Das alte Griechenland ist unserer Zeit vertraut und fremd zugleich. Nah und scheinbar vertraut ist es als touristisches Erlebnis: fern gerückt jedoch der Welt, in der wir leben, fremd geworden, wenn auch nicht vergessen.
Nicht nur rückgewandte Schwärmer, vielmehr Frauen und Männer, die auf der Höhe ihrer Zeit standen, haben immer wieder gerade die Griechen bewundert und geliebt. Sie haben versucht, das alte Griechenland zu begreifen: ein kleines Land mit kargen Böden, angewiesen auf Import von Nahrung, Export überzähliger Menschen, angewiesen auf Kontakt und Austausch. Dafür lag Griechenland sehr günstig, in einer Region des Mittelmeers, wo einst der internationale Handel blühte und der Verkehr am dichtesten war.
Der reich illustrierte Band konzentriert sich auf die materielle Kultur der Griechen. Autorinnen und Autoren, die durch Forschungen zur griechischen Geschichte und Kultur bestens ausgewiesen sind, behandeln jene Bereiche und Aspekte, die uns heute für das Verstehen des alten Griechenland wichtig zu sein scheinen.
Nicht nur rückgewandte Schwärmer, vielmehr Frauen und Männer, die auf der Höhe ihrer Zeit standen, haben immer wieder gerade die Griechen bewundert und geliebt. Sie haben versucht, das alte Griechenland zu begreifen: ein kleines Land mit kargen Böden, angewiesen auf Import von Nahrung, Export überzähliger Menschen, angewiesen auf Kontakt und Austausch. Dafür lag Griechenland sehr günstig, in einer Region des Mittelmeers, wo einst der internationale Handel blühte und der Verkehr am dichtesten war.
Der reich illustrierte Band konzentriert sich auf die materielle Kultur der Griechen. Autorinnen und Autoren, die durch Forschungen zur griechischen Geschichte und Kultur bestens ausgewiesen sind, behandeln jene Bereiche und Aspekte, die uns heute für das Verstehen des alten Griechenland wichtig zu sein scheinen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.1995Die Gläubiger aller Zeiten
Geschichte und Kultur des antiken Griechenland in voller Pracht
Auf dem Feld der griechischen Kulturgeschichte erhebt sich zu Beginn unseres Jahrhunderts, einem hohen, in sich geschlossenen Gebirgsmassiv ähnlich, Jacob Burckhardts klassisches Werk. Die zwischen 1898 und 1902 postum von Jacob Oeri publizierten vier Bände verstanden Kulturgeschichte als Geistesgeschichte. Kultur und Religion, Geschichte und Kunst wurden hier zu einem imponierenden Gesamtbild zusammengeschlossen. Burckhardt bot dabei keine Verklärung und Idealisierung, keine "enthusiastische Schönfärberei". In der Tradition von August Böckh waren die Griechen für ihn zwar ein "geniales Volk", doch zugleich auch das Volk, "welches sich das bitterste, empfundenste Leid angetan hat". Burckhardt konnte daher dem griechischen Mythos ebenso gerecht werden wie dem terrorisierenden Charakter der griechischen Polis und der "Staatsknechtschaft des Individuums", Religion und Kultur ebenso erfassen wie "die wirklich herrschende, durchschnittliche Ansicht des Lebens", die Leistungen der Griechen in Kunst, Poesie, Musik, Philosophie, Wissenschaft und Redekunst nicht weniger vergegenwärtigen als die zeitliche Entwicklung des griechischen Menschen.
