1989 erschien der Westen als der alleinige Sieger der Geschichte. Heute klingt der damalige Triumphalismus mehr als schal. Was ist schiefgelaufen? In einer Reihe thematisch verflochtener Essays sucht der vielfacht ausgezeichnete Historiker Philipp Ther nach einer Antwort. Er befasst sich u. a. mit wirtschaftspolitischen Irrwegen seit der Wiedervereinigung (von der Treuhand bis zu Hartz IV), analysiert die Entwicklung der USA ab den Clinton-Jahren und fragt, warum Russland und die Türkei sich vom Westen abgewandt haben. Anknüpfend an Karl Polanyis bahnbrechendes Buch The Great Transformation rekapituliert Ther die rasanten Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte, die westlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs nicht minder dramatische Folgen hatten als östlich davon.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.10.2019Wir 89er
Vom Neoliberalismus zum Illiberalismus: Der Historiker
Philipp Ther fragt nach dem „anderen Ende der Geschichte“
VON JENS BISKY
Wann hat die Gegenwart begonnen, jenes Kuddelmuddel, in dem sich die Europäer, ob sie es wollen oder nicht, zurechtfinden müssen? 2016, als die Briten für den Brexit votierten und Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde? Mit der Weltfinanzkrise und dem Zusammenbruch von Lehman Brothers? Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001? Oder schon im Jahr 1979, als Margaret Thatcher Premierministerin wurde, im Iran die islamische Revolution siegte und die Sowjets in Afghanistan einmarschierten? Wer die Krise der liberalen Demokratien, den dramatischen Legitimationsverlust von Marktwirtschaft, Freihandel und Globalisierung, den Aufstieg autoritärer Politiker und rechtsnationalistischer Parteien verstehen will, wird am besten auf das Befreiungsjahr 1989 zurückblicken.
„Der Sozialismus hat verloren, der Kapitalismus hat gewonnen“, hieß es damals im New Yorker, Francis Fukuyama prophezeite der freien Marktwirtschaft wie der liberalen Demokratie eine alternativlose Zukunft. Millionen Osteuropäer, die ihre Diktaturen abgeschüttelt hatten, nutzten die gerade erstrittenen Freiheiten, um sich eine neue Existenz aufzubauen.
Internationale Finanzorganisationen und lateinamerikanische Schuldnerländer beschlossen 1989 den „Washington Consensus“, der eine strenge Austeritätspolitik vorsah und Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung empfahl. Schon im Herbst folgte die erste postkommunistische Regierung in Warschau den Empfehlungen und verordnete Polen eine „Schocktherapie“, die damals freilich noch nicht so genannt wurde.
Dennoch wussten alle, dass dem Land massive soziale Verwerfungen bevorstanden und dennoch unterstützen auch Linke aus der Gewerkschaft Solidarność und Anhänger der katholischen Soziallehre das neoliberale Reformprogramm. Damals erreichte Polen pro Kopf lediglich ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Europäischen Gemeinschaft, zweieinhalb Jahrzehnte später war das BIP pro Kopf auf zwei Drittel des westeuropäischen Durchschnitts gestiegen. In nur fünfundzwanzig Jahren habe sich der Abstand zum Westen halbiert, schreibt der Historiker Philipp Ther in seinem neuen Buch „Das andere Ende der Geschichte“. „Diese Konvergenz, auch bei den Einkommen, ist außergewöhnlich, zuletzt hatte im 19. Jahrhundert Deutschland gegenüber England, dem Vorreiter der Industrialisierung, ähnlich stark aufgeholt“.
Allerdings, fügt Ther hinzu, habe das wilhelminische Kaiserreich, den Wohlstand für den Aufbau eines Sozialstaates genutzt, während in den Ländern Ostmitteleuropas die Sozialleistungen von 1990 bis 2015 reduziert wurden. Erst die derzeit in Polen regierende rechtskonservative PiS hat mit dem Kindergeldprogramm „500 Plus“ die Lage vieler Familien deutlich verbessert. Zugleich gefährdet sie mit Reformen die Unabhängigkeit der Justiz, versucht, Bildungsanstalten und Medien auf Linie zu bringen, verschärft nationalistische und anti-liberale Propaganda. Ist auch das postkommunistische Musterland der neoliberalen Transformation auf dem Weg in die „illiberale Demokratie“?
