Die bewegte Geschichte des Hauses, in dem Anne Frank und ihre Familie sich versteckten. Mitten in Amsterdam, direkt an der Prinsengracht 261, steht ein hohes, schmales Haus. Es wurde vor 400 Jahren gebaut und diente als Wohnung, Lager, Stall und Geheimversteck. Es war Schauplatz einer bemerkenswerten Geschichte, die das rasante Wachstum Amsterdams im »Goldenen Zeitalter« Hollands und die deutsche Besetzung der Niederlande während des Zweiten Weltkriegs umfasste, und es bot Anne Frank, ihrer Familie und vier anderen für mehr als zwei Jahre einen scheinbar sicheren Ort. Heute ist das Haus an der Gracht ein vielbesuchtes Museum und Sitz der Anne-Frank-Stiftung.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Rezensent Michael Schmitt gehen Thomas Harding und die Illustratorin Britta Teckentrup mit ihrem Bildsachbuch, das die Geschichte des Hauses an der Gracht erzählt, in dem Anne Frank und ihre Familie sich 1942 bis 1944 vor den Nazis versteckten, den Weg des geringsten Widerstands. Bedauerlich findet Schmitt, dass im Buch weitgehend bekannte Motive wiederholt werden und kein präzises historisches Wissen vermittelt wird. Junge Leser müssen sich mit einem knappen Glossar zur Zeitgeschichte bescheiden, kritisiert Schmitt. Acht Jahrzehnte nach den Geschehnissen ist das alles entschieden zu gefühlig und zu wenig reflektiert, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2023Wenn diese Wände sprechen könnten
Zwei neue Sachbücher für Kinder lassen alte Häuser Geschichte erklären.
Eine hübsche Idee – doch Steine wissen eben nicht alles. Vor allem bei einem Thema sind sie ratlos
VON MICHAEL SCHMITT
Am Anfang war feuchte Marsch, waren Kühe, Reiher und Möwen, war ein Idyll. Heute liegt das Stück Land, von dem hier die Rede ist, mitten in Amsterdam. Seit fast vierhundert Jahren ist es bebaut und zahllosen Besuchern als Gedächtnisort bekannt, denn dort erinnert seit 1960 das Anne-Frank-Haus an das Schicksal der 1929 geborenen Tochter einer jüdischen Familie, die sich im Hinterhaus zusammen mit Familienmitgliedern von Juli 1942 bis August 1944 vor Gestapo und SS verbergen konnte. Ehe das Versteck gefunden, Anne Frank und ihre Angehörigen deportiert, später getrennt und in den Vernichtungslagern Auschwitz oder Bergen-Belsen umgebracht wurden. Diese fast zwei Jahre hat Anne Frank in ihrem weltberühmten Tagebuch festgehalten – den beengten Alltag genauso wie ihr Wissen um den Nazi-Terror. Ihre Aufzeichnungen sind lange schon Schullektüre, auch die Menge der Bücher zum Thema ist kaum überschaubar. Nun fügen der Autor Thomas Harding und die Illustratorin Britta Teckentrup mit dem Bildsachbuch „Das alte Haus an der Gracht“ der konzentrierten Innensicht des Mädchens noch die ausgreifende Geschichte des Gebäudes hinzu, vom Bau der Gracht bis zur erfolgreichen Nutzung als Museum.
Das „stille und glückliche“ Marschland wandelt sich von 1612 an schnell zu einem belebten Platz, wo Arbeiter schuften und dabei Lieder singen, wo bald auch nahe Kirchenglocken zu vernehmen sind. Mit den Jahrhunderten wechseln die Besitzer, mal wohlhabende Kaufleute, mal ein Eisenhauer, dessen Kinder im Garten mit Kaninchen spielen. Einmal brennt das Haus sogar ab, mal steht es leer und „zittert vor Kälte und Einsamkeit“.
Im Ganzen ergibt das ein Buch, in dem sich angenehm blättern lässt, das in gefühligen Kurztexten und Illustrationen aus der Perspektive des Gebäudes auf dessen Umgebung und Innenleben blickt. Der erzählerische Preis dafür: Das Haus als empfindsames Subjekt nimmt Glück oder Unglück innerhalb seiner Mauern zwar wahr, verbindet damit jedoch kein präzises Wissen. Es weiß nichts über individuelle Schicksale oder historische Rahmungen. In den zentralen Texten werden daher keine Namen genannt, die Illustrationen sind typisierend angelegt und reproduzieren auf den Doppelseiten, die Anne Frank gewidmet sind, vor allem bekannte Motive und Porträts, setzen auf Wiedererkennbarkeit. Zeitgeschichtliche Informationen, auch zu Anne Frank selbst, müssen in einem knappen Glossar auf einer Doppelseite am Ende des Buches nachgeschlagen werden.