Das originelle, für seine Zeit geradezu provozierende Werk erfuhr jene Ablehnung durch die Spezialisten, die Burckhardt vorhergesehen hatte. Gleichwohl haben sich wesentliche Wertungen und Perspektiven seiner Konzeption bis heute durchgesetzt, das betrifft etwa die Rolle des Leidens in der griechischen Gesellschaft oder die Bedeutung des "agonalen Prinzips". Doch Burckhardt hatte Griechenland nie betreten; das griechische Licht, das Hofmannsthal später so sehr beeindrucken sollte, kannte er nicht. Obwohl er noch als alter Mann beschwerliche Mappen voll Anschauungsmaterial in seine Übungen trug, enthält die "Griechische Kulturgeschichte" keine einzige Abbildung und keine Karte.
Der jetzt von Adolf H. Borbein herausgegebene Sammelband läßt sich als Gegenpol zu Burckhardts Darstellung verstehen, und dies nicht nur der opulenten Bebilderung wegen. Methodisch zeichnet er sich durch stärkste Konzentration auf die Geschichte und die materielle Kultur der Griechen aus. Hauptquelle ist dabei die bildende Kunst; Literatur und Philosophie wurden zwar keine eigenen Kapitel gewidmet, doch in zahlreichen Übersetzungen grundlegender Texte sind sie stets präsent. Das Werk nimmt die Resultate der jüngsten Ausgrabungen ebenso auf wie Interpretationen neugefundener Kunstwerke. Vor allem aber lebt es von den Fragestellungen unserer Zeit: Frauen, Sklaven und Unterschichten kommen nicht weniger zu ihrem Recht als die geographischen, anthropologischen und ökonomischen Grundlagen der griechischen Gesellschaft.
Die Dialektik von Distanz und Nähe ist das Leitmotiv des Buches. Die Ausgangssituation hat Borbein so beschrieben: "Die archäologischen Stätten und Einzelmonumente sind zu ihrer Umgebung in einen scharfen Kontrast geraten - es gibt nur noch wenige Ausnahmen von dieser Regel. Wie Relikte aus einer anderen Welt stehen sie in einer Landschaft, die erst in unserem Jahrhundert den Bedürfnissen der modernen Zivilisation angepaßt und damit radikal verändert wurde. Ruinen und Grabungsplätze wirken heute stärker denn je wie Präparate . . . Die isolierten Ruinen und die ebenso isolierten Einzelinformationen über die griechische Kultur zu einem anschaulichen Ganzen zu verbinden fällt in unseren Tagen auch dem Wissenschaftler nicht leicht. Es bleibt eine nie zu vollendende Aufgabe. Vielleicht aber sind es für uns gerade die Fragmente, die zu Steinen des Anstoßes werden und den Prozeß der Erkenntnis in Gang setzen."
Solche Fragmente liegen in den elf Kapiteln des Bandes vor, der nicht mehr auf Vollständigkeit zielt, sondern jene Teilbereiche thematisiert, die in der Gegenwart für das Verständnis des alten Griechenland wichtig und charakteristisch sind: So behandeln Wolfgang Schuller (Konstanz) und Fritz Gschnitzer (Heidelberg) einleitend Geschichte wie staatliche und sozioökonomische Strukturen, Eva Hofstetter (Berlin) und Ulrich Sinn (Würzburg) Mythos, Religion und Heiligtümer, Wolfgang Hoepfner (Berlin) Architektur und Städtebau, Irma Wehgartner (Würzburg) Keramik und Malerei, Konrad Zimmermann (Rostock) den Alltag in der Kleinkunst, Christof Boehringer (Göttingen) die Münzen, Gerhard Zimmer (Berlin) die Stellung der Handwerker. Bei der Auswahl der kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte Borbein eine glückliche Hand, nicht weniger aber bei jener der eindrucksvollen Illustrationen wie der didaktisch wertvollen graphischen Darstellungen. Die Koordination von Text und Bildern wurde hier vorbildlich gelöst; die Abbildungen werden durch ausführliche Beschreibungen erläutert.