Die Gegenwart sieht anders aus, als es die triumphalistisch Verblendeten, aber auch die intelligenten Reformer nach dem Ende des Kalten Krieges erwartet hatten. Der Frage, was da schiefgelaufen sei, spürt Philipp Ther in sechs Essays nach. Sie gehören zu den interessantesten unter den vielen neuen Zeitdiagnosen.Wie in seiner großen „Geschichte des neoliberalen Europa“ (2014) verbindet er Sozial- und Politikgeschichte mit Anschauung. Er kennt sich in Berlin und Frankfurt an der Oder ebenso aus wie in Prag und Warschau, Washington, New York, Florenz oder Wien, wo er lehrt. Und vermeidet Rechthaberei und Bescheidwissertum gleichermaßen.
Wenn er fragt, ob es „eine Kontinuität vom Neoliberalismus zum Illiberalismus“ gebe, steht die Antwort nicht von vornherein fest. Ther greift Überlegungen Karl Polanyis auf, der in „The Great Transformation“ (1944) die Umwandlung traditioneller Gesellschaften in liberale Marktwirtschaften untersucht hatte. Polanyi ging von einer Pendelbewegung zwischen dem Prinzip des freien Marktes und dem „sozialen Schutzbedürfnis“ aus, das befriedigt werden muss, wenn eine tiefgreifende Umwälzung nicht aus dem Ruder laufen soll.
Auch nach 1989 gab es dieses Muster von radikalem Umbruch und Überforderung. Seit den Neunzigerjahren greifen Rechtspopulisten das „soziale Schutzbedürfnis“ auf, in postkommunistischen Ländern wie in den Demokratien des Westens. Ihr illiberales Weltbild geht einher mit dem Versprechen, vor Konkurrenz, Zuwanderung, Kriminalität zu schützen, die nationale Kultur und tradierte Familienmodelle zu bewahren.
Erfrischend ist, dass Ther die Rechtspopulisten nicht dämonisiert, sondern vor der eigenen Haustür kehrt. Er sucht nach Gründen für die Schwäche von Liberalen, Sozialdemokraten, Linken. Sein Porträt der USA nach 1989 endet mit dem Bekenntnis, er sei nicht sicher, ob er als Amerikaner die Demokraten wählen würde, zu groß seien die sozialen Probleme in deren Hochburgen an der Ost- wie an der Westküste. Knapp und scharf resümiert er den „deutschen Sonderweg“ der Vereinigung, der zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland führte und mit der Pazifizierung der Betroffenen durch Sozialleistungen einher ging, bis die 1990 vermiedenen Reformen unter Gerhard Schröder nachgeholt wurden. „Während die Währungsunion eine rasche Angleichung an den Westen zum Ziel hatte, brachten Hartz IV und vor allem der Billiglohnsektor (…) eine Anpassung der Arbeitskosten an die damals in Polen und der Tschechischen Republik gängigen Löhne mit sich“. Ther nennt das eine „Kotransformation der gesamten Bundesrepublik“. Allerdings änderte das wenig am den Problemen Ostdeutschlands. Trotz gigantischer Transferzahlungen haben die ostdeutschen Bundesländer pro Kopf ein kaum größere Wirtschaftsleistung erreicht als die Tschechische Republik. Spricht das für neoliberale Reformen oder für staatliche Hilfsprogramme? Oder für eine Mischung aus beidem?
