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Sind Der goldene Schlüssel Prosaverzauberungen Grimm'scher Märchen, bietet Franz Josef Czernin in seinem Anderen Schloss den Gegenzauber. So wie Schloss und Schlüssel zusammengehören, beziehen sich Der goldene Schlüssel und Das andere Schloss aufeinander. Czernin stellt darin gleichsam ein Logbuch zu seinen Märchen-Verwandlungen vor: Reflexionen zur Ästhetik, zum Märchen, zu Fiktionalität und Wissenschaft ebenso wie Aphorismen und Interpretationen Grimm'scher Märchen.

Produktbeschreibung
Sind Der goldene Schlüssel Prosaverzauberungen Grimm'scher Märchen, bietet Franz Josef Czernin in seinem Anderen Schloss den Gegenzauber. So wie Schloss und Schlüssel zusammengehören, beziehen sich Der goldene Schlüssel und Das andere Schloss aufeinander. Czernin stellt darin gleichsam ein Logbuch zu seinen Märchen-Verwandlungen vor: Reflexionen zur Ästhetik, zum Märchen, zu Fiktionalität und Wissenschaft ebenso wie Aphorismen und Interpretationen Grimm'scher Märchen.
Autorenporträt
Czernin, Franz JosefFranz Josef Czernin, 1952 in Wien geboren, studierte von 1971 bis 1973 in den USA. Seit 1978 hat er zahlreiche Gedichte, Prosa, Theaterstücke, Essays und Aphorismen veröffentlicht. Dafür wurde er u. a. 2013 mit dem H. C. Artmann-Preis der Stadt Wien und 2015 mit dem Ernst-Jandl-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Wien und in der Steiermark.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2019

Der Sinn liegt verborgen wie das eiserne Kästchen

Wie passt das Grausame in Äpfel-und-Birnen-Sätze? Franz Josef Czernin verfolgt ein romantisches Projekt der Weiterentwicklung des Märchens.

Dass Franz Josef Czernin hier zwei Zwillingsbücher vorgelegt hat, verraten schon ihre Titel, die gleichsam ineinandergreifen, aber nur fast: "Der goldene Schlüssel" hier und "Das andere Schloss" dort, damit scheint Passgenauigkeit bereits ausgeschlossen. Ein anderes Schloss als das, für welches er gemacht ist, vermag auch ein goldener Schlüssel nicht aufzusperren. Eben aus dieser Unstimmigkeit, aus dem Defizit der Sinnproduktion schlägt der Autor sein Kapital - das Rätselhafte und Unpassende ist es, was ihn am Märchen reizt, auch zur Nachahmung reizt und herausfordert: "Der goldene Schlüssel und andere Verwandlungen" fügt ausgewählten Stücken aus der Sammlung der Brüder Grimm eigene Texte hinzu: Travestien und Variationen, entgleisende Paraphrasen und abwegige Fortsetzungen antworten jeweils auf das Original. "Das andere Schloss" ist so etwas wie das Sudelbuch eines poeta doctus: Gedankensplitter Fundstücke und Aphorismen, Deutungen fremder und eigener Märchen, Notizen zur Gattung, zum Wesen der Kunst, zum Märchenhaften der Wirklichkeit und zur Wirklichkeitsverachtung des Märchens.

Die Grimm'sche Kürzestgeschichte von dem armen Knaben, der einen goldenen Schlüssel findet und dann noch ein eisernes Kästchen, in dessen winziges Schloss der Schlüssel tatsächlich passt, endet mit einem erzählerischen Augenzwinkern: "Da drehte er einmal herum, und nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen." So beginnt der erste Band mit einem offenen Ende und jenem Stück, das die "Kinder- und Hausmärchen" beschließt. Der zweite Band endet mit einer Notiz: "Der goldene Schlüssel: Nur Erzählungen ohne Ende können sich wandeln. Oder: Nur in ihrer Wiederholung können sich Erzählungen wandeln."

Wiederholung und Verwandlung - damit hat Franz Josef Czernin zugleich zwei Prinzipien seines Werks (zuletzt "Metamorphosen", 2012 und "zungenenglisch", 2014) benannt. Indem er die Geschichten von Hans im Glück und der hageren Liese und dem undankbaren Sohn in seinen Kunstmärchen fort- und verspinnt, führt er vor, dass auch die Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm in Wahrheit Kunstmärchen sind, von der handschriftlichen Fassung 1810 bis zur Ausgabe letzter Hand 1857 in der Wiederholung jeder der sieben Auflagen verwandelte und um Zweideutiges - nicht jedoch: Doppelsinniges - bereinigte Überlieferung.

Czernins Märchen-Projekt ist im eigentlichen Sinn romantisch: Es geht um Poesie als Mittel der Welterforschung. Der Sinn des Märchens liegt wie das eiserne Kästchen verborgen, vergraben, verschüttet, und er bleibt es, weil die Entbergung nicht bis zur Aufklärung getrieben werden kann. Was immer das nachdenkende Ich zutage fördert, ist klug, originell und unterhaltlich, auch das Komplexe stets glasklar formuliert. Obwohl Czernins Interpretation sexuelle Anspielungen miteinschließt, ist sie nicht psychoanalytisch, sondern erkenntnistheoretisch und sprachphilosophisch orientiert, mithin immer auch poetologisch: "Wäre nichts verborgen, wären Sprache, Poesie und ihre Gegenstände ein und dasselbe."