Ist das ein innovativer Blick auf eine bekannte Geschichte, eine Einladung zum Entschlüsseln von Illustrationen oder bloß ein Bilderbogen für die, die schon alles wissen? Jungen Menschen, die aus dem Abstand von acht Jahrzehnten etwas über den Holocaust erfahren sollen, wird wenig an die Hand gegeben, älteren auch nicht. Mit etwas bösem Willen lässt sich dieses Buch eher als Bestätigung für Max Czolleks Vorwurf lesen, dass die Erinnerungskultur hierzulande oft den Weg des geringsten Widerstandes gehe. Gefühligkeit allein, etwa durch die Charakterisierung von Anne Frank als namenlosem, „liebem Mädchen“, ist wohl kaum eine Basis für eine Auseinandersetzung mit ihrem Leben und Sterben.
Wie beklagenswert das ist, liegt vermutlich im Auge des Betrachters. Dass es aber auch anders gehen kann, wenn ein Haus zum Fokus eines historischen Abrisses gewählt wird, zeigen Kathrin Wolf und Isabel Kreitz mit „In einem alten Haus in Berlin“, einem opulenten Wimmelbuch zur neueren deutschen Geschichte zwischen 1871 und 2021, das in Zusammenarbeit mit der Stiftung Stadtmuseum Berlin erschienen ist. Angelegt ist es ebenfalls als Abfolge von Generationen und Nutzungen, zunächst als Apotheke und Wohnhaus, zuletzt als Café mit alternativem Charme. Erläuternde Doppelseiten zu historischen Stichworten, sei es zu den Weltkriegen, zum Dritten Reich oder zur Nachkriegszeit von 1945 an, sei es zu den Olympischen Spielen in Berlin 1936 oder zur Berlinale Ende der Fünfziger, wechseln mit detailreichen Seiten zu individuellen Schicksalen. Das Buch fügt eine Vielzahl von Blickwinkeln zu einem Panorama der Alltagsgeschichte zusammen.
Dieses Haus wird nicht als empfindsame Instanz, sondern als Ort komprimierter Geschichte aufgefasst und bietet einen enormen Fundus an Informationen zu nahezu allem, was museal darstellbar ist. Was jedoch nicht mehr materiell verfügbar, aber dennoch gesicherte Tatsache ist, wird nur ansatzweise sichtbar: In diesem Haus hat zwischen den Weltkriegen auch eine jüdische Familie Mayer gelebt. Doch nach dem Krieg, 1945, erinnert nichts mehr an sie. Als Individuen kommen die Familienmitglieder in Sprechblasen durchaus zu Wort – so wie alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses auch. Mal sprechen sie als Bürger, die darauf vertrauen, als treue Deutsche keiner Bedrohung ausgesetzt zu sein, mal skeptisch über ihre Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben, zuletzt als Verfolgte. Aber der Raum, den sie in diesem Haus einmal eingenommen haben, ihre Wohnung, vielleicht auch ihr Verhältnis zum unmittelbaren sozialen Umfeld, wird nie deutlich umrissen.
Dafür gibt es Gründe: Diese Menschen sind emigriert oder haben Suizid begangen, um der Deportation zu entgehen. Dann ist auch noch ihre ehemalige Wohnung in einer der oberen Etagen des Hauses bei Bombenangriffen zerstört worden – es ist also kaum etwas übrig geblieben von dieser jüdischen Familie, außer einer „leeren Stelle“. Ungeachtet seiner sonstigen Fülle bildet das Buch also auch nur einen „blinden Fleck“ der etablierten Erinnerungskultur ab, der bis heute oft beklagt wird. Es folgt auf den Seiten zur Nachkriegszeit vor allem dem Gedächtnis der Überlebenden: Den Mühen, sich in den Trümmern notdürftig einrichten zu müssen, dem Schicksal von Vertriebenen, die untergebracht werden wollen. Der Plackerei für den Wiederaufbau, die den Blick zurück auf die einstigen Nachbarn verstellt, während man deren frei gewordenen Platz wie selbstverständlich besetzt. Für diese Lücke nicht ebenfalls eindringlichere Bilder gefunden zu haben, ist der eine, aber bezeichnende Mangel, den man dem Buch vorhalten kann.