Ther skizziert auch den Abstieg Italiens und fragt nach dem Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei und zu Russland. Bei allen Unterschieden wird deutlich, dass Globalisierung und offene Gesellschaften einen ausgebauten Sozialstaat voraussetzen, wenn die Mehrheit sie dauerhaft akzeptieren soll, dass neben Wachstumszahlen das Schutzbedürfnis ernst genommen werden muss, was für Investitionen in Infrastruktur, Bildungsanstalten, öffentliche Verwaltung – die Institutionen des Gemeinwohls – spricht. Die Menschenwürde stand im Zentrum der Revolutionen von 1989. Philipp Ther zeigt in seinen Essays, warum es an der Zeit ist, sie wieder mehr in den Vordergrund zu stellen, und was das praktisch heißt.
Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 200 Seiten, 16 Euro.
Wer befriedigt das soziale
Schutzbedürfnis nach der
großen Transformation?
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Vom Neoliberalismus zum Illiberalismus: Der Historiker
Philipp Ther fragt nach dem „anderen Ende der Geschichte“
VON JENS BISKY
Wann hat die Gegenwart begonnen, jenes Kuddelmuddel, in dem sich die Europäer, ob sie es wollen oder nicht, zurechtfinden müssen? 2016, als die Briten für den Brexit votierten und Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde? Mit der Weltfinanzkrise und dem Zusammenbruch von Lehman Brothers? Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001? Oder schon im Jahr 1979, als Margaret Thatcher Premierministerin wurde, im Iran die islamische Revolution siegte und die Sowjets in Afghanistan einmarschierten? Wer die Krise der liberalen Demokratien, den dramatischen Legitimationsverlust von Marktwirtschaft, Freihandel und Globalisierung, den Aufstieg autoritärer Politiker und rechtsnationalistischer Parteien verstehen will, wird am besten auf das Befreiungsjahr 1989 zurückblicken.
„Der Sozialismus hat verloren, der Kapitalismus hat gewonnen“, hieß es damals im New Yorker, Francis Fukuyama prophezeite der freien Marktwirtschaft wie der liberalen Demokratie eine alternativlose Zukunft. Millionen Osteuropäer, die ihre Diktaturen abgeschüttelt hatten, nutzten die gerade erstrittenen Freiheiten, um sich eine neue Existenz aufzubauen.
Internationale Finanzorganisationen und lateinamerikanische Schuldnerländer beschlossen 1989 den „Washington Consensus“, der eine strenge Austeritätspolitik vorsah und Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung empfahl. Schon im Herbst folgte die erste postkommunistische Regierung in Warschau den Empfehlungen und verordnete Polen eine „Schocktherapie“, die damals freilich noch nicht so genannt wurde.
Dennoch wussten alle, dass dem Land massive soziale Verwerfungen bevorstanden und dennoch unterstützen auch Linke aus der Gewerkschaft Solidarność und Anhänger der katholischen Soziallehre das neoliberale Reformprogramm. Damals erreichte Polen pro Kopf lediglich ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Europäischen Gemeinschaft, zweieinhalb Jahrzehnte später war das BIP pro Kopf auf zwei Drittel des westeuropäischen Durchschnitts gestiegen. In nur fünfundzwanzig Jahren habe sich der Abstand zum Westen halbiert, schreibt der Historiker Philipp Ther in seinem neuen Buch „Das andere Ende der Geschichte“. „Diese Konvergenz, auch bei den Einkommen, ist außergewöhnlich, zuletzt hatte im 19. Jahrhundert Deutschland gegenüber England, dem Vorreiter der Industrialisierung, ähnlich stark aufgeholt“.
Allerdings, fügt Ther hinzu, habe das wilhelminische Kaiserreich, den Wohlstand für den Aufbau eines Sozialstaates genutzt, während in den Ländern Ostmitteleuropas die Sozialleistungen von 1990 bis 2015 reduziert wurden. Erst die derzeit in Polen regierende rechtskonservative PiS hat mit dem Kindergeldprogramm „500 Plus“ die Lage vieler Familien deutlich verbessert. Zugleich gefährdet sie mit Reformen die Unabhängigkeit der Justiz, versucht, Bildungsanstalten und Medien auf Linie zu bringen, verschärft nationalistische und anti-liberale Propaganda. Ist auch das postkommunistische Musterland der neoliberalen Transformation auf dem Weg in die „illiberale Demokratie“?
