Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 6,50 €
  • Broschiertes Buch

Was ist übriggeblieben von der westdeutschen Studentenbewegung der späten sechziger Jahre? Heinz Bude nimmt ein Vierteljahrhundert später die Generation in den Blick, der der gesellschaftliche Aufbruch jener Zeit zugeschrieben wird. 1968 waren die Jahrgänge 1938 bis 1948 zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Heute befinden sich die Fünfzigjährigen in der Prominenzphase ihres Lebenslaufs. Nach dem Abtritt der 'skeptischen Generation' hat die 68er Generation im Verhältnis der Generationen die Führungsrolle übernommen. Die einstigen Rebellinnen und Rebellen der Wohlstandsgesellschaft verkörpern…mehr

Produktbeschreibung
Was ist übriggeblieben von der westdeutschen Studentenbewegung der späten sechziger Jahre? Heinz Bude nimmt ein Vierteljahrhundert später die Generation in den Blick, der der gesellschaftliche Aufbruch jener Zeit zugeschrieben wird. 1968 waren die Jahrgänge 1938 bis 1948 zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Heute befinden sich die Fünfzigjährigen in der Prominenzphase ihres Lebenslaufs. Nach dem Abtritt der 'skeptischen Generation' hat die 68er Generation im Verhältnis der Generationen die Führungsrolle übernommen. Die einstigen Rebellinnen und Rebellen der Wohlstandsgesellschaft verkörpern heute die Autorität und den Charme der neuen Bundesrepublik. Von welchen Einsichten und Überzeugungen lassen sie sich leiten? In welchen Lebensmodellen drücken sich ihre Erfahrungsbilanzen aus? Welche Praktiken der Freiheit sind aus jenen Prozessen der Befreiung hervorgegangen? Im Zentrum der Untersuchungen stehen sechs Porträts von Angehörigen der 68er Generation: drei Frauen und drei Männer, alle Stichwortgeber ihrer Generation. Ein Verleger und eine prominente Feministin, ein Professor für Gesellschaftstheorie und eine Politikerin der Grünen liefern Stoff für das Gesamtbild einer Generation, die zur Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik gehört.
Autorenporträt
Heinz Bude ist Professor für Soziologie an der Universität Kassel und ist Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995

Die Republik entläßt ihre Kinder
Heinz Bude versteht die Achtundsechziger besser als sie sich selbst / Von Patrick Bahners

Ranke bemerkt über Friedrich den Großen und Friedrich Wilhelm I., es sei "wohl nicht die Absicht der Natur und der Vorsehung bei der Aufeinanderfolge der Generationen, daß die aufwachsenden Geschlechter den vorangegangenen gleich seien und die Kinder die Lebensgedanken der Eltern noch einmal zur Erscheinung bringen". Historische Kontinuität ist etwas anderes als natürliche Entwicklung. Den Söhnen ist es bestimmt, den Vätern zu folgen, doch ihr Naturrecht müssen sie sich in der Geschichte erst erkämpfen. In der Figur der Generation erfaßt die Geschichtsschreibung das Wechselspiel von Dauer und Wandel, Alter und Jugend, Naturzeit und Geschichtszeit, Leben und Tod.

Die Einheit der Generation ist zugleich eine natürliche und eine künstliche Vorstellung; ihr Grund ist einerseits die Evidenz geteilter Erinnerung, andererseits eine mathematische Abstraktion. Wenn der Historiker von einer Generation erzählt, kann er Geschichte in ihrem Doppelsinn darstellen, als objektives Geschehen und als subjektive Erfahrung. Weil die Grenzen der Generation fließend sind, ist die Kategorie einer Wissenschaft suspekt, die das Leben im Begriff stillstellen will. Unter den Historikern sind es nicht die Fachgelehrten, sondern die Schriftsteller wie Heinrich von Treitschke und G. M. Young, deren Erzählungen sich dem Fluß der Generationen anschmiegen.