Was nicht mehr materiell
verfügbar ist, wird
nur ansatzweise sichtbar
„In einem alten Haus in Berlin“ befindet sich im 19. Jahrhundert zunächst eine Apotheke im Erdgeschoss, zuletzt, in der Gegenwart, das „APO-Café“ mit alternativem Charme.
Foto: Gerstenberg Verlag
Thomas Harding: Das alte Haus an der Gracht. Mit Ilustrationen von Britta Teckentrup. Aus dem Englischen von Nicola T. Stuart. Jacoby & Stuart, Berlin 2023.
56 Seiten, 22 Euro.
Ab 6 Jahren.
Kathrin Wolf: In einem alten Haus in Berlin. Ein Streifzug durch 150 Jahre deutsche Geschichte. Mit Illustrationen von Isabel Kreitz. Gerstenberg, Hildesheim 2023.
64 Seiten, 28 Euro.
Ab 10 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zwei neue Sachbücher für Kinder lassen alte Häuser Geschichte erklären.
Eine hübsche Idee – doch Steine wissen eben nicht alles. Vor allem bei einem Thema sind sie ratlos
VON MICHAEL SCHMITT
Am Anfang war feuchte Marsch, waren Kühe, Reiher und Möwen, war ein Idyll. Heute liegt das Stück Land, von dem hier die Rede ist, mitten in Amsterdam. Seit fast vierhundert Jahren ist es bebaut und zahllosen Besuchern als Gedächtnisort bekannt, denn dort erinnert seit 1960 das Anne-Frank-Haus an das Schicksal der 1929 geborenen Tochter einer jüdischen Familie, die sich im Hinterhaus zusammen mit Familienmitgliedern von Juli 1942 bis August 1944 vor Gestapo und SS verbergen konnte. Ehe das Versteck gefunden, Anne Frank und ihre Angehörigen deportiert, später getrennt und in den Vernichtungslagern Auschwitz oder Bergen-Belsen umgebracht wurden. Diese fast zwei Jahre hat Anne Frank in ihrem weltberühmten Tagebuch festgehalten – den beengten Alltag genauso wie ihr Wissen um den Nazi-Terror. Ihre Aufzeichnungen sind lange schon Schullektüre, auch die Menge der Bücher zum Thema ist kaum überschaubar. Nun fügen der Autor Thomas Harding und die Illustratorin Britta Teckentrup mit dem Bildsachbuch „Das alte Haus an der Gracht“ der konzentrierten Innensicht des Mädchens noch die ausgreifende Geschichte des Gebäudes hinzu, vom Bau der Gracht bis zur erfolgreichen Nutzung als Museum.
Das „stille und glückliche“ Marschland wandelt sich von 1612 an schnell zu einem belebten Platz, wo Arbeiter schuften und dabei Lieder singen, wo bald auch nahe Kirchenglocken zu vernehmen sind. Mit den Jahrhunderten wechseln die Besitzer, mal wohlhabende Kaufleute, mal ein Eisenhauer, dessen Kinder im Garten mit Kaninchen spielen. Einmal brennt das Haus sogar ab, mal steht es leer und „zittert vor Kälte und Einsamkeit“.
Im Ganzen ergibt das ein Buch, in dem sich angenehm blättern lässt, das in gefühligen Kurztexten und Illustrationen aus der Perspektive des Gebäudes auf dessen Umgebung und Innenleben blickt. Der erzählerische Preis dafür: Das Haus als empfindsames Subjekt nimmt Glück oder Unglück innerhalb seiner Mauern zwar wahr, verbindet damit jedoch kein präzises Wissen. Es weiß nichts über individuelle Schicksale oder historische Rahmungen. In den zentralen Texten werden daher keine Namen genannt, die Illustrationen sind typisierend angelegt und reproduzieren auf den Doppelseiten, die Anne Frank gewidmet sind, vor allem bekannte Motive und Porträts, setzen auf Wiedererkennbarkeit. Zeitgeschichtliche Informationen, auch zu Anne Frank selbst, müssen in einem knappen Glossar auf einer Doppelseite am Ende des Buches nachgeschlagen werden.
Ist das ein innovativer Blick auf eine bekannte Geschichte, eine Einladung zum Entschlüsseln von Illustrationen oder bloß ein Bilderbogen für die, die schon alles wissen? Jungen Menschen, die aus dem Abstand von acht Jahrzehnten etwas über den Holocaust erfahren sollen, wird wenig an die Hand gegeben, älteren auch nicht. Mit etwas bösem Willen lässt sich dieses Buch eher als Bestätigung für Max Czolleks Vorwurf lesen, dass die Erinnerungskultur hierzulande oft den Weg des geringsten Widerstandes gehe. Gefühligkeit allein, etwa durch die Charakterisierung von Anne Frank als namenlosem, „liebem Mädchen“, ist wohl kaum eine Basis für eine Auseinandersetzung mit ihrem Leben und Sterben.