Die Gegenwart sieht anders aus, als es die triumphalistisch Verblendeten, aber auch die intelligenten Reformer nach dem Ende des Kalten Krieges erwartet hatten. Der Frage, was da schiefgelaufen sei, spürt Philipp Ther in sechs Essays nach. Sie gehören zu den interessantesten unter den vielen neuen Zeitdiagnosen.Wie in seiner großen „Geschichte des neoliberalen Europa“ (2014) verbindet er Sozial- und Politikgeschichte mit Anschauung. Er kennt sich in Berlin und Frankfurt an der Oder ebenso aus wie in Prag und Warschau, Washington, New York, Florenz oder Wien, wo er lehrt. Und vermeidet Rechthaberei und Bescheidwissertum gleichermaßen.
Wenn er fragt, ob es „eine Kontinuität vom Neoliberalismus zum Illiberalismus“ gebe, steht die Antwort nicht von vornherein fest. Ther greift Überlegungen Karl Polanyis auf, der in „The Great Transformation“ (1944) die Umwandlung traditioneller Gesellschaften in liberale Marktwirtschaften untersucht hatte. Polanyi ging von einer Pendelbewegung zwischen dem Prinzip des freien Marktes und dem „sozialen Schutzbedürfnis“ aus, das befriedigt werden muss, wenn eine tiefgreifende Umwälzung nicht aus dem Ruder laufen soll.
Auch nach 1989 gab es dieses Muster von radikalem Umbruch und Überforderung. Seit den Neunzigerjahren greifen Rechtspopulisten das „soziale Schutzbedürfnis“ auf, in postkommunistischen Ländern wie in den Demokratien des Westens. Ihr illiberales Weltbild geht einher mit dem Versprechen, vor Konkurrenz, Zuwanderung, Kriminalität zu schützen, die nationale Kultur und tradierte Familienmodelle zu bewahren.
Erfrischend ist, dass Ther die Rechtspopulisten nicht dämonisiert, sondern vor der eigenen Haustür kehrt. Er sucht nach Gründen für die Schwäche von Liberalen, Sozialdemokraten, Linken. Sein Porträt der USA nach 1989 endet mit dem Bekenntnis, er sei nicht sicher, ob er als Amerikaner die Demokraten wählen würde, zu groß seien die sozialen Probleme in deren Hochburgen an der Ost- wie an der Westküste. Knapp und scharf resümiert er den „deutschen Sonderweg“ der Vereinigung, der zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft in Ostdeutschland führte und mit der Pazifizierung der Betroffenen durch Sozialleistungen einher ging, bis die 1990 vermiedenen Reformen unter Gerhard Schröder nachgeholt wurden. „Während die Währungsunion eine rasche Angleichung an den Westen zum Ziel hatte, brachten Hartz IV und vor allem der Billiglohnsektor (…) eine Anpassung der Arbeitskosten an die damals in Polen und der Tschechischen Republik gängigen Löhne mit sich“. Ther nennt das eine „Kotransformation der gesamten Bundesrepublik“. Allerdings änderte das wenig am den Problemen Ostdeutschlands. Trotz gigantischer Transferzahlungen haben die ostdeutschen Bundesländer pro Kopf ein kaum größere Wirtschaftsleistung erreicht als die Tschechische Republik. Spricht das für neoliberale Reformen oder für staatliche Hilfsprogramme? Oder für eine Mischung aus beidem?
Ther skizziert auch den Abstieg Italiens und fragt nach dem Verhältnis der Europäischen Union zur Türkei und zu Russland. Bei allen Unterschieden wird deutlich, dass Globalisierung und offene Gesellschaften einen ausgebauten Sozialstaat voraussetzen, wenn die Mehrheit sie dauerhaft akzeptieren soll, dass neben Wachstumszahlen das Schutzbedürfnis ernst genommen werden muss, was für Investitionen in Infrastruktur, Bildungsanstalten, öffentliche Verwaltung – die Institutionen des Gemeinwohls – spricht. Die Menschenwürde stand im Zentrum der Revolutionen von 1989. Philipp Ther zeigt in seinen Essays, warum es an der Zeit ist, sie wieder mehr in den Vordergrund zu stellen, und was das praktisch heißt.
Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 200 Seiten, 16 Euro.
Wer befriedigt das soziale
Schutzbedürfnis nach der
großen Transformation?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2019Höchste Zeit, sich an die Werte der Revolution zu erinnern
Neoliberal war gestern: Philipp Ther analysiert den Transformationsprozess seit dem Epochenjahr 1989 und findet ein neues Annus horribilis.
Von Hannes Hintermeier
Wer in diesem Jahr dreißig wurde, kam in einem Jahr zu Welt, dessen politische und wirtschaftliche Folgen noch weit in das Leben seiner Generation fortwirken werden. Sie muss sich als geschriebene oder filmisch dokumentierte Geschichte aneignen, was ihre Großeltern und Eltern erlebten, um zu verstehen, was damals begann. Denn gleichgültig, wie viele Epochenbrüche, Paradigmenwechsel und Zäsuren die Alarmisten des schicksalsverarbeitenden Gewerbes noch anbieten werden, das Revolutionsjahr 1989 bleibt ein Berg der höchsten Kategorie.
Wir erinnern uns: Mauerfall, Ende der Geschichte, Sieg der liberalen Demokratie und des Kapitalismus und so fort. Aber war da nicht noch etwas, jenseits der deutschen Verwandlung? Ja, schreibt der Wiener Osteuropa-Historiker Philipp Ther, das Annus horribilis 2016. Das Vereinigte Königreich stimmt für den Brexit. Und Donald Trump gewinnt die Präsidentschaftswahlen. Davor bald dreißig Jahre permanenter Umbau von Gesellschaften, der radikaler nicht hätte sein können und den aufzuarbeiten wir gerade erst begonnen haben, wie die innerdeutsche Debatte zeigt, die in den Monaten vor dem dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls an Fahrt aufgenommen hat, auch und gerade in dieser Zeitung. Wer glaubt, das alles nicht mehr hören und lesen zu wollen, dem zeigt Ther, warum es gar nicht anders gehen kann. Der Autor, Jahrgang 1967 und vor vier Jahren mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, bringt Lokalaugenschein mit aus allen Ländern, von denen er erzählt. Das sind zunächst die Vereinigten Staaten, dann Deutschland, Italien, Russland und die Türkei.
Während eines Aufenthalts als Gastprofessor im Land mit dem neuen Krankheitsbild "Trump Anxiety Disorder" findet Ther bei Strand in New York Karl Polanyis in den fünfziger und sechziger Jahren viel gelesenes Buch "The Great Transformation" von 1944. Der gebürtige Ungar war nach Wien und von dort 1934 ins Exil in die Vereinigten Staaten gegangen. Sein Buch untersucht, wie liberale Marktwirtschaften entstehen. Ther verwendet es als Ariadnefaden für seine Überlegungen, weil Polanyi vom Zusammenbruch sozialer Gemeinschaften und ihres Wertesystems schreibt: Der Sozialist Polanyi lehnt etwa den Marxismus strikt ab, weil er das Hauptproblem "in der Entwurzelung und der Zerstörung sozialer Gemeinschaften" sieht, "dem Gefühl vieler Menschen, den Anforderungen der Wirtschaft nicht mehr gewachsen zu sein". Die Kräfte des freien Marktes und das soziale Schutzbedürfnis der Menschen müssten in einer Pendelbewegung ausbalanciert werden, sonst drohe der Gesellschaft Unheil, so weit Polanyi.
