1989 erschien der Westen als der alleinige Sieger der Geschichte. Heute klingt der damalige Triumphalismus mehr als schal. Was ist schiefgelaufen? In einer Reihe thematisch verflochtener Essays sucht der vielfacht ausgezeichnete Historiker Philipp Ther nach einer Antwort. Er befasst sich u. a. mit wirtschaftspolitischen Irrwegen seit der Wiedervereinigung (von der Treuhand bis zu Hartz IV), analysiert die Entwicklung der USA ab den Clinton-Jahren und fragt, warum Russland und die Türkei sich vom Westen abgewandt haben. Anknüpfend an Karl Polanyis bahnbrechendes Buch The Great Transformation rekapituliert Ther die rasanten Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte, die westlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs nicht minder dramatische Folgen hatten als östlich davon.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.11.2019Höchste Zeit, sich an die Werte der Revolution zu erinnern
Neoliberal war gestern: Philipp Ther analysiert den Transformationsprozess seit dem Epochenjahr 1989 und findet ein neues Annus horribilis.
Von Hannes Hintermeier
Wer in diesem Jahr dreißig wurde, kam in einem Jahr zu Welt, dessen politische und wirtschaftliche Folgen noch weit in das Leben seiner Generation fortwirken werden. Sie muss sich als geschriebene oder filmisch dokumentierte Geschichte aneignen, was ihre Großeltern und Eltern erlebten, um zu verstehen, was damals begann. Denn gleichgültig, wie viele Epochenbrüche, Paradigmenwechsel und Zäsuren die Alarmisten des schicksalsverarbeitenden Gewerbes noch anbieten werden, das Revolutionsjahr 1989 bleibt ein Berg der höchsten Kategorie.
Wir erinnern uns: Mauerfall, Ende der Geschichte, Sieg der liberalen Demokratie und des Kapitalismus und so fort. Aber war da nicht noch etwas, jenseits der deutschen Verwandlung? Ja, schreibt der Wiener Osteuropa-Historiker Philipp Ther, das Annus horribilis 2016. Das Vereinigte Königreich stimmt für den Brexit. Und Donald Trump gewinnt die Präsidentschaftswahlen. Davor bald dreißig Jahre permanenter Umbau von Gesellschaften, der radikaler nicht hätte sein können und den aufzuarbeiten wir gerade erst begonnen haben, wie die innerdeutsche Debatte zeigt, die in den Monaten vor dem dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls an Fahrt aufgenommen hat, auch und gerade in dieser Zeitung. Wer glaubt, das alles nicht mehr hören und lesen zu wollen, dem zeigt Ther, warum es gar nicht anders gehen kann. Der Autor, Jahrgang 1967 und vor vier Jahren mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, bringt Lokalaugenschein mit aus allen Ländern, von denen er erzählt. Das sind zunächst die Vereinigten Staaten, dann Deutschland, Italien, Russland und die Türkei.
Während eines Aufenthalts als Gastprofessor im Land mit dem neuen Krankheitsbild "Trump Anxiety Disorder" findet Ther bei Strand in New York Karl Polanyis in den fünfziger und sechziger Jahren viel gelesenes Buch "The Great Transformation" von 1944. Der gebürtige Ungar war nach Wien und von dort 1934 ins Exil in die Vereinigten Staaten gegangen. Sein Buch untersucht, wie liberale Marktwirtschaften entstehen. Ther verwendet es als Ariadnefaden für seine Überlegungen, weil Polanyi vom Zusammenbruch sozialer Gemeinschaften und ihres Wertesystems schreibt: Der Sozialist Polanyi lehnt etwa den Marxismus strikt ab, weil er das Hauptproblem "in der Entwurzelung und der Zerstörung sozialer Gemeinschaften" sieht, "dem Gefühl vieler Menschen, den Anforderungen der Wirtschaft nicht mehr gewachsen zu sein". Die Kräfte des freien Marktes und das soziale Schutzbedürfnis der Menschen müssten in einer Pendelbewegung ausbalanciert werden, sonst drohe der Gesellschaft Unheil, so weit Polanyi.
