Ein deutscher Familien-Roman der jungen Autorin Nina Sahm von großer Eindringlichkeit über das Thema Heimat und Identität
Eines Tages steht er vor Ellas Tür: Frieder, ein völlig Fremder, der sie jedoch vom ersten Augenblick an fasziniert - nicht nur weil er ein Foto ihrer Mutter Rike bei sich hat. Wer aber ist er? Ella kann sich nicht an ihn erinnern, lauscht jedoch wie gebannt seinen Geschichten: von seinem Vater Viktor, den er kaum kennt, von dessen Faszination für die Zucht einer ganz besonderen Zwiebel, die man essen kann wie einen Apfel. Von der Trennung seiner Eltern kurz nach seiner Geburt. Und von jenem kleinen Dorf am Bodensee, das er und seine Mutter auf der Suche nach einem neuen Zuhause bald hinter sich ließen.
Ella gerät immer mehr in den Sog von Frieders spannender Familiengeschichte die von der Suche nach Identität und den eigenen Wurzeln erzählt - etwas, was sie nie gekannt hat. Allmählich wird ihr bewusst, was Frieders Geschichte mit ihrer eigenen zu tun hat ...
Eines Tages steht er vor Ellas Tür: Frieder, ein völlig Fremder, der sie jedoch vom ersten Augenblick an fasziniert - nicht nur weil er ein Foto ihrer Mutter Rike bei sich hat. Wer aber ist er? Ella kann sich nicht an ihn erinnern, lauscht jedoch wie gebannt seinen Geschichten: von seinem Vater Viktor, den er kaum kennt, von dessen Faszination für die Zucht einer ganz besonderen Zwiebel, die man essen kann wie einen Apfel. Von der Trennung seiner Eltern kurz nach seiner Geburt. Und von jenem kleinen Dorf am Bodensee, das er und seine Mutter auf der Suche nach einem neuen Zuhause bald hinter sich ließen.
Ella gerät immer mehr in den Sog von Frieders spannender Familiengeschichte die von der Suche nach Identität und den eigenen Wurzeln erzählt - etwas, was sie nie gekannt hat. Allmählich wird ihr bewusst, was Frieders Geschichte mit ihrer eigenen zu tun hat ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2017ENDLICH ZEIT FÜR ...
Vielschichtig
Nina Sahms Zwiebelroman „Das Alphabet meiner Familie“
Gemüse in der Literatur? Ein weites Feld. Johann Wolfgang von Goethe, Sigmund Freud, Heinz Strunk und viele andere hatten ihre Nasen an der Erde und ihre Finger im Spiel, letzterer zumindest humoristisch („Fleisch ist mein Gemüse“). Die vielleicht saftigste Hymne auf eine Rübe hat indes der Amerikaner Tom Robbins geschrieben, seines Zeichens Meister der Metapher und weiser Clown im Lebenszirkus. „Die Rote Beete ist das intensivste aller Gemüse“, behauptet er in seinem Roman „Pan Aroma“ aus dem Jahr 1984. „Zugegeben, der Rettich ist aufregender, aber das Feuer des Rettich ist ein kaltes Feuer, ist das Feuer der Unzufriedenheit, nicht das der Leidenschaft. Tomaten sind immerhin lebhaft frisch, aber Tomaten werden durchzogen von einem Hauch Frivolität. Rote Beten sind todernst.“
Ernst meint es auch die Münchner Schriftstellerin Nina Sahm, wenn sie in ihrem dritten, in diesem Herbst erschienenen Roman „Das Alphabet meiner Familie“ (Droemer) eine Speisezwiebel unter die Lupe der belletristischen Betrachtung rollt. Nicht irgendeine Zwiebel freilich, sondern die Höri-Bülle. Um diese „Zwiebeldiva“ herum, die man, so heißt es, essen kann wie einen Apfel, hat Sahm eine vielschichtige Familiengeschichte erfunden. Eine, die auf der Bodenseehalbinsel Höri wurzelt, wo sich der Zwiebelzüchter Viktor mit Herzblut jener Bülle widmet, wie er die Pflanzen im alemannischen Dialekt bevorzugt nennt. „Sie ist eine Delikatesse. Eine Seltenheit. Sie ist alles, was hier auf der Halbinsel Höri haben.“ Erzählt wird diese Geschichte über Herkunft, Zusammenhalt und Identität von Frieder, dem Sohn von Viktor und seiner Frau, deren Ehe kurz nach seiner Geburt scheiterte.