Im Epochenjahr 1989 wird vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank der sogenannte Washington-Konsens ins Leben gerufen, der zunächst den lateinamerikanischen Schuldnerländern eine strenge Austeritätspolitik nahelegte. Die Methode, Staaten durch Deregulierung und Privatisierung zu stabilisieren, wird in Osteuropa zuerst in Polen umgesetzt, das Wort von der "Schocktherapie" macht die Runde. Investoren lassen sich nach Osteuropa locken, weil das Bildungsniveau hoch, die Fachkräfte gut ausgebildet und die Löhne niedrig sind. In einer beispiellosen Aufholjagd erreicht Polen fünfundzwanzig Jahre später zwei Drittel des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts der westeuropäischen Staaten. Heute geht es den Polen so gut wie lange nicht, aber der Preis für den sozialen Frieden war hoch, weil die Rechtspopulisten das Thema "soziales Schutzbedürfnis" besetzen und daraus Kapital schlagen.
In umgekehrter Richtung entwickelte sich in dieser Zeit Italien. Der Medienunternehmer Silvio Berlusconi habe bei seinem ersten Amtsantritt als Ministerpräsident 1994 ein florierendes Land vorgefunden, das er innerhalb von zwanzig Jahren in den Ruin getrieben habe - unterstützt von der Schwäche der linken Parteien, rechts liegen gelassen von der Europäischen Union, von einseitiger Berichterstattung in der Auslandspresse, vom Ausmustern italienischer Forscher im deutschen Wissenschaftssystem. Es sei seither nicht einfach, italophil zu sein, seufzt Ther und dürfte damit vielen aus der Seele sprechen. Dass ein weiteres Abrutschen des Landes zu einem Menetekel für Brüssel werden könnte, ist freilich nicht neu.
"Seinen Namen nicht zu nennen", so schreibt Ther eingangs über Donald Trump, "hilft manchmal auch schon, um keine schlechte Laune zu bekommen." Dabei geht es ihm keineswegs ums Wegsehen, sondern um das Kehren vor der eigenen Haustür. Sein schmales Buch wirbt für Gemeinwohl und Menschenwürde - "eine der zentralen Forderungen der Revolution von 1989" - und für funktionierende soziale Systeme. Andernfalls übernehme das Ressentiment das Szepter und mit ihm die Abneigung gegen alles, was fremd ist. Ther erklärt dies klug und bescheiden im Gestus und mit einem Blick auf seine Kinder, denen er "eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt", wünscht.
Philipp Ther: "Das andere Ende der Geschichte". Über die Große Transformation.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
200 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neoliberal war gestern: Philipp Ther analysiert den Transformationsprozess seit dem Epochenjahr 1989 und findet ein neues Annus horribilis.
Von Hannes Hintermeier
Wer in diesem Jahr dreißig wurde, kam in einem Jahr zu Welt, dessen politische und wirtschaftliche Folgen noch weit in das Leben seiner Generation fortwirken werden. Sie muss sich als geschriebene oder filmisch dokumentierte Geschichte aneignen, was ihre Großeltern und Eltern erlebten, um zu verstehen, was damals begann. Denn gleichgültig, wie viele Epochenbrüche, Paradigmenwechsel und Zäsuren die Alarmisten des schicksalsverarbeitenden Gewerbes noch anbieten werden, das Revolutionsjahr 1989 bleibt ein Berg der höchsten Kategorie.
Wir erinnern uns: Mauerfall, Ende der Geschichte, Sieg der liberalen Demokratie und des Kapitalismus und so fort. Aber war da nicht noch etwas, jenseits der deutschen Verwandlung? Ja, schreibt der Wiener Osteuropa-Historiker Philipp Ther, das Annus horribilis 2016. Das Vereinigte Königreich stimmt für den Brexit. Und Donald Trump gewinnt die Präsidentschaftswahlen. Davor bald dreißig Jahre permanenter Umbau von Gesellschaften, der radikaler nicht hätte sein können und den aufzuarbeiten wir gerade erst begonnen haben, wie die innerdeutsche Debatte zeigt, die in den Monaten vor dem dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls an Fahrt aufgenommen hat, auch und gerade in dieser Zeitung. Wer glaubt, das alles nicht mehr hören und lesen zu wollen, dem zeigt Ther, warum es gar nicht anders gehen kann. Der Autor, Jahrgang 1967 und vor vier Jahren mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, bringt Lokalaugenschein mit aus allen Ländern, von denen er erzählt. Das sind zunächst die Vereinigten Staaten, dann Deutschland, Italien, Russland und die Türkei.
