Essays von Karl Ove Knausgård
Warum schreiben, warum malen, warum fotografieren? Warum lesen, warum Gemälde betrachten, warum in Galerien gehen? Kann es dabei um etwas anderes gehen als um die großen Fragen des Lebens? Und was hat diese Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben zu tun?
Das Amerika der Seele ist eine Sammlung von Texten, die einen weiten Bogen spannen: von der Gnade, die darin liegen kann, der Beerdigung des eigenen Vaters beizuwohnen, bis zur Bedeutung der Einsamkeit in den Bildern der US-amerikanischen Fotokünstlerin Francesca Woodman. Vom Massaker auf Utøya bis zu Knut Hamsuns missglücktem Meisterwerk »Mysterien«.
Warum schreiben, warum malen, warum fotografieren? Warum lesen, warum Gemälde betrachten, warum in Galerien gehen? Kann es dabei um etwas anderes gehen als um die großen Fragen des Lebens? Und was hat diese Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben zu tun?
Das Amerika der Seele ist eine Sammlung von Texten, die einen weiten Bogen spannen: von der Gnade, die darin liegen kann, der Beerdigung des eigenen Vaters beizuwohnen, bis zur Bedeutung der Einsamkeit in den Bildern der US-amerikanischen Fotokünstlerin Francesca Woodman. Vom Massaker auf Utøya bis zu Knut Hamsuns missglücktem Meisterwerk »Mysterien«.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Peter Praschl erfährt aus den Essays Karl Ove Knausgards, wie der Mann denkt, wenn er nicht erzählt. Er trifft auf Argumente und Außenwelt, auf die Gedanken des Autor zu den Fotos von Cindy Sherman, zu Hamsuns "Mysterien", zu Breivik oder zu Wolken, und staunt über die Fähigkeit des Autors zur Abstraktion. Vor allem ab Seite 203, wo sich Knausgard ausführlich über die Empfindung des Scheißenmüssens und seine Beziehung zum Tod auslässt, und der Rezensent, dem jetzt nichts erspart bleibt, feststellt, wie weit das Vermögen des Autors, Individualität in Allgemeines zu überführen, tatsächlich reicht. Allein diesen Text findet Praschl furios. Wen das Thema nicht so interessiert, meint er, der kann sich ja immer noch mit den siebzehn anderen Essays beschäftigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2016Alles im Windeleimer
Kulturrevolutionär am Väterstammtisch: Karl Ove Knausgårds Essays geben Einblick
in den Stoffwechselprozess seines Schreibens und zeigen, wofür er kämpft
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Der abschließende Essay in diesem Band, der Vorträge, Katalogtexte und Zeitungsbeiträge aus den Jahren 1996 bis 2013 von Karl Ove Knausgård versammelt, liest sich aus deutscher Sicht wie ein flammendes Plädoyer für die Beibehaltung der Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen der VG Wort, über die derzeit heftig gestritten wird. „Dorthin, wohin die Erzählung nicht kommt“ lautet der Titel dieser Hommage Knausgårds an seinen Lektor, ohne den es seine Bücher, wie er schreibt, genauso wenig gäbe wie den Schriftsteller Karl Ove Knausgård. Denn sein Lektor müsse absolut alles von ihm lesen, bevor es veröffentlicht werde, „sogar den kleinsten Zeitungsartikel“.
Den größten Beitrag leisteten Lektorat und Verlag aber zum Zustandekommen des autofiktionalen Romanprojekts „Min Kamp“, dessen sechster und letzter Teil „Kämpfen“ auf Deutsch im kommenden Frühjahr erscheint. Dieser Beitrag bestand vor allem in verlegerischer Risikobereitschaft. Immerhin schlug Knausgård damals bei seinem Verlag Oktober mit einem Konvolut von zwölfhundert Manuskriptseiten auf, aus dem dann die ersten beiden Bände hervorgingen, sowie dem Kamikaze-Vorschlag, fortlaufend vier weitere Romane für den Herbst und das Frühjahr zu liefern – alle drei Monate einen, und das, nachdem ihn zuvor eine Schreibblockade fünf Jahre lang lahmgelegt hatte. Thema des Ganzen sollte nichts anderes sein als das eigene Leben des Autors.
Das Bild vom einsamen Schöpfer, vermeintliches Kennzeichen des Originalgenies, weist Knausgård für sich selbst ebenso zurück wie die Vorstellung, dass literarisches Schreiben etwas mit Handwerk zu tun habe. Beim Schreiben gebe es keine Techniken, die eingeübt werden könnten, „Fehler zu machen“ sei vielmehr das Ziel, der Mut zum Scheitern.