Wie beklagenswert das ist, liegt vermutlich im Auge des Betrachters. Dass es aber auch anders gehen kann, wenn ein Haus zum Fokus eines historischen Abrisses gewählt wird, zeigen Kathrin Wolf und Isabel Kreitz mit „In einem alten Haus in Berlin“, einem opulenten Wimmelbuch zur neueren deutschen Geschichte zwischen 1871 und 2021, das in Zusammenarbeit mit der Stiftung Stadtmuseum Berlin erschienen ist. Angelegt ist es ebenfalls als Abfolge von Generationen und Nutzungen, zunächst als Apotheke und Wohnhaus, zuletzt als Café mit alternativem Charme. Erläuternde Doppelseiten zu historischen Stichworten, sei es zu den Weltkriegen, zum Dritten Reich oder zur Nachkriegszeit von 1945 an, sei es zu den Olympischen Spielen in Berlin 1936 oder zur Berlinale Ende der Fünfziger, wechseln mit detailreichen Seiten zu individuellen Schicksalen. Das Buch fügt eine Vielzahl von Blickwinkeln zu einem Panorama der Alltagsgeschichte zusammen.
Dieses Haus wird nicht als empfindsame Instanz, sondern als Ort komprimierter Geschichte aufgefasst und bietet einen enormen Fundus an Informationen zu nahezu allem, was museal darstellbar ist. Was jedoch nicht mehr materiell verfügbar, aber dennoch gesicherte Tatsache ist, wird nur ansatzweise sichtbar: In diesem Haus hat zwischen den Weltkriegen auch eine jüdische Familie Mayer gelebt. Doch nach dem Krieg, 1945, erinnert nichts mehr an sie. Als Individuen kommen die Familienmitglieder in Sprechblasen durchaus zu Wort – so wie alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses auch. Mal sprechen sie als Bürger, die darauf vertrauen, als treue Deutsche keiner Bedrohung ausgesetzt zu sein, mal skeptisch über ihre Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben, zuletzt als Verfolgte. Aber der Raum, den sie in diesem Haus einmal eingenommen haben, ihre Wohnung, vielleicht auch ihr Verhältnis zum unmittelbaren sozialen Umfeld, wird nie deutlich umrissen.
Dafür gibt es Gründe: Diese Menschen sind emigriert oder haben Suizid begangen, um der Deportation zu entgehen. Dann ist auch noch ihre ehemalige Wohnung in einer der oberen Etagen des Hauses bei Bombenangriffen zerstört worden – es ist also kaum etwas übrig geblieben von dieser jüdischen Familie, außer einer „leeren Stelle“. Ungeachtet seiner sonstigen Fülle bildet das Buch also auch nur einen „blinden Fleck“ der etablierten Erinnerungskultur ab, der bis heute oft beklagt wird. Es folgt auf den Seiten zur Nachkriegszeit vor allem dem Gedächtnis der Überlebenden: Den Mühen, sich in den Trümmern notdürftig einrichten zu müssen, dem Schicksal von Vertriebenen, die untergebracht werden wollen. Der Plackerei für den Wiederaufbau, die den Blick zurück auf die einstigen Nachbarn verstellt, während man deren frei gewordenen Platz wie selbstverständlich besetzt. Für diese Lücke nicht ebenfalls eindringlichere Bilder gefunden zu haben, ist der eine, aber bezeichnende Mangel, den man dem Buch vorhalten kann.
Was nicht mehr materiell
verfügbar ist, wird
nur ansatzweise sichtbar
„In einem alten Haus in Berlin“ befindet sich im 19. Jahrhundert zunächst eine Apotheke im Erdgeschoss, zuletzt, in der Gegenwart, das „APO-Café“ mit alternativem Charme.
Foto: Gerstenberg Verlag
Thomas Harding: Das alte Haus an der Gracht. Mit Ilustrationen von Britta Teckentrup. Aus dem Englischen von Nicola T. Stuart. Jacoby & Stuart, Berlin 2023.
56 Seiten, 22 Euro.
Ab 6 Jahren.
Kathrin Wolf: In einem alten Haus in Berlin. Ein Streifzug durch 150 Jahre deutsche Geschichte. Mit Illustrationen von Isabel Kreitz. Gerstenberg, Hildesheim 2023.
64 Seiten, 28 Euro.
Ab 10 Jahren.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de