Während eines Aufenthalts als Gastprofessor im Land mit dem neuen Krankheitsbild "Trump Anxiety Disorder" findet Ther bei Strand in New York Karl Polanyis in den fünfziger und sechziger Jahren viel gelesenes Buch "The Great Transformation" von 1944. Der gebürtige Ungar war nach Wien und von dort 1934 ins Exil in die Vereinigten Staaten gegangen. Sein Buch untersucht, wie liberale Marktwirtschaften entstehen. Ther verwendet es als Ariadnefaden für seine Überlegungen, weil Polanyi vom Zusammenbruch sozialer Gemeinschaften und ihres Wertesystems schreibt: Der Sozialist Polanyi lehnt etwa den Marxismus strikt ab, weil er das Hauptproblem "in der Entwurzelung und der Zerstörung sozialer Gemeinschaften" sieht, "dem Gefühl vieler Menschen, den Anforderungen der Wirtschaft nicht mehr gewachsen zu sein". Die Kräfte des freien Marktes und das soziale Schutzbedürfnis der Menschen müssten in einer Pendelbewegung ausbalanciert werden, sonst drohe der Gesellschaft Unheil, so weit Polanyi.
Im Epochenjahr 1989 wird vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank der sogenannte Washington-Konsens ins Leben gerufen, der zunächst den lateinamerikanischen Schuldnerländern eine strenge Austeritätspolitik nahelegte. Die Methode, Staaten durch Deregulierung und Privatisierung zu stabilisieren, wird in Osteuropa zuerst in Polen umgesetzt, das Wort von der "Schocktherapie" macht die Runde. Investoren lassen sich nach Osteuropa locken, weil das Bildungsniveau hoch, die Fachkräfte gut ausgebildet und die Löhne niedrig sind. In einer beispiellosen Aufholjagd erreicht Polen fünfundzwanzig Jahre später zwei Drittel des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts der westeuropäischen Staaten. Heute geht es den Polen so gut wie lange nicht, aber der Preis für den sozialen Frieden war hoch, weil die Rechtspopulisten das Thema "soziales Schutzbedürfnis" besetzen und daraus Kapital schlagen.
In umgekehrter Richtung entwickelte sich in dieser Zeit Italien. Der Medienunternehmer Silvio Berlusconi habe bei seinem ersten Amtsantritt als Ministerpräsident 1994 ein florierendes Land vorgefunden, das er innerhalb von zwanzig Jahren in den Ruin getrieben habe - unterstützt von der Schwäche der linken Parteien, rechts liegen gelassen von der Europäischen Union, von einseitiger Berichterstattung in der Auslandspresse, vom Ausmustern italienischer Forscher im deutschen Wissenschaftssystem. Es sei seither nicht einfach, italophil zu sein, seufzt Ther und dürfte damit vielen aus der Seele sprechen. Dass ein weiteres Abrutschen des Landes zu einem Menetekel für Brüssel werden könnte, ist freilich nicht neu.
"Seinen Namen nicht zu nennen", so schreibt Ther eingangs über Donald Trump, "hilft manchmal auch schon, um keine schlechte Laune zu bekommen." Dabei geht es ihm keineswegs ums Wegsehen, sondern um das Kehren vor der eigenen Haustür. Sein schmales Buch wirbt für Gemeinwohl und Menschenwürde - "eine der zentralen Forderungen der Revolution von 1989" - und für funktionierende soziale Systeme. Andernfalls übernehme das Ressentiment das Szepter und mit ihm die Abneigung gegen alles, was fremd ist. Ther erklärt dies klug und bescheiden im Gestus und mit einem Blick auf seine Kinder, denen er "eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt", wünscht.
Philipp Ther: "Das andere Ende der Geschichte". Über die Große Transformation.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
200 S., br., 16,- [Euro].
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» ... klug und bescheiden im Gestus und mit einem Blick auf seine Kinder, denen er 'eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt', wünscht.« Hannes Hintermeier Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191123