Der Historiker Ferdinand Seibt beschreibt die deutsche Geschichte zwischen 1900 und 1945 aus dem Blickwinkel von Zeitzeugen. In seinem Rückblick stehen die Erfahrungen und Erlebnisse, die Ängste, Hoffnungen und Träume unserer Großväter und Großmütter im Mittelpunkt. So werden Zusammenhänge deutlich, die bisher kaum Beachtung fanden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2000Die Zeit der Großväter
„Das alte böse Lied” – Ferdinand Seibt ist mit der Rückschau auf die deutsche Geschichte von 1900 bis 1945 ein großer Wurf gelungen
Dieses Buch ist im richtigen Moment erschienen. Gerade hat sich das schreckliche 20. Jahrhundert vollendet, will das neue, das 21. , mit gleisnerischen Verlockungen prunken, in denen das Versprechen raschen Vergessens all dessen sich verbirgt, was einem die Erinnerung an eine Vergangenheit verekelte, die, solange das Säkulum andauerte, nicht vergehen wollte – da macht dieses, im angenehmen Plauderton geschriebene, Buch darauf aufmerksam, dass auch die Zukunft eine Vorzeit hat, der man nicht entrinnen kann.
Diese Vorzeit setzt Ferdinand Seibts Buch, das zurückblickt auf die deutsche Geschichte von 1900 bis 1950, in eins mit der Zeit der Großväter. Für viele jedoch, für die dieses Buch geschrieben wurde und die es mit Gewinn lesen werden, dürfte jene erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bereits die Zeit der Urgroßväter sein. Das ändert nichts daran, dass Seibts Entscheidung für diese erzählerische Perspektive als eine sehr glückliche und dem Gegenstand höchst angemessene zu bewerten ist. Man kann sogar sagen: Ein solches Buch, das über die Irrungen und Wirrungen der Deutschen im anekdotischen Parlando Auskunft gibt, wie es die Groß- oder eben Urgroßväter auszeichnet, die sich aus der weiten Distanz eines gelebten Lebens erinnern, haben wir bislang vermisst.
Ferdinand Seibt hat diesen Ton genau getroffen und vermag ihn auch bis zur letzten Seite seiner Schilderung durchzuhalten. Das verrät ein großes literarisches Talent, das man einem emeritierten Ordinarius für Geschichte (an der Ruhr-Universität Bochum) bislang nicht geneigt war, zu unterstellen. Dieses Talent erweist sich nicht nur an der Sprache Seibts, die jeglichen sozialwissenschaftlichen Jargon vermeidet, sondern auch an der Dramaturgie, der seine Erzählung folgt, an den Proportionen, die sie achtet, und den Akzenten, die sie setzt.
Aber noch ein weiteres Verdienst von Seibts Buch gilt es zu rühmen: Sein Blick ist nicht starr und auschließlich auf die Entwicklung der deutschen Dinge im Sinne des „kleindeutschen” Bismarckreichs von 1871 gerichtet, sondern er umfasst das ganze, erst 1945 endgültig aus unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt verschwundene Mitteleuropa, jenen Binnenkontinent also, der durch das Deutsche als gemeinsame Verkehrssprache, durch eine vielhundertjährige Geschichte und gemeinsame kulturelle Traditionen vorgestellt wurde.
Selbstverständlich vermag auch Ferdinand Seibt keine neuen Einsichten über jenes halbe Jahrhundert deutscher Geschicke in Mitteleuropa zu vermitteln – darüber sind bereits ganze Bibliotheken gefüllt worden –, aber es gelingt ihm immer wieder, das vermeintlich Bekannte und Gewusste in ein neues Licht zu rücken, Lektüreerlebnisse zu provozieren, bei denen sich Erstaunen in Betroffenheit wandelt. Dafür ein Beispiel: „Es genügt freilich nicht zur Demonstration der Unschuld unserer Großväter”, so schreibt Seibt, „wenn man immer wieder den Antisemitismus Hitlers als Wiener Import hervorhebt. Denn es gab demgegenüber auch keine namhafte Verteidigung des deutschen Judentums in der intellektuellen Szene, weder vor, noch gar erst nach dem Sieg des Nationalsozialismus. Das war gewiss ein Verrat an intellektueller Solidarität. ”
Dass es vor allem auch ein Verrat an menschlicher Solidarität war, versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst, weshalb man dem Autor geradezu dankbar ist, dass er dies nicht besonders hervorgehoben hat. Seibts Parlando beherrscht mühelos das understatement, und dafür muss man ihm besonders dankbar sein. Nie erschreckt er seinen Leser mit dem erhobenen Zeigefinger, mit jenem Gestus, der besagen will, es schon immer besser gewusst zu haben. Seine Wertungen werden nur als Subtext dessen deutlich, was und vor allem wie er etwas erzählt. Die gelegentlich den Kirchen - immerhin die einzigen gesellschaftlichen Organisationen, die sich einer „Gleichschaltung” durch das NS-Regime weitgehend entziehen konnten – gegen das „Dritte Reich” angesonnene Widerstandsrolle zerbröselt unter seiner lapidaren Feststellung: „Kein Bischof wurde zum Märtyrer der NS-Zeit, und nur einer wurde schließlich zur Resignation gezwungen. ”
Ferdinand Seibts Buch „Das alte böse Lied” stellt einen Entwurf vor, den es bislang allenfalls nur einmal gab und für den sich deshalb kein wirklich zutreffender Begriff einstellen will – weshalb man fast versucht sein könnte, es als „Hausbuch historischer Aufklärung” zu bezeichnen. Um Missverständnissen vorzubeugen, bekennt der Rezensent deshalb, dass es den Vergleich mit Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler” nicht zu fürchten hat.