Weil aber Nina Sahm ihren Roman wie eine Zwiebel konstruiert hat, ist das nur die eine Ebene. Eingebettet sind Frieders Rückblenden in einen Handlungsstrang im Hier und Jetzt, der in München spielt – in Isarnähe wohlgemerkt, konkret wird das hübsche und real existierende Café „Henry hat Hunger“ in der Au genannt. Der Roman beginnt, als Frieder eines Tages vor der Tür von Ella steht, der zweiten Protagonistin. Er konfrontiert die 34-Jährige mit einem Foto, das ihre Mutter in jungen Jahren zeigt. Frieder, den die ebenso überrumpelte wie faszinierte Frau fortan Dostojewski nennt, gelingt es, sich peu à peu in den Alltag der frisch getrennten Ella zu schleichen, ins Herz ihres Hundes, ein bisschen auch in ihr Herz – ohne sich zu erklären, woher er das Foto hat. Lieber holt Frieder weiter aus, rollt alles auf, Zwiebelschicht um Zwiebelschicht. Bis Ella irgendwann erkennt, was seine Geschichte mit ihrer eigenen zu tun hat.
Eine Fotografie spielte bereits in Nina Sahms Debüt „Das letzte Polaroid“ (2014) eine Rolle, die Themen Sozialisation und Zu-sich-Finden ziehen sich ebenfalls durch die Texte der 1980 in Heilbronn geborenen Autorin. Auch in ihrem zweiten Roman „Das ganze Leben da draußen“ (2016) sind es zwei Außenseiter, deren Gefühlswelt sie mit großer Empathie erforscht.
Hier nun wiederum lässt Sahm ihre Figuren das Alphabet ihrer Angehörigen erforschen. Leicht, spielerisch, raffiniert. „Früher dachte ich immer, ich müsste die ganze Geschichte meiner Familie von A bis Z rekonstruieren können, um glücklich zu sein“, sagt Ella an einer Stelle. Ella ist wie Frieder vaterlos aufgewachsen, und je mehr Details sie von dem Fremden aus dessen „unbedeutenden Aufzeichnungen eines einfachen Mannes“ erfährt, desto mehr rückt auch ihre Vergangenheit wieder in den Fokus. Nina Sahm erzählt klar und klug und ohne Schnörkel, mit reifer Lockerheit und Witz. „Was soll denn das Gerede von Wurzeln?“, wird Rike, Ellas Mutter, später einmal zitiert, und weiter: „Bist du ein Baum oder was?“
Und überhaupt: Vielleicht verhält es sich ja mit dem Roman ohnehin wie mit der Höri-Bülle: „Du kannst diese Zwiebel wie einen Apfel essen. Aber du kannst den Geschmack nicht in Worte fassen. Niemand sollte sich eine Bodenseezwiebel beschreiben lassen.“
BERNHARD BLÖCHL
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Vielschichtig
Nina Sahms Zwiebelroman „Das Alphabet meiner Familie“
Gemüse in der Literatur? Ein weites Feld. Johann Wolfgang von Goethe, Sigmund Freud, Heinz Strunk und viele andere hatten ihre Nasen an der Erde und ihre Finger im Spiel, letzterer zumindest humoristisch („Fleisch ist mein Gemüse“). Die vielleicht saftigste Hymne auf eine Rübe hat indes der Amerikaner Tom Robbins geschrieben, seines Zeichens Meister der Metapher und weiser Clown im Lebenszirkus. „Die Rote Beete ist das intensivste aller Gemüse“, behauptet er in seinem Roman „Pan Aroma“ aus dem Jahr 1984. „Zugegeben, der Rettich ist aufregender, aber das Feuer des Rettich ist ein kaltes Feuer, ist das Feuer der Unzufriedenheit, nicht das der Leidenschaft. Tomaten sind immerhin lebhaft frisch, aber Tomaten werden durchzogen von einem Hauch Frivolität. Rote Beten sind todernst.“
Ernst meint es auch die Münchner Schriftstellerin Nina Sahm, wenn sie in ihrem dritten, in diesem Herbst erschienenen Roman „Das Alphabet meiner Familie“ (Droemer) eine Speisezwiebel unter die Lupe der belletristischen Betrachtung rollt. Nicht irgendeine Zwiebel freilich, sondern die Höri-Bülle. Um diese „Zwiebeldiva“ herum, die man, so heißt es, essen kann wie einen Apfel, hat Sahm eine vielschichtige Familiengeschichte erfunden. Eine, die auf der Bodenseehalbinsel Höri wurzelt, wo sich der Zwiebelzüchter Viktor mit Herzblut jener Bülle widmet, wie er die Pflanzen im alemannischen Dialekt bevorzugt nennt. „Sie ist eine Delikatesse. Eine Seltenheit. Sie ist alles, was hier auf der Halbinsel Höri haben.“ Erzählt wird diese Geschichte über Herkunft, Zusammenhalt und Identität von Frieder, dem Sohn von Viktor und seiner Frau, deren Ehe kurz nach seiner Geburt scheiterte.