Im Epochenjahr 1989 wird vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank der sogenannte Washington-Konsens ins Leben gerufen, der zunächst den lateinamerikanischen Schuldnerländern eine strenge Austeritätspolitik nahelegte. Die Methode, Staaten durch Deregulierung und Privatisierung zu stabilisieren, wird in Osteuropa zuerst in Polen umgesetzt, das Wort von der "Schocktherapie" macht die Runde. Investoren lassen sich nach Osteuropa locken, weil das Bildungsniveau hoch, die Fachkräfte gut ausgebildet und die Löhne niedrig sind. In einer beispiellosen Aufholjagd erreicht Polen fünfundzwanzig Jahre später zwei Drittel des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts der westeuropäischen Staaten. Heute geht es den Polen so gut wie lange nicht, aber der Preis für den sozialen Frieden war hoch, weil die Rechtspopulisten das Thema "soziales Schutzbedürfnis" besetzen und daraus Kapital schlagen.
In umgekehrter Richtung entwickelte sich in dieser Zeit Italien. Der Medienunternehmer Silvio Berlusconi habe bei seinem ersten Amtsantritt als Ministerpräsident 1994 ein florierendes Land vorgefunden, das er innerhalb von zwanzig Jahren in den Ruin getrieben habe - unterstützt von der Schwäche der linken Parteien, rechts liegen gelassen von der Europäischen Union, von einseitiger Berichterstattung in der Auslandspresse, vom Ausmustern italienischer Forscher im deutschen Wissenschaftssystem. Es sei seither nicht einfach, italophil zu sein, seufzt Ther und dürfte damit vielen aus der Seele sprechen. Dass ein weiteres Abrutschen des Landes zu einem Menetekel für Brüssel werden könnte, ist freilich nicht neu.
"Seinen Namen nicht zu nennen", so schreibt Ther eingangs über Donald Trump, "hilft manchmal auch schon, um keine schlechte Laune zu bekommen." Dabei geht es ihm keineswegs ums Wegsehen, sondern um das Kehren vor der eigenen Haustür. Sein schmales Buch wirbt für Gemeinwohl und Menschenwürde - "eine der zentralen Forderungen der Revolution von 1989" - und für funktionierende soziale Systeme. Andernfalls übernehme das Ressentiment das Szepter und mit ihm die Abneigung gegen alles, was fremd ist. Ther erklärt dies klug und bescheiden im Gestus und mit einem Blick auf seine Kinder, denen er "eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt", wünscht.
Philipp Ther: "Das andere Ende der Geschichte". Über die Große Transformation.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
200 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neoliberal war gestern: Philipp Ther analysiert den Transformationsprozess seit dem Epochenjahr 1989 und findet ein neues Annus horribilis.
Von Hannes Hintermeier
Wer in diesem Jahr dreißig wurde, kam in einem Jahr zu Welt, dessen politische und wirtschaftliche Folgen noch weit in das Leben seiner Generation fortwirken werden. Sie muss sich als geschriebene oder filmisch dokumentierte Geschichte aneignen, was ihre Großeltern und Eltern erlebten, um zu verstehen, was damals begann. Denn gleichgültig, wie viele Epochenbrüche, Paradigmenwechsel und Zäsuren die Alarmisten des schicksalsverarbeitenden Gewerbes noch anbieten werden, das Revolutionsjahr 1989 bleibt ein Berg der höchsten Kategorie.
Wir erinnern uns: Mauerfall, Ende der Geschichte, Sieg der liberalen Demokratie und des Kapitalismus und so fort. Aber war da nicht noch etwas, jenseits der deutschen Verwandlung? Ja, schreibt der Wiener Osteuropa-Historiker Philipp Ther, das Annus horribilis 2016. Das Vereinigte Königreich stimmt für den Brexit. Und Donald Trump gewinnt die Präsidentschaftswahlen. Davor bald dreißig Jahre permanenter Umbau von Gesellschaften, der radikaler nicht hätte sein können und den aufzuarbeiten wir gerade erst begonnen haben, wie die innerdeutsche Debatte zeigt, die in den Monaten vor dem dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls an Fahrt aufgenommen hat, auch und gerade in dieser Zeitung. Wer glaubt, das alles nicht mehr hören und lesen zu wollen, dem zeigt Ther, warum es gar nicht anders gehen kann. Der Autor, Jahrgang 1967 und vor vier Jahren mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet, bringt Lokalaugenschein mit aus allen Ländern, von denen er erzählt. Das sind zunächst die Vereinigten Staaten, dann Deutschland, Italien, Russland und die Türkei.