Knausgård-Leser erfahren hier, so unterschiedlich die Gegenstände seiner Betrachtungen auch sind, eine Menge über den Entstehungsprozess des monomanischen literarischen Selfies, das den Autor weltberühmt gemacht hat. Es sollen ja überwiegend männlicheLeser sein, denen die Knausgård-Exegese ein Stecken und Stab ist, an dem sie ihr von Elternzeit, Frondienst am Windeleimer und als Gängelei empfundenen Diversitäts-Zumutungen gebeugtes Ego aufzurichten suchen. In ihm sehen sie einen Leidensgenossendomestizierter Männlichkeit. Knausgård ist der Schmerzensmann am Väterstammtisch seines gekränkten Geschlechts, einer, der – im Essay über die Fotokünstlerin Francesca Woodman – einfach mal einen Satz raushaut wie diesen: „Dieses Frauenzeug, das mir direkt ins Gesicht geschleudert wurde, ging mir auf die Nerven.“
Die Essays aber enttäuschen die Erwartung, dass seine Romaneso formlos und unmittelbar aus ihm herausbluten wie aus einer offenen Wunde. Karl Ove Knausgård ist sich des konstruktiven Moments, der Literarizität seines Erzählexperiments offenbar klar bewusst. Über die Sehnsucht nach Wirklichkeit, die David Shields in seinem Buch „Reality Hunger“ beschreibt, heißt es: „Wir alle kennen diese Sehnsucht, wir wollen das Echte, wir wollen das Authentische, wir wollen die Welt zurück. Das aber geht nicht, denn wir wissen, dass das Ursprüngliche auch nur eine Vorstellung ist, nicht wirklicher als ein Traum.“
Bei keinem anderen Autor vergießt ein Ich-Erzähler so viele Tränen wie bei Knausgård. Seine Romane sind nah am Wasser gebaut, und doch geht es ihm nicht um einen neuen Kult der Empfindsamkeit, sondern um den Beweis, „dass ich tatsächlich schreiben und nicht nur fühlen konnte“. Und dabei sei der wichtigste Abstand „der zwischen dem ,ich‘ und demjenigen, der ,ich‘ schreibt.“
Das klingt nach Haftungsausschluss, und bisweilen dient die Form des Essays ihm schon auch als Disclaimer. Insbesondere mit den Standpunkten, die sein Alter Ego in den Romanen vertritt, möchte der Autor Knausgård nicht identifiziert werden. In den schwedischen Medien wurde „Min Kamp“ als misogyn und „intimfaschistisch“ kritisiert und er selbst mit dem Massenmörder Anders Breivik verglichen. Sein bekanntester Essay handelt von Breivik, in dessen Identitätsideologie Knausgård tatsächlich so etwas wie ein monströses Zerrbild seiner selbst erkennt. „Heute war nicht mehr der einzigartige Mensch das Ideal, sondern der gleiche, und nicht die einzigartige Kunst, sondern die multikulturelle, so dass alle Museen ( . . . ) im Grunde Museen von Museen waren“, schreibt er fast schon pegidistisch im Roman „Lieben“.
Wie in fast allen anderen Bänden ist auch dort das Fleisch des Erzählens von dicken Knorpelschichten kulturkritischer Reflexion durchzogen. Obwohl er in den Essays nie so deutlich wird wie in den Romanen, heißt es einmal: „Ich selbst bin, das habe ich in den letzten paar Jahren eingesehen, bis ins Mark reaktionär.“ Knausgård beklagt die lähmende „neomoralische Welle“, die universelle „Gleichheitsideologie, die im Grunde eine Geldideologie ist“. Alles sei heute egalitär und damit alles egal. Es gibt eine starke Ordo-Sehnsucht bei ihm, nach dem Absoluten, Nicht-Relativen, Nicht-Verhandelbaren.
Daher rührt auch sein Widerwille gegen die Populärkultur. Das kollektive Wir sei entwertet, es habe sich in sein Gegenteil verkehrt, in etwas, in dem Identität verschwinde. Es sei von einem Trost zu einer Bedrohung geworden. Am prägnantesten kommt diese Haltung in dem Essay „Bibelhelfer“ zum Ausdruck. Knausgårdarbeitet beratend mit an einer neuen Bibelübersetzung und stellt fest, dass es unmöglich ist, eine neue Sprachgestalt zu finden, die anschlussfähig sei, aber darum nicht gleich nach Hemingway klinge. Denn das Populäre sei heute korrumpiert durch den Mainstream, der Sphäre des Konsums und der Betäubung verfallen.