Weil aber Nina Sahm ihren Roman wie eine Zwiebel konstruiert hat, ist das nur die eine Ebene. Eingebettet sind Frieders Rückblenden in einen Handlungsstrang im Hier und Jetzt, der in München spielt – in Isarnähe wohlgemerkt, konkret wird das hübsche und real existierende Café „Henry hat Hunger“ in der Au genannt. Der Roman beginnt, als Frieder eines Tages vor der Tür von Ella steht, der zweiten Protagonistin. Er konfrontiert die 34-Jährige mit einem Foto, das ihre Mutter in jungen Jahren zeigt. Frieder, den die ebenso überrumpelte wie faszinierte Frau fortan Dostojewski nennt, gelingt es, sich peu à peu in den Alltag der frisch getrennten Ella zu schleichen, ins Herz ihres Hundes, ein bisschen auch in ihr Herz – ohne sich zu erklären, woher er das Foto hat. Lieber holt Frieder weiter aus, rollt alles auf, Zwiebelschicht um Zwiebelschicht. Bis Ella irgendwann erkennt, was seine Geschichte mit ihrer eigenen zu tun hat.
Eine Fotografie spielte bereits in Nina Sahms Debüt „Das letzte Polaroid“ (2014) eine Rolle, die Themen Sozialisation und Zu-sich-Finden ziehen sich ebenfalls durch die Texte der 1980 in Heilbronn geborenen Autorin. Auch in ihrem zweiten Roman „Das ganze Leben da draußen“ (2016) sind es zwei Außenseiter, deren Gefühlswelt sie mit großer Empathie erforscht.
Hier nun wiederum lässt Sahm ihre Figuren das Alphabet ihrer Angehörigen erforschen. Leicht, spielerisch, raffiniert. „Früher dachte ich immer, ich müsste die ganze Geschichte meiner Familie von A bis Z rekonstruieren können, um glücklich zu sein“, sagt Ella an einer Stelle. Ella ist wie Frieder vaterlos aufgewachsen, und je mehr Details sie von dem Fremden aus dessen „unbedeutenden Aufzeichnungen eines einfachen Mannes“ erfährt, desto mehr rückt auch ihre Vergangenheit wieder in den Fokus. Nina Sahm erzählt klar und klug und ohne Schnörkel, mit reifer Lockerheit und Witz. „Was soll denn das Gerede von Wurzeln?“, wird Rike, Ellas Mutter, später einmal zitiert, und weiter: „Bist du ein Baum oder was?“
Und überhaupt: Vielleicht verhält es sich ja mit dem Roman ohnehin wie mit der Höri-Bülle: „Du kannst diese Zwiebel wie einen Apfel essen. Aber du kannst den Geschmack nicht in Worte fassen. Niemand sollte sich eine Bodenseezwiebel beschreiben lassen.“
BERNHARD BLÖCHL
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Nina Sahm erzählt klar und klug und ohne Schnörkel, mit reifer Lockerheit und Witz. Süddeutsche Zeitung 20171227