Während eines Aufenthalts als Gastprofessor im Land mit dem neuen Krankheitsbild "Trump Anxiety Disorder" findet Ther bei Strand in New York Karl Polanyis in den fünfziger und sechziger Jahren viel gelesenes Buch "The Great Transformation" von 1944. Der gebürtige Ungar war nach Wien und von dort 1934 ins Exil in die Vereinigten Staaten gegangen. Sein Buch untersucht, wie liberale Marktwirtschaften entstehen. Ther verwendet es als Ariadnefaden für seine Überlegungen, weil Polanyi vom Zusammenbruch sozialer Gemeinschaften und ihres Wertesystems schreibt: Der Sozialist Polanyi lehnt etwa den Marxismus strikt ab, weil er das Hauptproblem "in der Entwurzelung und der Zerstörung sozialer Gemeinschaften" sieht, "dem Gefühl vieler Menschen, den Anforderungen der Wirtschaft nicht mehr gewachsen zu sein". Die Kräfte des freien Marktes und das soziale Schutzbedürfnis der Menschen müssten in einer Pendelbewegung ausbalanciert werden, sonst drohe der Gesellschaft Unheil, so weit Polanyi.
Im Epochenjahr 1989 wird vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank der sogenannte Washington-Konsens ins Leben gerufen, der zunächst den lateinamerikanischen Schuldnerländern eine strenge Austeritätspolitik nahelegte. Die Methode, Staaten durch Deregulierung und Privatisierung zu stabilisieren, wird in Osteuropa zuerst in Polen umgesetzt, das Wort von der "Schocktherapie" macht die Runde. Investoren lassen sich nach Osteuropa locken, weil das Bildungsniveau hoch, die Fachkräfte gut ausgebildet und die Löhne niedrig sind. In einer beispiellosen Aufholjagd erreicht Polen fünfundzwanzig Jahre später zwei Drittel des durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukts der westeuropäischen Staaten. Heute geht es den Polen so gut wie lange nicht, aber der Preis für den sozialen Frieden war hoch, weil die Rechtspopulisten das Thema "soziales Schutzbedürfnis" besetzen und daraus Kapital schlagen.
In umgekehrter Richtung entwickelte sich in dieser Zeit Italien. Der Medienunternehmer Silvio Berlusconi habe bei seinem ersten Amtsantritt als Ministerpräsident 1994 ein florierendes Land vorgefunden, das er innerhalb von zwanzig Jahren in den Ruin getrieben habe - unterstützt von der Schwäche der linken Parteien, rechts liegen gelassen von der Europäischen Union, von einseitiger Berichterstattung in der Auslandspresse, vom Ausmustern italienischer Forscher im deutschen Wissenschaftssystem. Es sei seither nicht einfach, italophil zu sein, seufzt Ther und dürfte damit vielen aus der Seele sprechen. Dass ein weiteres Abrutschen des Landes zu einem Menetekel für Brüssel werden könnte, ist freilich nicht neu.
"Seinen Namen nicht zu nennen", so schreibt Ther eingangs über Donald Trump, "hilft manchmal auch schon, um keine schlechte Laune zu bekommen." Dabei geht es ihm keineswegs ums Wegsehen, sondern um das Kehren vor der eigenen Haustür. Sein schmales Buch wirbt für Gemeinwohl und Menschenwürde - "eine der zentralen Forderungen der Revolution von 1989" - und für funktionierende soziale Systeme. Andernfalls übernehme das Ressentiment das Szepter und mit ihm die Abneigung gegen alles, was fremd ist. Ther erklärt dies klug und bescheiden im Gestus und mit einem Blick auf seine Kinder, denen er "eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt", wünscht.
Philipp Ther: "Das andere Ende der Geschichte". Über die Große Transformation.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
200 S., br., 16,- [Euro].
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» ... klug und bescheiden im Gestus und mit einem Blick auf seine Kinder, denen er 'eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt', wünscht.« Hannes Hintermeier Frankfurter Allgemeine Zeitung 20191123