Aber ebendie quecksilberhafte Flüssigkeit der Kategorie macht ihren Wert aus. Sie erlaubt es, die unmerklichen Übergänge bemerkbar und die stillen Revolutionen hörbar zu machen. Der Geist der Zeit, der jedem vor Augen liegt und niemandem sichtbar ist, ist der metaphysische Name für das Gemeingefühl einer Generation. Wer dieses Ungreifbare begreift, kann Epochen scheiden. Über den Beginn der Renaissance sagt Ranke, schon "bei der ersten Bekanntschaft" dränge sich ein Gefühl totaler Veränderung auf. Man nehme "eine andere Welt der Gedanken wahr, eine abweichende Form des Ausdrucks, einen verschiedenen Kreis und Zusammenhang jener geistigen Tendenzen, welche alle Hervorbringung beherrschen, einen anderen Himmel, wenn wir so sagen dürfen, und eine andere Erde".

In denselben Formeln, wenn auch unter Verbergung ihrer theologischen Herkunft, beschreiben heute Zeitzeugen und Wissenschaftler die Epochenzäsur von 1968. Der Geist der Republik habe sich vollkommen verändert, und dieser Sieg zählt für die Veteranen mehr als alle Niederlagen bei der Umsetzung der Buchstaben ihrer utopischen Programme. Die Beschleunigung der Weltgeschichte hat es mit sich gebracht, daß Überlebende und Historiker der Ereignisse von 1968 oft dieselben Personen sind. Haben sie auch nicht wie der kantische Wahrsager die Begebenheiten tatsächlich gemacht, die sie einst im voraus verkündigten, so können sie nun wenigstens als rückwärtsgewandte Propheten Theorie und Praxis in der authorized version zur Deckung bringen.

In dieser Lage kann es nur belebend wirken, daß ein jüngerer Soziologe noch schneller sein will und den Protagonisten der Jugendrevolte den Spiegel vorhält, in dem sie die Spuren ihres Alterns erblicken können. Hälfte des Lebens: Die midlife crisis der Theoretiker sollte auch etwas über die Halbwertszeit ihrer Theorien aussagen. Heinz Bude war 1968 vierzehn Jahre alt. Glückliche Generation von 1954! Zu jung, um 1968 in der Universität Unfug anzurichten. Zu alt, um 1968 in der Schule Schaden zu nehmen. Für Zorn und Eifer besteht kein Anlaß.

Zwischen 1987 und 1989 hat Bude mit einundzwanzig Angehörigen der Jahrgänge 1938 bis 1948 Interviews geführt. Sechs davon druckt er in ausführlichen Auszügen, die er noch ausführlicher interpretiert. Seine Gesprächspartner sind ein Professor, ein Verleger, ein Projektmitarbeiter, eine Fernsehredakteurin, eine Frauenbeauftragte und eine Prophetin. Den Soziologen Bude beschäftigt die Normalität: das typische Schicksal jener, die keine Repräsentanten im Rampenlicht waren, aber ebendeshalb repräsentativ sind. Aber in diesem Autor steckt auch ein Historiker, von dem die Fachhistorie viel lernen kann. Er stellt Rechnungen einer Zeitökonomie auf, die für soziale Bewegungen wie für individuelle Karrieren gilt. Wann war der richtige Moment, um Lebenszeit in das Studium des "Kapitals" zu investieren? Und er zeigt, wie die Weltgeschichte auf ein Einzelleben wirkt. Die prägende Erfahrung der Achtundsechziger war nicht Achtundsechzig. In Budes Augen ist ihre Generation die der Kriegskinder - zu denen er allerdings die Angehörigen der Jahrgänge 1946 bis 1948 strenggenommen nicht zählen dürfte.

In den achtziger Jahren wurde die von Karl Dietrich Bracher und anderen herausgegebene "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" kritisiert, weil sie die mentalitätshistorischen Kapitel in einen politikgeschichtlichen Rahmen stellte, die neue Unruhe der späten Sechziger auch mit dem verlorenen Krieg und der ungelösten nationalen Frage in Verbindung brachte. Bude legt nun seelengeschichtliche Befunde für die These vor, daß für die Menschen in der angeblich unpolitischen Bundesrepublik die Politik das Schicksal war.