Aus diesem Unbehagen an der Moderne, das immer schon integraler Bestandteil der Moderne war, speist sich Knausgårds agonaler, bilderstürmerischer und, so könnte man sagen, neo-vitalistischer Kunstbegriff. „Damit Literatur entstehen kann, muss das Markante in Thematik und Stil niedergerissen werden. Dieses Niederreißen ist es, was man ,schreiben‘ nennt“, dekretiert er im Roman „Sterben“. „Beim Schreiben geht es eher ums Zerstören als ums Erschaffen.“ In den Essays charakterisiert er sein ästhetisches Programm dialektisch, als „Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion“.
In Knut Hamsun, für Knausgård eine Portalfigur seiner literarischen Sozialisation, erkennt er einen frühen Chronisten der Massengesellschaft, „einer schäbigen Moderne, einer Mitten-in-der-Welt-Moderne im Zeichen von Entwurzelung, Raubbau, Fortschritt“, unbehaust in einem „Amerika der Seele“, das der Nihilist Hamsun zu seiner Zeit beschrieb. Und in seinem Text „Der braune Schwanz“ spitzt er die Kritik an einer Gesellschaft, die ihren Zwangscharakter verschleiere, provokativ zu, indem er ungeniert über seinen Ausscheidungsvorgang berichtet, das Intimste also demonstrativ öffentlich macht. Aufschlussreicher als sein körperlicher Stoffwechsel ist allerdings sein intellektueller Metabolismus. Denn nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in seinen Essays erweist sich Karl Ove Knausgård vor allem als Porträtist seiner selbst. Ein gelegentlich etwas verquerer Prophet des Weltuntergangs im Windeleimer.
Wie übersetzt man die Bibel
neu, ohne dass es gleich nach
Hemingway klingt?
Karl Ove Knausgård:
Das Amerika der Seele.
Essays 1996–2013. Aus dem
Norwegischen von Paul Berf
und Ulrich Sonnenberg.
Luchterhand Literaturverlag,
München 2016. 496 Seiten,
24 Euro. E-Book 18,99 Euro.
Anfang der Siebziger
brachte der ungarische
Fotograf André Kertész
ein Buch als Liebes-
erklärung an das Lesen
heraus: „Über das Lesen“.
Es war eine Sammlung
von Bildern lesender
Menschen, die Kertész im
Laufe seines Fotografen-
lebens gesammelt hatte.
Der Amerikaner
Steve McCurry lebte
als junger Mann mit
dem damals schon
berühmten Kertész
in einem Haus in New York. McCurrys Band ist eine
Hommage an seinen
ehemaligen Mitbewohner.
Manche Motive Kertész’
tauchen auch bei ihm
wieder auf: Kertész
fotografierte einen Mann
im Anzug auf einer Leiter
vor einer gigantischen
Bücherwand in der
Académie française.
McCurry zeigt ebenfalls
eine gigantische Bücherwand,
sie steht im Real Gabinete
Português de Leitura
in Rio de Janeiro –
und davor eine Frau in
Latzhosen.
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Kulturrevolutionär am Väterstammtisch: Karl Ove Knausgårds Essays geben Einblick
in den Stoffwechselprozess seines Schreibens und zeigen, wofür er kämpft
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Der abschließende Essay in diesem Band, der Vorträge, Katalogtexte und Zeitungsbeiträge aus den Jahren 1996 bis 2013 von Karl Ove Knausgård versammelt, liest sich aus deutscher Sicht wie ein flammendes Plädoyer für die Beibehaltung der Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen der VG Wort, über die derzeit heftig gestritten wird. „Dorthin, wohin die Erzählung nicht kommt“ lautet der Titel dieser Hommage Knausgårds an seinen Lektor, ohne den es seine Bücher, wie er schreibt, genauso wenig gäbe wie den Schriftsteller Karl Ove Knausgård. Denn sein Lektor müsse absolut alles von ihm lesen, bevor es veröffentlicht werde, „sogar den kleinsten Zeitungsartikel“.
Den größten Beitrag leisteten Lektorat und Verlag aber zum Zustandekommen des autofiktionalen Romanprojekts „Min Kamp“, dessen sechster und letzter Teil „Kämpfen“ auf Deutsch im kommenden Frühjahr erscheint. Dieser Beitrag bestand vor allem in verlegerischer Risikobereitschaft. Immerhin schlug Knausgård damals bei seinem Verlag Oktober mit einem Konvolut von zwölfhundert Manuskriptseiten auf, aus dem dann die ersten beiden Bände hervorgingen, sowie dem Kamikaze-Vorschlag, fortlaufend vier weitere Romane für den Herbst und das Frühjahr zu liefern – alle drei Monate einen, und das, nachdem ihn zuvor eine Schreibblockade fünf Jahre lang lahmgelegt hatte. Thema des Ganzen sollte nichts anderes sein als das eigene Leben des Autors.
Das Bild vom einsamen Schöpfer, vermeintliches Kennzeichen des Originalgenies, weist Knausgård für sich selbst ebenso zurück wie die Vorstellung, dass literarisches Schreiben etwas mit Handwerk zu tun habe. Beim Schreiben gebe es keine Techniken, die eingeübt werden könnten, „Fehler zu machen“ sei vielmehr das Ziel, der Mut zum Scheitern.
Knausgård-Leser erfahren hier, so unterschiedlich die Gegenstände seiner Betrachtungen auch sind, eine Menge über den Entstehungsprozess des monomanischen literarischen Selfies, das den Autor weltberühmt gemacht hat. Es sollen ja überwiegend männlicheLeser sein, denen die Knausgård-Exegese ein Stecken und Stab ist, an dem sie ihr von Elternzeit, Frondienst am Windeleimer und als Gängelei empfundenen Diversitäts-Zumutungen gebeugtes Ego aufzurichten suchen. In ihm sehen sie einen Leidensgenossendomestizierter Männlichkeit. Knausgård ist der Schmerzensmann am Väterstammtisch seines gekränkten Geschlechts, einer, der – im Essay über die Fotokünstlerin Francesca Woodman – einfach mal einen Satz raushaut wie diesen: „Dieses Frauenzeug, das mir direkt ins Gesicht geschleudert wurde, ging mir auf die Nerven.“
Die Essays aber enttäuschen die Erwartung, dass seine Romaneso formlos und unmittelbar aus ihm herausbluten wie aus einer offenen Wunde. Karl Ove Knausgård ist sich des konstruktiven Moments, der Literarizität seines Erzählexperiments offenbar klar bewusst. Über die Sehnsucht nach Wirklichkeit, die David Shields in seinem Buch „Reality Hunger“ beschreibt, heißt es: „Wir alle kennen diese Sehnsucht, wir wollen das Echte, wir wollen das Authentische, wir wollen die Welt zurück. Das aber geht nicht, denn wir wissen, dass das Ursprüngliche auch nur eine Vorstellung ist, nicht wirklicher als ein Traum.“
Bei keinem anderen Autor vergießt ein Ich-Erzähler so viele Tränen wie bei Knausgård. Seine Romane sind nah am Wasser gebaut, und doch geht es ihm nicht um einen neuen Kult der Empfindsamkeit, sondern um den Beweis, „dass ich tatsächlich schreiben und nicht nur fühlen konnte“. Und dabei sei der wichtigste Abstand „der zwischen dem ,ich‘ und demjenigen, der ,ich‘ schreibt.“
Das klingt nach Haftungsausschluss, und bisweilen dient die Form des Essays ihm schon auch als Disclaimer. Insbesondere mit den Standpunkten, die sein Alter Ego in den Romanen vertritt, möchte der Autor Knausgård nicht identifiziert werden. In den schwedischen Medien wurde „Min Kamp“ als misogyn und „intimfaschistisch“ kritisiert und er selbst mit dem Massenmörder Anders Breivik verglichen. Sein bekanntester Essay handelt von Breivik, in dessen Identitätsideologie Knausgård tatsächlich so etwas wie ein monströses Zerrbild seiner selbst erkennt. „Heute war nicht mehr der einzigartige Mensch das Ideal, sondern der gleiche, und nicht die einzigartige Kunst, sondern die multikulturelle, so dass alle Museen ( . . . ) im Grunde Museen von Museen waren“, schreibt er fast schon pegidistisch im Roman „Lieben“.
Wie in fast allen anderen Bänden ist auch dort das Fleisch des Erzählens von dicken Knorpelschichten kulturkritischer Reflexion durchzogen. Obwohl er in den Essays nie so deutlich wird wie in den Romanen, heißt es einmal: „Ich selbst bin, das habe ich in den letzten paar Jahren eingesehen, bis ins Mark reaktionär.“ Knausgård beklagt die lähmende „neomoralische Welle“, die universelle „Gleichheitsideologie, die im Grunde eine Geldideologie ist“. Alles sei heute egalitär und damit alles egal. Es gibt eine starke Ordo-Sehnsucht bei ihm, nach dem Absoluten, Nicht-Relativen, Nicht-Verhandelbaren.
Daher rührt auch sein Widerwille gegen die Populärkultur. Das kollektive Wir sei entwertet, es habe sich in sein Gegenteil verkehrt, in etwas, in dem Identität verschwinde. Es sei von einem Trost zu einer Bedrohung geworden. Am prägnantesten kommt diese Haltung in dem Essay „Bibelhelfer“ zum Ausdruck. Knausgårdarbeitet beratend mit an einer neuen Bibelübersetzung und stellt fest, dass es unmöglich ist, eine neue Sprachgestalt zu finden, die anschlussfähig sei, aber darum nicht gleich nach Hemingway klinge. Denn das Populäre sei heute korrumpiert durch den Mainstream, der Sphäre des Konsums und der Betäubung verfallen.
Aus diesem Unbehagen an der Moderne, das immer schon integraler Bestandteil der Moderne war, speist sich Knausgårds agonaler, bilderstürmerischer und, so könnte man sagen, neo-vitalistischer Kunstbegriff. „Damit Literatur entstehen kann, muss das Markante in Thematik und Stil niedergerissen werden. Dieses Niederreißen ist es, was man ,schreiben‘ nennt“, dekretiert er im Roman „Sterben“. „Beim Schreiben geht es eher ums Zerstören als ums Erschaffen.“ In den Essays charakterisiert er sein ästhetisches Programm dialektisch, als „Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion“.
In Knut Hamsun, für Knausgård eine Portalfigur seiner literarischen Sozialisation, erkennt er einen frühen Chronisten der Massengesellschaft, „einer schäbigen Moderne, einer Mitten-in-der-Welt-Moderne im Zeichen von Entwurzelung, Raubbau, Fortschritt“, unbehaust in einem „Amerika der Seele“, das der Nihilist Hamsun zu seiner Zeit beschrieb. Und in seinem Text „Der braune Schwanz“ spitzt er die Kritik an einer Gesellschaft, die ihren Zwangscharakter verschleiere, provokativ zu, indem er ungeniert über seinen Ausscheidungsvorgang berichtet, das Intimste also demonstrativ öffentlich macht. Aufschlussreicher als sein körperlicher Stoffwechsel ist allerdings sein intellektueller Metabolismus. Denn nicht nur in seinen Romanen, sondern auch in seinen Essays erweist sich Karl Ove Knausgård vor allem als Porträtist seiner selbst. Ein gelegentlich etwas verquerer Prophet des Weltuntergangs im Windeleimer.
Wie übersetzt man die Bibel
neu, ohne dass es gleich nach
Hemingway klingt?
Karl Ove Knausgård:
Das Amerika der Seele.
Essays 1996–2013. Aus dem
Norwegischen von Paul Berf
und Ulrich Sonnenberg.
Luchterhand Literaturverlag,
München 2016. 496 Seiten,
24 Euro. E-Book 18,99 Euro.
Anfang der Siebziger
brachte der ungarische
Fotograf André Kertész
ein Buch als Liebes-
erklärung an das Lesen
heraus: „Über das Lesen“.
Es war eine Sammlung
von Bildern lesender
Menschen, die Kertész im
Laufe seines Fotografen-
lebens gesammelt hatte.
Der Amerikaner
Steve McCurry lebte
als junger Mann mit
dem damals schon
berühmten Kertész
in einem Haus in New York. McCurrys Band ist eine
Hommage an seinen
ehemaligen Mitbewohner.
Manche Motive Kertész’
tauchen auch bei ihm
wieder auf: Kertész
fotografierte einen Mann
im Anzug auf einer Leiter
vor einer gigantischen
Bücherwand in der
Académie française.
McCurry zeigt ebenfalls
eine gigantische Bücherwand,
sie steht im Real Gabinete
Português de Leitura
in Rio de Janeiro –
und davor eine Frau in
Latzhosen.
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