JOHANNES WILLMS
FERDINAND SEIBT: Das alte böse Lied. Rückblicke auf die deutsche Geschichte 1900 bis 1945. Piper Verlag, München und Zürich 2000. 403 Seiten, 48 Mark.
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„Das alte böse Lied” – Ferdinand Seibt ist mit der Rückschau auf die deutsche Geschichte von 1900 bis 1945 ein großer Wurf gelungen
Dieses Buch ist im richtigen Moment erschienen. Gerade hat sich das schreckliche 20. Jahrhundert vollendet, will das neue, das 21. , mit gleisnerischen Verlockungen prunken, in denen das Versprechen raschen Vergessens all dessen sich verbirgt, was einem die Erinnerung an eine Vergangenheit verekelte, die, solange das Säkulum andauerte, nicht vergehen wollte – da macht dieses, im angenehmen Plauderton geschriebene, Buch darauf aufmerksam, dass auch die Zukunft eine Vorzeit hat, der man nicht entrinnen kann.
Diese Vorzeit setzt Ferdinand Seibts Buch, das zurückblickt auf die deutsche Geschichte von 1900 bis 1950, in eins mit der Zeit der Großväter. Für viele jedoch, für die dieses Buch geschrieben wurde und die es mit Gewinn lesen werden, dürfte jene erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bereits die Zeit der Urgroßväter sein. Das ändert nichts daran, dass Seibts Entscheidung für diese erzählerische Perspektive als eine sehr glückliche und dem Gegenstand höchst angemessene zu bewerten ist. Man kann sogar sagen: Ein solches Buch, das über die Irrungen und Wirrungen der Deutschen im anekdotischen Parlando Auskunft gibt, wie es die Groß- oder eben Urgroßväter auszeichnet, die sich aus der weiten Distanz eines gelebten Lebens erinnern, haben wir bislang vermisst.
Ferdinand Seibt hat diesen Ton genau getroffen und vermag ihn auch bis zur letzten Seite seiner Schilderung durchzuhalten. Das verrät ein großes literarisches Talent, das man einem emeritierten Ordinarius für Geschichte (an der Ruhr-Universität Bochum) bislang nicht geneigt war, zu unterstellen. Dieses Talent erweist sich nicht nur an der Sprache Seibts, die jeglichen sozialwissenschaftlichen Jargon vermeidet, sondern auch an der Dramaturgie, der seine Erzählung folgt, an den Proportionen, die sie achtet, und den Akzenten, die sie setzt.
Aber noch ein weiteres Verdienst von Seibts Buch gilt es zu rühmen: Sein Blick ist nicht starr und auschließlich auf die Entwicklung der deutschen Dinge im Sinne des „kleindeutschen” Bismarckreichs von 1871 gerichtet, sondern er umfasst das ganze, erst 1945 endgültig aus unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt verschwundene Mitteleuropa, jenen Binnenkontinent also, der durch das Deutsche als gemeinsame Verkehrssprache, durch eine vielhundertjährige Geschichte und gemeinsame kulturelle Traditionen vorgestellt wurde.
Selbstverständlich vermag auch Ferdinand Seibt keine neuen Einsichten über jenes halbe Jahrhundert deutscher Geschicke in Mitteleuropa zu vermitteln – darüber sind bereits ganze Bibliotheken gefüllt worden –, aber es gelingt ihm immer wieder, das vermeintlich Bekannte und Gewusste in ein neues Licht zu rücken, Lektüreerlebnisse zu provozieren, bei denen sich Erstaunen in Betroffenheit wandelt. Dafür ein Beispiel: „Es genügt freilich nicht zur Demonstration der Unschuld unserer Großväter”, so schreibt Seibt, „wenn man immer wieder den Antisemitismus Hitlers als Wiener Import hervorhebt. Denn es gab demgegenüber auch keine namhafte Verteidigung des deutschen Judentums in der intellektuellen Szene, weder vor, noch gar erst nach dem Sieg des Nationalsozialismus. Das war gewiss ein Verrat an intellektueller Solidarität. ”
Dass es vor allem auch ein Verrat an menschlicher Solidarität war, versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst, weshalb man dem Autor geradezu dankbar ist, dass er dies nicht besonders hervorgehoben hat. Seibts Parlando beherrscht mühelos das understatement, und dafür muss man ihm besonders dankbar sein. Nie erschreckt er seinen Leser mit dem erhobenen Zeigefinger, mit jenem Gestus, der besagen will, es schon immer besser gewusst zu haben. Seine Wertungen werden nur als Subtext dessen deutlich, was und vor allem wie er etwas erzählt. Die gelegentlich den Kirchen - immerhin die einzigen gesellschaftlichen Organisationen, die sich einer „Gleichschaltung” durch das NS-Regime weitgehend entziehen konnten – gegen das „Dritte Reich” angesonnene Widerstandsrolle zerbröselt unter seiner lapidaren Feststellung: „Kein Bischof wurde zum Märtyrer der NS-Zeit, und nur einer wurde schließlich zur Resignation gezwungen. ”
Ferdinand Seibts Buch „Das alte böse Lied” stellt einen Entwurf vor, den es bislang allenfalls nur einmal gab und für den sich deshalb kein wirklich zutreffender Begriff einstellen will – weshalb man fast versucht sein könnte, es als „Hausbuch historischer Aufklärung” zu bezeichnen. Um Missverständnissen vorzubeugen, bekennt der Rezensent deshalb, dass es den Vergleich mit Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler” nicht zu fürchten hat.
JOHANNES WILLMS
FERDINAND SEIBT: Das alte böse Lied. Rückblicke auf die deutsche Geschichte 1900 bis 1945. Piper Verlag, München und Zürich 2000. 403 Seiten, 48 Mark.
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