Unter den Sozialhistorikern ist Bude der Schriftsteller, der jenes feine Gespür hat, das man braucht, um die Generation, das scheue Wesen, zu fangen. An der abweichenden Form des Ausdrucks erkennt er tatsächlich den veränderten Kreis der geistigen Tendenzen. Daher hat er die Interviews nicht redigiert; kein Räuspern, kein Lachen hat er gelöscht; eigentlich hätte der Verlag dem Buch Tonbänder beigeben müssen. Von "dieser" Gesellschaft zu sprechen, notiert Bude, ist erst seit 1968 möglich. Auch nach dem Zerbrechen des utopischen Traums erhält in der Sprache der Glaube an die Möglichkeit anderer Gesellschaften sich. Bude ist ein besessener Leser der von ihm selbst mitproduzierten Texte. Fast könnte man von ihm wie von einem seiner Gesprächspartner sagen, daß ihm die Texte das Leben ersetzen. Die Auslegung eines einzigen mehrstündigen Interviews ersetzt jedes konventionelle biographische Verfahren. Der Autor gibt nicht zu erkennen, daß er die Bücher der Befragten gelesen oder ihre Fernsehsendungen gesehen hat. Bude hat Stifters Auge für das Unscheinbare, und es hat etwas Unheimliches, wenn aus der abseitigen Besonderheit das Allgemeine hervorspringt.

Zwei dahingeworfene Wörter werden ihm zu Bausteinen einer anthropologischen Typologie. Der Verleger nennt seinen Versuch, die Wirklichkeit immer wieder neu zu erfinden, "Basteleien". Bude assoziiert den bricoleur von Lévi-Strauss. Der Bastler arbeitet mit dem zufällig Vorhandenen; alles wird ihm zum Werkzeug für ein Projekt, an dem immer weitergebastelt werden kann. Der Arbeitersohn hingegen, der es zum Professor gebracht hat, rühmt sich, er habe seine dialektische Kritik der Kritischen Theorie "wirklich allein so ausgetüftelt". Bude postuliert den Gegentypus zum Bastler: den Tüftler. Den Bastler befriedigt die provisorische, den Tüftler die endgültige Lösung. Dem Bastler genügt es, wenn es funktioniert, der Tüftler will wissen, warum. "Der Bastler kann Lücken lassen, der Tüftler muß Lücken schließen."

Auf der Bühne von 1968 spielte der Tüftler die Rolle des Hierarchisten, der die Welt erklären und die Bewegung organisieren wollte, und der Bastler die Rolle des Experimentalisten, der auf Aktion und Spontanität setzte. Der Dritte im Bunde war der Konsensualist, unermüdlich bemüht um Verständigung zwischen Ernstmachern und Spaßmachern. Der Lebensentwurf des Experimentalisten scheint Bude am sympathischsten zu sein: der Abschied vom Prinzipiellen, der Versuch, der eigenen Generation immer schon voraus zu sein. Und tatsächlich zeigt der Soziologe als Bastler beachtliches Talent. Kein Theoriestück bleibt ungenutzt, aber keines ist so fundamental, daß das Gebäude einstürzte, zöge man es heraus. Hier wird Kohlbergs Treppe der moralischen Erziehung eingebaut, dort Derridas mystischer Grund der Autorität eingezogen. Luhmanns Drehtür ist universal verwendbar.

Um so merkwürdiger ist es, daß Budes Beschreibung der eigenen Methode der Arbeitsplan eines Tüftlers ist. "Vereinzelte Fäden verknüpfen sich, Lücken füllen sich, und erstaunliche Verbindungen stellen sich her. Das scheinbar völlig Zufällige und Belanglose der einzelnen Äußerungen ordnet sich mehr und mehr zu einer erkennbaren Struktur. Wie beim Legen eines Puzzles werden die Anschlüsse zunehmend schlüssiger, bis zu guter Letzt das in sich notwendige Ganze erscheint." Den Bastler langweilt das Puzzle, weil es nur eine Lösung geben kann. Die Lösung, die der Tüftler Bude sucht, ist "das verborgene Muster, nach dem sich ein Leben lebt". Wie bei vielen Tüftlern besteht nun ein komischer Kontrast zwischen dem Aufwand der Methode und der Absehbarkeit des Ergebnisses. Das verborgene Muster ist nämlich jedesmal dasselbe. Es ist, als sähe man jemandem zu, der sechsmal aus 5000 Teilen das Schloß Neuschwanstein zusammensetzt.

Die Kriegskinder haben ihre Kriegskindheit nie hinter sich gelassen. Mehr als Kinder zu allen anderen Zeiten waren sie für das Überleben auf die Eltern, vor allem die Mutter, angewiesen. Die elterliche Autorität wuchs ins Grenzenlose und mußte deshalb kollabieren. 1968 markiert nach Bude keinen Aufstand gegen die Eltern, sondern den Versuch, ihre Autorität zu restaurieren: durch Übertragung der elterlichen Macht auf eine Gruppe oder eine Theorie, durch sozialen Aufstieg als stellvertretenden Erfolg. Für Bude ist es die Absicht der Natur bei der Aufeinanderfolge der Generationen, daß die Kinder die Lebensgedanken der Eltern noch einmal zur Erscheinung bringen.