Darstellerische Höhepunkte des Bandes aber bilden Borbeins eigene Beiträge: seine Behandlung der griechischen Plastik unter dem Gesichtspunkt des Wandels des griechischen Menschenbildes, ein gedankenreicher Entwurf, der auch sprachlich besonders imponiert, und sein souveräner Überblick über die Wirkung und Erforschung der materiellen Kultur der Griechen. Wissenschaftlich gediegen, plausibel akzentuiert, optimal ausgestattet, vermittelt das in der Regel kühl und nüchtern konzipierte und dennoch von verhaltener Passion erfüllte Werk so auf hohem Niveau das Griechenbild unserer Zeit. So groß die Distanz zu Burckhardt inzwischen geworden ist, noch immer gilt dessen allgemeine Feststellung: "Und so werden wir ewig im Schaffen und Können die Bewunderer und in der Welterkenntnis die Schuldner der Griechen bleiben. Hier sind sie uns nahe, dort groß, fremd und ferne." KARL CHRIST
Adolf H. Borbein (Hrsg.): "Das alte Griechenland". Geschichte und Kultur der Hellenen. C. Bertelsmann Verlag, München 1995. 464 S., 507 Abb., 44 graphische Darstellungen, geb., 198,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Geschichte und Kultur des antiken Griechenland in voller Pracht
Auf dem Feld der griechischen Kulturgeschichte erhebt sich zu Beginn unseres Jahrhunderts, einem hohen, in sich geschlossenen Gebirgsmassiv ähnlich, Jacob Burckhardts klassisches Werk. Die zwischen 1898 und 1902 postum von Jacob Oeri publizierten vier Bände verstanden Kulturgeschichte als Geistesgeschichte. Kultur und Religion, Geschichte und Kunst wurden hier zu einem imponierenden Gesamtbild zusammengeschlossen. Burckhardt bot dabei keine Verklärung und Idealisierung, keine "enthusiastische Schönfärberei". In der Tradition von August Böckh waren die Griechen für ihn zwar ein "geniales Volk", doch zugleich auch das Volk, "welches sich das bitterste, empfundenste Leid angetan hat". Burckhardt konnte daher dem griechischen Mythos ebenso gerecht werden wie dem terrorisierenden Charakter der griechischen Polis und der "Staatsknechtschaft des Individuums", Religion und Kultur ebenso erfassen wie "die wirklich herrschende, durchschnittliche Ansicht des Lebens", die Leistungen der Griechen in Kunst, Poesie, Musik, Philosophie, Wissenschaft und Redekunst nicht weniger vergegenwärtigen als die zeitliche Entwicklung des griechischen Menschen.
Das originelle, für seine Zeit geradezu provozierende Werk erfuhr jene Ablehnung durch die Spezialisten, die Burckhardt vorhergesehen hatte. Gleichwohl haben sich wesentliche Wertungen und Perspektiven seiner Konzeption bis heute durchgesetzt, das betrifft etwa die Rolle des Leidens in der griechischen Gesellschaft oder die Bedeutung des "agonalen Prinzips". Doch Burckhardt hatte Griechenland nie betreten; das griechische Licht, das Hofmannsthal später so sehr beeindrucken sollte, kannte er nicht. Obwohl er noch als alter Mann beschwerliche Mappen voll Anschauungsmaterial in seine Übungen trug, enthält die "Griechische Kulturgeschichte" keine einzige Abbildung und keine Karte.
Der jetzt von Adolf H. Borbein herausgegebene Sammelband läßt sich als Gegenpol zu Burckhardts Darstellung verstehen, und dies nicht nur der opulenten Bebilderung wegen. Methodisch zeichnet er sich durch stärkste Konzentration auf die Geschichte und die materielle Kultur der Griechen aus. Hauptquelle ist dabei die bildende Kunst; Literatur und Philosophie wurden zwar keine eigenen Kapitel gewidmet, doch in zahlreichen Übersetzungen grundlegender Texte sind sie stets präsent. Das Werk nimmt die Resultate der jüngsten Ausgrabungen ebenso auf wie Interpretationen neugefundener Kunstwerke. Vor allem aber lebt es von den Fragestellungen unserer Zeit: Frauen, Sklaven und Unterschichten kommen nicht weniger zu ihrem Recht als die geographischen, anthropologischen und ökonomischen Grundlagen der griechischen Gesellschaft.
