die Beobachtung, daß man in der neuen französischen Nationalbibliothek fast keine Bücher mehr sieht, rückt das Verhältnis von Lesen und Denken tatsächlich in ein neues Licht. Zum Schluß wird sogar eine Entwicklung sichtbar. Waren es zunächst die Grenzen jedes Buches, die eine "Summe des Rechtes" ausschlossen, so beginnen später die Buchstaben gegen eine Darstellung anzutanzen.
Bleiben wir bei der Grundthese des Buches. Daß Recht nicht darstellbar ist, ist richtig, schon weil Sprache mit dem, was sie meint, nicht identisch ist. Aber Kiesow sieht nicht, daß man Gleiches von allen gesellschaftlichen Subsystemen sagen kann, besonders von der Wissenschaft. Bei der Wissenschaft ist die Unmöglichkeit, die Wahrheit darzustellen, sogar beängstigender als beim Recht, weil wissenschaftliche Erkenntnis sicher übertragbar sein soll. Aus diesem Grund hat die Gesellschaft nach Luhmann unterhalb der Wahrheit, aber parallel zu ihr, eine Zweitwährung entwickelt, die Reputation, das wissenschaftliche Ansehen, in dem Wahrheit, wenn auch stark gebrochen, sich widerspiegelt und greifbar wird. Für das Recht könnte man sagen, korrekte und faire Verfahren sind ein kontrollierbarer Ersatz für Gerechtigkeit. Das heißt, Realität ist auch die Vermittlung von Begriff und Wirklichkeit. Darüber schreibt Kiesow nichts. Ihm genügt nicht einmal, daß Recht funktioniert. Er will das "Ganze des Rechts".
GERD ROELLECKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Recht hat ja keine Kleider an! ruft dieses Buch. "Das Recht ist nackt", schreibt Rainer Maria Kiesow ("Das Alphabet des Rechts". Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004. 320 S., br., 16,90 [Euro]). Alle Versuche, es in Worte oder gar in ein System zu fassen, sind gescheitert und werden scheitern. Man fragt sich freilich, warum der Verfasser für die Verkündigung dieser Wahrheit, die jedem Juristen, Politiker und allen unterlegenen Prozeßparteien geläufig ist, dreihundertzwanzig Druckseiten benötigt. Antwort: Weil die Leute vor etwa dreihundert Jahren tatsächlich geglaubt haben, man könne das Recht enzyklopädisch zusammenfassen. Geschichte also.
Aber die Geschichte reicht bis in die Gegenwart. Noch leben entfernte Nachfahren der Enzyklopädien: Wörterbücher, Handbücher, Lehrbücher und Lexika. Wenn diese Werke auch eigentlich nicht Recht bieten, sondern Handwerkszeug, allenfalls einen ersten Zugang zum Recht, so besteht doch eine gewisse Verwechslungsgefahr. Deshalb ist klar zu unterscheiden. Die Enzyklopädien wandten sich an die Wissenschaft. Sie wollten das gesamte Recht wahrhaftig darstellen. Moderne Wörterbücher dienen nur der ersten Information. Sie sind Gedächtnisstützen.
Der ganzheitliche Anspruch bietet jedoch keine Gliederungsgesichtspunkte. Deshalb zwingt er die Enzyklopädien, den Stoff nach einem evident rechtsfremden System zu gliedern, nach dem Alphabet. "Die Alphabete", schreibt Kiesow in seinem "Alphabet des Rechts", "sind unersättlich. Sie scheinen zwar einen Anfang und ein Ende zu besitzen, doch sind A und Z lediglich äußere Begrenzungen, die gerade keinen Anfang und kein Ende bezeichnen. Nicht nur ist zwischen A und Z unendlich viel Platz, die Anordnung, die Abfolge der Buchstaben, die alphabetische Ordnung selbst ist willkürlich. Nach Z kommt A. Immer wieder kann man von vorne, von neuem beginnen." Das ist eine wichtige, möglicherweise folgenschwere Einsicht.