In ihrem Andeuten und vergeblichen Ausloten dieses Verborgenen im Wechselverhältnis von Sprache und Welt liegt für Czernin der eigentümliche Realismus der Grimm'schen Märchen, aber wohl auch ihre verblüffende Modernität. In seinen Reflex-Texten spielt er ebenso lust- wie kunstvoll mit den vorgefundenen Motiven und Methoden, baut das Wörtlichnehmen mancher Märchen ("Der gescheite Hans") zu einem umfassenden Allotriatreiben mit Anklängen und Homonymen aus. Einerseits reizt ihn das kaum entwirrbare Ineinander-Verflochten-Sein von Schlüssel, Motiv und Erzählung - was Friedrich Schlegel "literarische Arabeske" nennt - andererseits die "fruchtbare Dunkelheit", die sich nicht zuletzt der Form verdanke. Sie berührt sich mit dem Dilemma des Avantgardedichters, der beim "poetischen Roulette" auf Gewinn aus ist: "Gebe ich zu viel Sinn preis, sind mir die Dinge nicht zur Hand. Wenn ich aber keinen Sinn preisgebe, dann steht nichts auf dem Spiel."

Czernins genauer und neugieriger Blick rückt wiederum die romantischen Vorlagen in ein neues, überaus reizvolles Licht, namentlich weniger bekannte Märchen wie "Der gute Handel", "Herr Korbes" oder "Die wunderliche Gasterei". Der Märchendichter der Gegenwart nimmt sich ein Beispiel an der "Grimm'schen Form", die das Individuum mit seinem Geschick kollidieren lässt; etwas stößt ihm zu. Er reanimiert auf seine Weise die performative Kraft des Wortes, der Wörter, die im Märchen ein "Gesagt, getan" heraufbeschwören, als "wären die Worte Körper, die dort Schmerzen fühlen, wo ihnen ihre Gegenstände fehlen". Als Echo auf die Grimm'sche Geschichte von der gefräßigen Katze, die ihre Hausgenossin, die Maus, verschlingt, sobald diese das Wort "Ganzaus" ausgesprochen hat ("Katze und Maus in Gesellschaft"), erfindet Czernin den schönen Schluss-Satz ("Aus"): "Da war aber das winzige Tier schon auf alle vier Knie und gerade vor seinem Mausloch, ja dem sternenweit geöffneten Katzenmaul niedergesunken und hatte sich unter freiem Himmel selbst ganz und gar ausgedacht."

Ganz und gar ausgedacht scheint jedes Märchen, es macht, wie der Autor betont, kein Hehl daraus. Nicht unbedingt, so möchte man Czernin widersprechen, weil es "konsequent" auf Alltäglichkeit verzichtet, da ist sehr wohl vom Wassertragen und Feuermachen die Rede, von Brathühnern und lockeren Hufeisen. Gleichwohl verlockt das Märchen, anders als der realistische Roman, nicht zur Selbst- und zur Weltflucht. So beginnt die berühmte Geschichte vom Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel mit einem paradoxen Bekenntnis: "Diese Geschichte ist eigentlich gelogen, Kinder, aber wahr ist sie doch, denn mein Großvater, von dem ich sie habe, pflegte immer, wenn er sie erzählte, zu sagen: ,Wahr muß sie sein, mein Sohn, sonst könnte man sie ja nicht erzählen.'" Dass die Wahrheit in der Erzählung selbst liegt, ist in der Tat ein verflixt moderner Gedanke, beinahe schon ein experimenteller Kniff.

Wir befänden uns nicht im Reich der Homonyme, würde ein Titel wie "Das andere Schloss" nicht auch Kafka ins Spiel bringen. Nicht nur, indem Czernin das Märchen als die Spielwiese der Kontingenz, als absurd und "akausal" beschreibt ("Etwas folgt auf, aber nicht aus etwas"), erweist er dem Märchenerzähler der Moderne die Ehre, er zitiert ihn auch des Öfteren: "Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses." Dazu Czernin: "Und was gäbe ich darum zu wissen, ob Kafka in den Sälen auch das andere Wort hören wollte oder musste." Dass jener Aphorismus für den Interpreten jedenfalls auf Grimms Märchen zutrifft, liegt auf der Hand. Das Gespinst an Verknüpfungen mit Kafkas Kosmos, das Czernin bloßlegt, rankt sich nicht nur um Katz und Maus und Kafkas "Kleine Fabel".

Von Czernin erfahren wir auch, dass man Grimms Märchen 1945 für die Verrohung des deutschen Volkes verantwortlich machte. Heute will es scheinen, dass ihr Irritierendes nicht in ihrer Gewalttätigkeit liegt, die etwas Bud-Spencer-Filmhaftes hat - Franz Josef Czernin: "Wenn man das Grausamste selbstverständlich sagen kann, dann scheint es unwirklich oder harmlos. Als gäbe es eine Welt, in der das Kopf- und Gliederabschneiden, aller Schmerz und alles Sterben fast gar nichts sind, da sie doch in einfachen Äpfel-und Birnen-Sätzen gesagt werden können."

Kein solcher, aber zweifellos ein unangreifbarer Satz ist jener der naschhaften Katze: "Es schmeckt nichts besser, als was man selber ißt." Er könnte von den Brüdern Grimm stammen oder von ihrem Nachdichter. Der Leser finde es selbst heraus.

DANIELA STRIGL

Franz Josef Czernin:

"Der goldene Schlüssel und andere Verwandlungen".

Verlag Matthes & Seitz,

Berlin 2018. 232 S., geb., 24,- [Euro].

Franz Josef Czernin:

"Das andere Schloss".

Verlag Matthes & Seitz,

Berlin 2018. 320 S., geb., 26,- [Euro].

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