Die Dialektik von Distanz und Nähe ist das Leitmotiv des Buches. Die Ausgangssituation hat Borbein so beschrieben: "Die archäologischen Stätten und Einzelmonumente sind zu ihrer Umgebung in einen scharfen Kontrast geraten - es gibt nur noch wenige Ausnahmen von dieser Regel. Wie Relikte aus einer anderen Welt stehen sie in einer Landschaft, die erst in unserem Jahrhundert den Bedürfnissen der modernen Zivilisation angepaßt und damit radikal verändert wurde. Ruinen und Grabungsplätze wirken heute stärker denn je wie Präparate . . . Die isolierten Ruinen und die ebenso isolierten Einzelinformationen über die griechische Kultur zu einem anschaulichen Ganzen zu verbinden fällt in unseren Tagen auch dem Wissenschaftler nicht leicht. Es bleibt eine nie zu vollendende Aufgabe. Vielleicht aber sind es für uns gerade die Fragmente, die zu Steinen des Anstoßes werden und den Prozeß der Erkenntnis in Gang setzen."
Solche Fragmente liegen in den elf Kapiteln des Bandes vor, der nicht mehr auf Vollständigkeit zielt, sondern jene Teilbereiche thematisiert, die in der Gegenwart für das Verständnis des alten Griechenland wichtig und charakteristisch sind: So behandeln Wolfgang Schuller (Konstanz) und Fritz Gschnitzer (Heidelberg) einleitend Geschichte wie staatliche und sozioökonomische Strukturen, Eva Hofstetter (Berlin) und Ulrich Sinn (Würzburg) Mythos, Religion und Heiligtümer, Wolfgang Hoepfner (Berlin) Architektur und Städtebau, Irma Wehgartner (Würzburg) Keramik und Malerei, Konrad Zimmermann (Rostock) den Alltag in der Kleinkunst, Christof Boehringer (Göttingen) die Münzen, Gerhard Zimmer (Berlin) die Stellung der Handwerker. Bei der Auswahl der kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte Borbein eine glückliche Hand, nicht weniger aber bei jener der eindrucksvollen Illustrationen wie der didaktisch wertvollen graphischen Darstellungen. Die Koordination von Text und Bildern wurde hier vorbildlich gelöst; die Abbildungen werden durch ausführliche Beschreibungen erläutert.
Darstellerische Höhepunkte des Bandes aber bilden Borbeins eigene Beiträge: seine Behandlung der griechischen Plastik unter dem Gesichtspunkt des Wandels des griechischen Menschenbildes, ein gedankenreicher Entwurf, der auch sprachlich besonders imponiert, und sein souveräner Überblick über die Wirkung und Erforschung der materiellen Kultur der Griechen. Wissenschaftlich gediegen, plausibel akzentuiert, optimal ausgestattet, vermittelt das in der Regel kühl und nüchtern konzipierte und dennoch von verhaltener Passion erfüllte Werk so auf hohem Niveau das Griechenbild unserer Zeit. So groß die Distanz zu Burckhardt inzwischen geworden ist, noch immer gilt dessen allgemeine Feststellung: "Und so werden wir ewig im Schaffen und Können die Bewunderer und in der Welterkenntnis die Schuldner der Griechen bleiben. Hier sind sie uns nahe, dort groß, fremd und ferne." KARL CHRIST
Adolf H. Borbein (Hrsg.): "Das alte Griechenland". Geschichte und Kultur der Hellenen. C. Bertelsmann Verlag, München 1995. 464 S., 507 Abb., 44 graphische Darstellungen, geb., 198,- DM.
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