Freilich meint Kiesow, damit sei das Gliederungsproblem erledigt. Das ist nicht der Fall. Besonders nahe liegt eine chronologische Gliederung. Sie ist zwar auch rechtsfremd, ermöglicht aber eine leidliche Orientierung, wie viele Entscheidungssammlungen und Fachzeitschriften belegen, und liefert sogar sachhaltige Argumente, weil jüngeres dem älteren Recht vorgeht. Kiesow erörtert die Möglichkeit einer Chronologie nicht, wenn man nicht seine Bemerkung, Entscheidungssammlungen seien alphabetisiert, als Erörterung gelten läßt. Ihm kommt es offenbar darauf an, den Gedanken einer systematischen Ordnung des Rechts schlechthin zu destruieren. Jedenfalls gliedert er seinen eigenen Text nach dem Schema, das er selbst in Grund und Boden kritisiert hat: nach dem Alphabet von A wie "Anbruch" bis Z wie "Zeitnot". Das ist weniger ein Spiel mit der Not der Gliederung und mehr eine Spekulation auf intellektuelle Überraschungseier. "Das alphabetische Arrangement", heißt es im Klappentext, "gibt dabei manche Gelegenheit zu unerwarteten Abschweifungen und Einlassungen. Doch jede dieser Digressionen, aus denen sich dieses Alphabet des Rechts zusammensetzt, bietet eine Fülle von Funden, Einsichten, Querverbindungen und nicht zuletzt von Quellen der Rechtsgeschichte."
Der Rezensent hält den Einfall, den eigenen Text alphabetisch zu gliedern, nicht für glücklich. Gewiß, wenn alle Gliederungsgesichtspunkte "rechtswidrig" sind, macht das Alphabet die Falschheit wenigstens offensichtlich. Aber bei einer chronologischen Gliederung wäre nicht nur die Entwicklung der Enzyklopädisierung schärfer hervorgetreten, der Verfasser hätte auch Wiederholungen und Ungereimtheiten vermeiden können. Zum Beispiel, wenn "Recht immer Richterrecht" ist, muß man dann noch darüber reden, daß Gesetzessammlungen nicht das Recht sammeln?
Allerdings bereitet die Lektüre Vergnügen. Anregend ist Kiesows "Alphabet des Rechts" auch. Der Rezensent hätte sich nicht getraut, "Schmerz" am Beispiel einer lästigen Rezensionsverpflichtung darzustellen. Aber wenn es nicht gelingt, die Verpflichtung zu verdrängen, quält sie tatsächlich. Die Beobachtung, daß man in der neuen französischen Nationalbibliothek fast keine Bücher mehr sieht, rückt das Verhältnis von Lesen und Denken tatsächlich in ein neues Licht. Zum Schluß wird sogar eine Entwicklung sichtbar. Waren es zunächst die Grenzen jedes Buches, die eine "Summe des Rechtes" ausschlossen, so beginnen später die Buchstaben gegen eine Darstellung anzutanzen.
Bleiben wir bei der Grundthese des Buches. Daß Recht nicht darstellbar ist, ist richtig, schon weil Sprache mit dem, was sie meint, nicht identisch ist. Aber Kiesow sieht nicht, daß man Gleiches von allen gesellschaftlichen Subsystemen sagen kann, besonders von der Wissenschaft. Bei der Wissenschaft ist die Unmöglichkeit, die Wahrheit darzustellen, sogar beängstigender als beim Recht, weil wissenschaftliche Erkenntnis sicher übertragbar sein soll. Aus diesem Grund hat die Gesellschaft nach Luhmann unterhalb der Wahrheit, aber parallel zu ihr, eine Zweitwährung entwickelt, die Reputation, das wissenschaftliche Ansehen, in dem Wahrheit, wenn auch stark gebrochen, sich widerspiegelt und greifbar wird. Für das Recht könnte man sagen, korrekte und faire Verfahren sind ein kontrollierbarer Ersatz für Gerechtigkeit. Das heißt, Realität ist auch die Vermittlung von Begriff und Wirklichkeit. Darüber schreibt Kiesow nichts. Ihm genügt nicht einmal, daß Recht funktioniert. Er will das "Ganze des Rechts".
GERD ROELLECKE
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Dem Band liegt eine Habilitationsschrift zugrunde - und das merke man weiß Gott nicht. Das ist wohl als Kompliment von Seiten des Rezensenten Uwe Justus Wenzel gemeint, der dennoch nicht ganz und gar glücklich scheint mit diesem Werk, dessen Titel sehr wörtlich zu nehmen ist. Alphabetisch aufgereiht nämlich werden die Stichworte zu Geschichte, Systematik und Gegenwart des Rechts, von "Anbruch" bis "Zeitnot". Wiederholt stellt der Rezensent fest, dass Wiederholungen nicht ausbleiben, wohl auch nicht ausbleiben können. Etwa das Diderot-Zitat, das die in naher Zukunft bevorstehende Unübersichtlichkeit des in Bibliotheken gesammelten Wissens prognostiziert. Am nächsten kommt Wenzel einem Urteil über den Band, wenn er den Autor als "literarisch wie historiographisch nicht minder bewandert als ambitioniert" lobt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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