Diese Perspektive wirft gewiß ein interessantes Licht auf die autoritären Züge der vorgeblichen Emanzipationsbewegung. Auch ermöglicht sie schmerzhaft feine Beobachtungen im individuellen Fall. Während aber die Wiederholbarkeit eines Experiments gewöhnlich als Verifikation der geprüften Theorie gilt, weckt hier das Stereotype der Befunde Zweifel an der Methode. Das Puzzle geht jedesmal auf, weil der Tüftler selber die Teile ausgeschnitten hat. Der Projektmitarbeiter wurde von der Bewegung, für die er sich opferte, genauso abgestoßen wie von den Eltern, deren Ehe er rettete. Der Professor unterwirft die Wissenschaft einer Radikalkritik und kommt von ihr doch ebensowenig los wie von der Arbeiterfamilie, aus der ihn die Wissenschaft befreien sollte. Die Frauenbeauftragte verpaßte deswegen eine Universitätskarriere, weil ihr marxistischer Hochmut den Standesdünkel der adeligen Mutter wiederholte.

Die fünfzehn anderen Befragten, die sich hier nicht seziert finden, dürfen aufatmen. Den Frauen bleibt der Nachweis erspart, makrobiotische Ernährung befriedige eine inzestuöse "Geliebtenphantasie", über deren reale Grundlage der Autor "nur spekulieren" kann. Und die Männer müssen sich nicht sagen lassen, die Suche nach der "richtigen Linie" in theoretischen Dingen kompensiere die Erschütterung angesichts des jämmerlichen Anblicks der deutschen Truppen im Jahre 1945. Von der "Lebenskonstruktion" seiner Gesprächspartner läßt Bude buchstäblich nichts übrig. Die Emanzipation war eine Selbsttäuschung; der Versuch, dem Schicksal zu entkommen, führte nur tiefer in die Verstrickung.

Es ist seltsam, daß Bude die Lebenslügen der Individuen vernichtet, aber die Mythen der Generation nicht antastet. Aus all den gescheiterten Befreiungsversuchen soll zu guter Letzt nämlich doch jene "Fundamentalliberalisierung" der deutschen Gesellschaft entsprungen sein, die die herrschende Meinung auf 1968 zurückführt. Zustimmend zitiert Bude aus der Rede Richard von Weizsäckers zum 3. Oktober 1990: "Die Jugendrevolte am Ende der sechziger Jahre trug allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft bei." Nach dieser säkularen Heilsökonomie haben Rektoratsbesetzungen, Straßenschlachten und Kaufhausbrände also segensreiche Frucht getragen. Die Gewalt gegen Sachen hat am Ende den Menschen gedient. Diese Form der Theodizee taugt für Sonntagsreden, nicht für den Werktag der Wissenschaft.

Doch Bude glaubt wie Weizsäcker an die Dialektik, was nur beweist, daß die Zugehörigkeit zu den Achtundsechzigern keine Frage des Geburtsjahrs ist. "Es gehört zum Wesen des geschichtlichen Prozesses", so beginnt die Darstellung, "daß zwischen den Motiven und den Konsequenzen des Handelns keine lineare Verbindung besteht". Das Unglück der Individuen hat das Glück der Gesellschaft hervorgebracht. "Soziologische Porträts zeigen, wie sich das Gesetz der Gesellschaft und der Geschichte, was auch immer die Leute machen und tun, erfüllt." Alles, was in den Interviews gesagt werde, streife "irgendwie den Tod". Das ist im Original bei Hegel, dem größten Tüftler von allen, doch noch eine Spur eindrucksvoller formuliert: "Das Partikuläre ist meistens zu gering gegen das Allgemeine, die Individuen werden aufgeopfert und preisgegeben. Die Idee bezahlt den Tribut des Daseins und der Vergänglichkeit nicht aus sich, sondern aus den Leidenschaften der Individuen."

Heinz Bude: "Das Altern einer Generation". Die Jahrgänge 1938 bis 1948. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 373 S., geb., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr