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Ein Mythos bröckelt: Das nach dem Krieg vom Auswärtigen Amt verbreitete Geschichtsbild erweist sich als Legende
Der Mythos, das Auswärtige Amt sei von 1933 bis 1945 ein Hort des Widerstands gewesen, gehört zu den langlebigsten Legenden über das Dritte Reich. Wie aber verhielten sich die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes nach Hitlers Machtübernahme wirklich? Und wie stellten sie sich dann in der Bundesrepublik zu ihrer Vergangenheit? Vom ersten Tag an war das Auswärtige Amt unmittelbar in die Gewaltpolitik des NS-Regimes eingebunden. Es schirmte die "Judenpolitik" des Dritten Reichs nicht…mehr

Produktbeschreibung
Ein Mythos bröckelt: Das nach dem Krieg vom Auswärtigen Amt verbreitete Geschichtsbild erweist sich als Legende

Der Mythos, das Auswärtige Amt sei von 1933 bis 1945 ein Hort des Widerstands gewesen, gehört zu den langlebigsten Legenden über das Dritte Reich. Wie aber verhielten sich die Angehörigen des Auswärtigen Dienstes nach Hitlers Machtübernahme wirklich? Und wie stellten sie sich dann in der Bundesrepublik zu ihrer Vergangenheit? Vom ersten Tag an war das Auswärtige Amt unmittelbar in die Gewaltpolitik des NS-Regimes eingebunden. Es schirmte die "Judenpolitik" des Dritten Reichs nicht nur nach außen ab, sondern war in allen Phasen aktiv an ihr beteiligt. Überall in Europa fungierten deutsche Diplomaten als Wegbereiter der "Endlösung", sie wirkten mit an der "Erfassung" der Juden und an ihrer Deportation. Opposition aus dem Auswärtigen Dienst heraus blieb individuell und die Ausnahme. Nach Kriegsende wurden nur wenige Beamte für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen, vielekonnten auf ihre Wiederverwendung hoffen und setzten ihre Karriere fort.

Noch auf Jahrzehnte lagen über den außenpolitischen Entscheidungen der Bundesrepublik die Schatten der Vergangenheit. Gestützt auf zahlreiche bis heute unter Verschluss gehaltene Akten, räumt das Buch mit alten Legenden auf und korrigiert das Geschichtsbild einer der wichtigsten politischen Funktionseliten des Landes.
Autorenporträt
Conze, Eckart
Eckart Conze, geboren 1963, ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Von ihm zuletzt erschienen: "Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis in die Gegenwart" (2009) und "Das Amt und die Vergangenheit. Deutschen Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik" (mit N. Frei, P. Hayes und M. Zimmermann, 2010).

Frei, Norbert
Norbert Frei, geboren 1955, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena, von ihm zuletzt (zusammen mit Ralf Ahrens, Jörg Osterloh, Tim Schanetzky): Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, München 2009

Hayes, Peter
Peter Hayes, geboren 1946, Professor of History and German an der Northwestern University Evanston, Illionois, von ihm zuletzt: Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft, München 2004, Mitherausgeber des Oxford Handbook of Holocaust Studies, Oxford 2010

Zimmermann, Moshe
Moshe Zimmermann, geboren 1943, Professor für Neuere Geschichte an der Hebrew University Jerusalem, von ihm zuletzt: Deutsche gegen Deutsche Das Schicksal der Juden 1938-1945, Berlin 2008

Dr. phil. Peter Hayes ist Professor für Geschichte und Holocaust Studies an der Northwestern University in Evanston, USA.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein großes, wichtiges Buch. Auf einer ganzen Seite widmet sich Nils Minkmar dieser Studie, in der das von Joschka Fischer beauftragte Forscherteam von Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann seine Ergebnisse zur Verstrickung des Auswärtigen Amts in die nationalsozialistische Mordmaschinerie zusammenträgt. Für den Rezensenten kann kein Zweifel mehr daran bestehen, wie willig und wie gründlich die selbstdeklarierte Elite der deutschen Verwaltung die NS-Politik unterstützte. Schon 1933, als noch kein Nazi das Auswärtige Amt zu irgendetwas hätte zwingen können, erließen seine Spitzenbeamte Denkschriften, in denen die Verfolgung der Juden aufs Infamste begründet und gerechtfertigt wurde. Auch beim Erfassen und Aufspüren der jüdischen Bevölkerung im besetzten Europa wirkten die Edelbeamte tatkräftig mit, wenn es Protest kam, dann nur, wie Minkmar in aller Deutlichkeit vermerkt, weil das Morden nicht schnell genug lief. Für den Rezensenten steht nach der Lektüre fest, dass das Auswärtige Amt eine verbrecherische Organisation war, und nur kopfschüttelnd und ungläubig kann er daran zurückdenken, wie lange und wie erfolgreich die Diplomaten - allen voran Ernst von Weizsäcker - von sich das Bild "tragisch scheiternder Verantwortungsethiker" durchsetzen konnten, die mithilfe des diplomatischen Protokolls Schlimmeres verhinderten. Nein, nein, beim großen Morden, hält Minkmar fest, gaben die "am besten ausgebildeten, kultiviertesten Männer ihrer Zeit" ihr Bestes.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2010

Zweck der Dienstreise: "Liquidation von Juden"
Das schiere Ausmaß, in dem die angeblich sauber gebliebenen Diplomaten beim Völkermord kollaborierten, ist schockierend: ein Gespräch mit dem Historiker Eckart Conze und Thomas Karlauf, der "Das Amt" publizistisch betreute

In Ihrem Buch "Das Amt" legen Sie offen, wie sehr das Auswärtige Amt von der nationalsozialistischen Mission durchdrungen war und die Gewaltpolitik des Dritten Reiches mit getragen und ausgeführt hat. Muss man im Auswärtigen Amt Angst vor dem Buch haben?

Conze: Im Gegenteil. Das Auswärtige Amt hat allen Anlass, das Buch zu begrüßen. Das Amt selbst hat diese Untersuchung in Auftrag gegeben, weil man erkannt hatte, dass sein über Jahrzehnte gepflegtes Geschichtsbild ein Mythos war, der mit den tatsächlichen Entwicklungen nichts zu tun hatte. Sicher, die Geschichte, die das Buch erzählt, ist schwerlich geeignet zur positiven Traditionsbildung. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um ein Geschichtsbild, das dem heutigen Selbstverständnis des Auswärtigen Amtes als zentrale politische Institution in einem freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen entspricht.

Das Auswärtige Amt hielt bisher erfolgreich am Bild einer Institution fest, die sich vom Nationalsozialismus abschirmte und vom Widerstand geprägt war. Jetzt wissen wir, es war ganz anders. Worüber sind Sie am meisten erschüttert?

Conze: Das schiere Ausmaß, in dem die nationalkonservative Oberschicht kooperierte und kollaborierte. Wie sie nach 1945, im Bewusstsein der historischen Schuld, mit allen Mitteln versuchte, sich reinzuwaschen - publizistisch, vor Gericht und politisch. Das ist in dieser Gesamtschau tatsächlich schockierend. Das alles in einem großen Zusammenhang zu sehen, die Zeit vor 1945, nach 1945 und nach 1951, nach der Wiedergründung des Amtes, und die Systematik der Mittäterschaft sowohl an einzelnen Figuren als auch an ganzen Netzwerken zu erkennen, ist in seinem Ergebnis erschreckend, selbst für erfahrene Historiker, die sich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust beschäftigt haben.

Bezeichnenderweise fand sich im Archiv des Auswärtigen Amtes 1947 die einzige Kopie des Protokolls der Wannsee-Konferenz, auf der die sogenannte Endlösung der Judenfrage koordiniert wurde. Im Licht der jetzt zutage geförderten Erkenntnisse erscheint dieser Fund geradezu gespenstisch.

Conze: Das Auswärtige Amt war an allen Maßnahmen der Verfolgung, Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung der Juden von Anfang an aktiv beteiligt. Ehemalige Diplomaten wiesen die alleinige Schuld später gern den Ribbentrop-Leuten zu, insbesondere dem "Judenreferat", das als eine Art Schaltstelle zwischen Auswärtigem Amt und Reichssicherheitshauptamt fungierte und die Maßnahmen zur "Endlösung" in die entsprechenden diplomatischen Kanäle leitete. Dass die Vernichtung der Juden das große Projekt erst von 1941/42 an war, stimmt aber nicht. Schon seit dem 30. Januar 1933 gab es eine unglaubliche Dynamik antisemitischer Politik, die sich beschleunigte, radikalisierte - ein Prozess, den kluge Beobachter und Akteure deutlich erkannten und an dem sie sich dennoch beteiligten. Das gilt besonders für die Spitzendiplomaten. Die Zielmarke "Endlösung" war schon sehr früh erkennbar. Auch wenn das zunächst nicht notwendigerweise physische Vernichtung bedeutete, sondern bis 1940/41 noch genauso gut Vertreibung nach Madagaskar meinen konnte.

Regte sich gegen diesen Automatismus der sich fortwährend radikalisierenden "Judenfrage" innerhalb des Auswärtigen Amtes kein Widerstand?

Conze: Es gab im Auswärtigen Amt keine grundlegenden Debatten über die Judenpolitik. Debatten gab es über die Wahrnehmung und Wirkung dieser Politik im Ausland. Das zeigte sich auch in der Frage der Ausbürgerung prominenter Deutscher, unter ihnen Albert Einstein und Thomas Mann. Diejenigen, die sich im Amt gegen die Ausbürgerung der beiden aussprachen, taten dies nicht aus prinzipiellen Erwägungen, sondern aus einer außenpolitischen Logik heraus.

Sie haben einen Brief gefunden, in dem sich Ernst von Weizsäcker im Frühjahr 1936 für die Ausbürgerung Thomas Manns ausspricht. Weizsäcker war damals Gesandter in Bern und reagierte damit auf den berühmten Artikel von Thomas Mann in der "Neuen Zürcher Zeitung". Hat Weizsäcker die Ausbürgerung von Thomas Mann ausgelöst?

Conze: Bis dahin war es dem Auswärtigen Amt gelungen, dem Drängen des Innenministeriums und dem Drängen von Goebbels mit dem einfachen Argument standzuhalten, der Schaden für das Deutsche Reich sei zu groß, würde man Thomas Mann ausbürgern. In dem Augenblick, in dem ein Spitzendiplomat, der von Amts wegen immer Rücksicht auf die Außenwirkung bestimmter Vorgänge nehmen musste, sagte: Jetzt ist unsere Geduld am Ende . . .

Karlauf: . . . gab man Goebbels zu verstehen: Wir geben ihn frei!

Zweieinhalb Jahre später, im November 1938, kurz nach den Pogromen, sagte Ernst von Weizsäcker, inzwischen zum Staatssekretär befördert, zu dem Schweizer Gesandten in Paris, die Juden müssten Deutschland verlassen, "sonst gingen sie eben über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen". War das nicht eine hellsichtige Warnung?

Karlauf: Drei Tage vor dieser Äußerung, am 12. November, hatte Göring auf einer Konferenz, auf der die nächsten Schritte gegen die Juden nach dem Pogrom koordiniert werden sollten, die Drohung ausgesprochen, dass "eine große Abrechnung an den Juden" unausweichlich sei. Auch das AA hat an dieser Sitzung teilgenommen. Aber das Wörtchen "eben" macht mich doch stutzig, den Weizsäcker-Satz als eine Warnung zu verstehen. "Eben" setzt ja eine gewisse Selbstverständlichkeit voraus. Allerdings ist das Zitat nur indirekt, als Bericht des Schweizer Gesandten, überliefert.

Conze: Von Juni 1941 an gehen im Auswärtigen Amt die Berichte der Einsatzgruppen ein, werden abgezeichnet, laufen über die Schreibtische, selbstverständlich auch den des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker. Weizsäcker war - jedenfalls gibt es darauf keine Hinweise - nie Anwalt der Juden in Deutschland, zu keinem Zeitpunkt, weder bei der Verfolgung noch bei der Entrechtung oder der Vernichtung. Schon im März 1933 rechtfertigte von Weizsäcker das brutale Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung: "Die anti-jüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leibe verspürt."

Wusste ein Sachbearbeiter im Auswärtigen Amt 1942/43, was das Wort "Auschwitz" bedeutet?

Conze: Nein, vermutlich wussten nur wenige etwas über die technisch-industrielle Vernichtungsmaschine, über die Gaskammern und Verbrennungsöfen. Aber dass massenhaft jüdische Menschen im Osten Europas durch Einsatzgruppen ermordet wurden, wusste jeder.

In diesem Zusammenhang sind Sie auf eine Reisekostenabrechnung des Ministerialdirigenten Franz Rademacher gestoßen . . .

Conze: Rademacher war der "Judenreferent" des Ministeriums. Bei ihm liefen die Fäden der Beteiligung des Amtes an der "Endlösung" zusammen. Der Zweck seiner Reise nach Serbien im Oktober 1941 war: "Liquidation von Juden in Belgrad"! So hat es Rademacher selbst handschriftlich in seine spätere Reisekostenabrechnung hineingeschrieben. Der Fall beweist, dass innerhalb des Auswärtigen Amtes der Massenmord an den Juden kein Geheimnis war. Bis hinunter zum Buchhalter wusste man Bescheid.

Zur Attaché-Ausbildung gehören ab 1936, so kann man in Ihrem Buch lesen, "ein Empfang bei Hitler auf dem Obersalzberg . . . die Besichtigung einer psychiatrischen Anstalt und des Konzentrationslagers Dachau". Die angehenden Diplomaten wussten also recht genau, in wessen Dienst sie da traten?

Conze: So war es. Es gehörte ja tatsächlich zum täglichen Geschäft der Diplomaten, mit internationalen Delegationen, mit Vertretern des Roten Kreuzes psychiatrische Kliniken und Konzentrationslager aufzusuchen, um der Weltöffentlichkeit die scheinbar schöne Welt dieser Lager zu präsentieren. Dachau zum Beispiel war immer wie- der Vorzeige-Konzentrationslager. Dort wurde ähnlich wie später in Theresienstadt eine pflegliche Behandlung der Insassen vorgeführt. Das geschah bis weit in die Kriegsjahre hinein und war Teil des Ausbildungsplans der Nachwuchsdiplomaten.

Bedeutet das: Jeder Attaché, der von Mitte der dreißiger Jahre an ausgebildet wurde, wusste, was ein Konzentrationslager ist?

Conze: Ja, jeder wusste das. Die planmäßige Attaché-Ausbildung bricht mit Kriegsbeginn allerdings ab. Das Konzept stammt im Übrigen nicht erst von Ribbentrop, sondern aus der Ära Konstantin von Neurath. Interessant ist auch, dass ähnliche Ausbildungspraktiken zeitgleich für den Polizeidienst entwickelt worden sind. Das zeigt, dass es um eine frühzeitige Einbindung, um die Schaffung einer Komplizenschaft und um die Bildung einer ideologisch integrierten NS-Elite ging. Das gilt genauso für Richter oder hohe Verwaltungsbeamte.

Karlauf: Mit Kriegsbeginn spielte dann die körperliche Ertüchtigung der künftigen Diplomaten eine immer größere Rolle. Im Ausbildungsplan von 1939 heißt es, die Anwärter hätten "die Erhaltung der körperlichen Elastizität" zu pflegen, die im Reiten, Fechten, Schwimmen und Schießen liege; die Hauptaufgabe des künftigen Diplomaten sei "das dauernde Vorausdenken", das ihn befähige, in jeder Lage zweckmäßige Anordnungen und Maßnahmen zu treffen. Sie sollten also ideologisch so präpariert werden, dass sie, wenn es darum ging, Tausende von Juden von hier nach dort zu verbringen, keine Fragen stellen, sondern so effizient wie möglich handeln.

Unterschied sich der Antisemitismus der diplomatischen Eliten vom völkisch-rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten?

Conze: Den völkisch-rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten gab es unter den nationalkonservativen Eliten eher selten, wohl aber einen traditionellen Oberschichten-Antisemitismus, der sich nicht zuletzt auf Ostjuden bezog, der aber auch den hohen Anteil von Juden in bestimmten gesellschaftlichen Führungspositionen, in den Medien, in Kunst und Kultur, im Finanzsektor, kritisierte. Auch das ermöglichte den Brückenschlag zwischen den alten Eliten und den neuen Machthabern. In diplomatischen Kreisen gingen allerdings nicht wenige davon aus, dass Hitler nur eine Episode sein würde. Hier zeigt sich die Selbstüberschätzung dieser Elite, die auf Hitler gern dünkelhaft herabblickte, seine Politik aber gleichzeitig unterstützte und die nationalsozialistische Herrschaft dadurch stabilisieren half.

Karlauf: Hitler hat ja erst ganz allmählich selbständiges außenpolitisches Handeln gelernt. Mit jedem Erfolg fühlte er sich ein Stück freier gegenüber der Wilhelmstraße. In den ersten Jahren, bis 1936/37, hat er sich vollkommen auf die Qualifikation der Beamten des Auswärtigen Amtes verlassen müssen.

Conze: Und er konnte sich auf sie verlassen, weil gerade auch in der Außenpolitik wichtige prinzipielle Positionen sehr weitgehend übereinstimmten. Es gab 1933 wenigstens eine Teilidentität der Ziele zwischen den Diplomatenkreisen und dem NS-Apparat. Es ging um die "Sprengung der Ketten von Versailles" und die Wiederherstellung des Deutschen Reiches als Großmacht, ja als europäische Hegemonialmacht. Da passte kein Blatt Papier zwischen Hitler und die Spitzendiplomaten.

Ging das Auswärtige Amt 1939, wie man zuweilen lesen kann, in eine Art innere Immigration, oder wurde es, wofür die Akten ja sprechen, nicht plötzlich sehr erfindungsreich darin, sich auch neue Kompetenzen zu sichern, zumal in der Frage der "Endlösung"?

Conze: Die klassische Diplomatie kam zwar 1939, mit Kriegsbeginn, zum Erliegen. Aber das war gleichzeitig der Ausgangspunkt für eine bis dahin ungekannte Ausweitung der Aufgaben. Das Auswärtige Amt musste nach einer neuen Legitimation suchen, nach einer neuen Daseinsberechtigung. Und die zentrale Aufgabe des Regimes, die immer klarer wurde, war die Verfolgung und Ermordung der Juden. Auch deshalb ergriffen deutsche Diplomaten die Initiative und arbeiteten, wie sie meinten, dem Führer entgegen. Aus allen Ecken und Enden der Welt kamen Vorschläge und Ideen, wie man das "Judenproblem" noch besser lösen könnte.

Karlauf: Das Konsulat in Mukden im Süden der Mandschurei beschwerte sich in Berlin darüber, dass jüdische Emigranten im Zug unangenehm aufgefallen seien. Aufgrund ihres Passes habe man sie in der Mandschurei für Deutsche gehalten. Um Verwechslungen in Zukunft auszuschließen, empfahl das Konsulat, das rote "J" auch auf dem Passdeckel anzubringen. Sechs Monate später setzte Himmler diese "Anregung" um. Unsere Wahrnehmung, dass das Auswärtige Amt im Holocaust eine nachgeordnete Bedeutung gehabt habe, hängt auch damit zusammen, dass es weder in Polen noch in der Sowjetunion, den zentralen Orten des Holocaust, eine nennenswerte Rolle spielte.

Conze: Die Sowjetunion war das Terrain der Wehrmacht und der SS. Das Auswärtige Amt war vor allem im Westen aktiv, in Frankreich, Belgien, Holland, in Italien, aber auch in Dänemark und Norwegen. Und natürlich im gesamten südosteuropäischen Raum. Dort fanden die großen Einzelaktionen in den Jahren 1943/44 statt, denken Sie an die griechischen Juden, die ungarischen Juden. Hier war das Auswärtige Amt federführend beteiligt.

Im Juni 1940, als innerhalb von sechs Wochen Paris besetzt wurde, jubelte das Auswärtige Amt?

Conze: Da gab es kaum jemanden, der nicht jubelte. Denn im Geiste war man sofort bei 1914 beziehungsweise 1918, in Compiègne, wo damals der Waffenstillstand geschlossen wurde. Gerade für die Eliten, um die es in unserem Buch geht, ist die Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs ein enorm wichtiges Argument, das auch Fragen des nationalen Stolzes berührte, der nationalen Ehre.

Ernst von Weizsäcker hat bis zu seinem Tod kein wirkliches Schuldgeständnis abgelegt. Kulminiert in dieser Figur also die Gebrochenheit der gesamten deutschen Eliten?

Conze: Weizsäcker steht wie kein Zweiter als individuelle Figur für die adlig-bürgerliche deutsche Oberschicht, die sich seit dem neunzehnten Jahrhundert herausgebildet hat. Humanistisch und bildungsorientiert, aber das alles in immer stärkerer nationaler Aufladung.

Aber war nicht genau dieses Milieu nach 1945 das Herz der Elitenbildung für die Bundesrepublik Deutschland?

Conze: Wir haben es auf jeden Fall mit paradigmatischen Protagonisten und einer paradigmatischen Institution zu tun.

Karlauf: Es gibt eine wunderbare Karikatur im Zusammenhang mit dem Bundestags-Untersuchungsausschuss Nr. 47, Anfang der fünfziger Jahre. Sie zeigt eine Reihe von Diplomaten, die mit deutschem Gruß vor Hitler stehen - und darunter sieht man die gleiche Reihe von Diplomaten vor Adenauer den Bückling machen. "Hier stehe ich, ich kann auch anders."

Muss man davon ausgehen, dass nach 1949 im System der jungen Bundesrepublik, also in unseren Ministerien, tatsächlich Menschen saßen, die konkret von Massenmorden wussten und Massenmördern geholfen haben, sich der Strafverfolgung zu entziehen?

Conze: Natürlich gab es im Auswärtigen Amt einzelne Diplomaten, die genau darin auch ihre Aufgabe sahen. Auf der anderen Seite haben wir viele Protagonisten, die in den sechziger, siebziger Jahren hohe Diplomaten der Bundesrepublik wurden, die ihre Lehren gezogen haben. Je erfolgreicher die Politik und hier vor allem die Außenpolitik der Bundesrepublik war, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass gerade die Angehörigen belasteter Eliten von einem anfänglichen Opportunismus voller Vorbehalte zu einer wirklichen Zustimmung gelangen konnten. Auch der Kalte Krieg spielt eine wichtige Rolle, der die Kontinuität antikommunistischer Überzeugungen erlaubte, ja verlangte, und zugleich den Hintergrund bildete für eine zunächst politische, später auch ideelle Westorientierung.

Setzte dieses Lernen nicht ein Schuldbekenntnis, ein Schuldeingeständnis voraus? Oder geht es hier nur um das Reparieren von Biographien?

Conze: Meiner Auffassung nach enthält die dauernde Selbstrechtfertigung gewisser Kreise nach 1945 durchaus ein Schuldbekenntnis, wenn natürlich auch ein unfreiwilliges. Es gab ja auch einen permanenten Zwang zu solchen Rechtfertigungen: Untersuchungsausschüsse, Angriffe in den Medien, personalpolitische Skandale. Aber ein wirkliches Schuldbekenntnis wurde nie ausgesprochen.

Das Unfassbare ist ja, dass das Auswärtige Amt und seine Diplomaten nach 1945 unglaublich selbstbewusst wirkten. Wie können die überhaupt gedacht haben, dass alles so weitergeht?

Conze: 1945/46 waren die meisten alles andere als selbstbewusst. Erst im Zusammenhang mit dem Wilhelmstraßenprozess 1948/49 beginnen sie allmählich zu ihrem alten Selbstverständnis zurückzufinden und die Geschichte in ihrem Sinne umzudeuten. Mit Hilfe der Nürnberger Netzwerke rund um Weizsäcker werden dann jene Legenden in die Welt gesetzt, die zum Teil bis heute existieren. Demnach war der Kern des alten Amtes, also jene Elite, die dann auch im neuen Staat wieder Führungsansprüche anmeldete, "gesund". Alle Verbrechen wurden den Leuten angelastet, die 1938 mit Ribbentrop ins Amt gelangt waren, oder dem "Judenreferat", dessen Leiter Schumburg, Rademacher und von Thadden freilich allesamt vor 1938 in den Auswärtigen Dienst eingetreten waren, zum Teil sogar vor 1933.

Eine der Botschaften Ihres Buches lautet: Die Hollywood-Ästhetik "Du wirst belohnt, wenn du auf der richtigen Seite stehst" ist ein Irrtum. Es gibt stark belastete Diplomaten, die nach 1945 Karriere gemacht haben, zum Beispiel der frühere SS-Untersturmführer Franz Krapf. Und auf der anderen Seite stehen tapfere Einzelne, die ihr Leben riskiert haben, aber nach 1945 stigmatisiert wurden.

Conze: Schauen Sie sich den Fall von Fritz Kolbe an. Er war Konsulatssekretär an der deutschen Botschaft in Madrid, später in Kapstadt. Als der Krieg ausbrach, kehrte er in die Berliner Zentrale zurück. Kolbe weigerte sich, Parteimitglied zu werden. Von 1943 an spielte er, unter dem Eindruck der Verbrechen, dem amerikanischen Geheimdienst in Bern Dokumente zu. Bei Kriegsende unterstützte er die Amerikaner bei den Vorbereitungen zu den Nürnberger Prozessen. Er versuchte, in der Schweiz und in Amerika Fuß zu fassen, doch das gelang ihm nicht. Also kehrte er 1949 nach Deutschland zurück. Kolbe versuchte, wieder in den öffentlichen Dienst zu treten. Man lehnte ihn ab, stigmatisierte ihn als Verräter. Der Wiedereintritt in das Auswärtige Amt wurde ihm verwehrt. Erst seit 2004 würdigt das Auswärtige Amt seine Widerstandstätigkeit.

Der Widerstand insgesamt hat sich also nicht bezahlt gemacht?

Karlauf: Richtig. Das Fatale an der Sache ist allerdings, dass "Widerstand" durch eben diejenigen definiert wurde, die zu schwach dazu waren. Und deshalb waren nach dem Krieg plötzlich so viele im Widerstand, fast das halbe Auswärtige Amt. "Und als man sie dann wiederfand, da fand man sie beim Widerstand", hieß der Spottvers.

Das Politische Archiv händigt nur die Akten aus, nach denen man explizit fragt. Transparente Informationen über die Bestände des Archivs existieren nicht. Halten Sie es für möglich, dass im Archiv noch Akten liegen, die bezeugen, dass alles viel schlimmer war, als wir annehmen, oder die Ihren Befund vielleicht widerlegen?

Conze: Noch schlimmer? Ist das denkbar? Neue Akten mögen in der Tat noch mehr Licht auf die Geschichte werfen, um die es in dem Buch geht. Und vielleicht entdecken wir ja in Zukunft noch weitere Dokumente. Aber gegen das Verdikt der Zeitgenossen, die alles selbst miterlebt haben, ihr Archiv sei primär ihr Gedächtnis, wie es Richard von Weizsäcker einmal formuliert hat, werden auch die aussagekräftigsten Akten nur wenig ausrichten können.

Das Gespräch führte Frank Schirrmacher.

Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: "Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik". Blessing-Verlag, 34,95 Euro

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