32,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Versandfertig in über 4 Wochen
  • Broschiertes Buch

Die Erde ist in ein neues Zeitalter eingetreten: Auf das Holozän folgt nun das "Anthropozän", in dem sich der Mensch zu einer geologischen Kraft entwickelt hat. Doch was bedeutet die Ausrufung dieser neuen Erdepoche für die politische und rechtliche Governance unseres Planeten? Das Anthropozän-Konzept veranschaulicht den Wandel des globalen Zeit- und Raumverständnisses. Es reflektiert ein neues Verhältnis von Natur und Kultur. Es verabschiedet die Leitideen der "Risikogesellschaft" und der "Nachhaltigkeit". Es fragt nach der normativen Steuerungskraft der Resistenz, Resilienz und Persistenz…mehr

Produktbeschreibung
Die Erde ist in ein neues Zeitalter eingetreten: Auf das Holozän folgt nun das "Anthropozän", in dem sich der Mensch zu einer geologischen Kraft entwickelt hat. Doch was bedeutet die Ausrufung dieser neuen Erdepoche für die politische und rechtliche Governance unseres Planeten? Das Anthropozän-Konzept veranschaulicht den Wandel des globalen Zeit- und Raumverständnisses. Es reflektiert ein neues Verhältnis von Natur und Kultur. Es verabschiedet die Leitideen der "Risikogesellschaft" und der "Nachhaltigkeit". Es fragt nach der normativen Steuerungskraft der Resistenz, Resilienz und Persistenz ökologischer und kultureller Systeme. Es rechnet mit Tieren, Pflanzen und Landschaften als neuen Akteuren im Rechtssystem. Die environmental humanities rekonstruieren die anthropozäne Herausforderung als Kontrakt, Komposition oderKonflikt: Doch welchem dieser drei Anthropozän-Konzepte sollten wir folgen?
Autorenporträt
Jens Kersten, Prof. Dr., geb. 1967, Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.12.2014

Im Reich des Menschen
Über ökologische Kosten des Wohlfühl-Kapitalismus

Carole Dieschbourg ist nicht zu beneiden. Die luxemburgische Umweltministerin wird die ersten beiden Dezemberwochen 2015 in Paris verbringen - aber nicht, um Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Stattdessen muss sie auf der Klimakonferenz einen Nachfolgevertrag für das Kyoto-Protokoll aushandeln. Da ihr Land dann die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union innehat und Dieschbourgs Großherzogtum für ökologische Frevel wie geringe Treibstoffsteuern verantwortlich ist, steht die frühere Unternehmerin unter doppeltem Druck, ein Abkommen mit verbindlichen Zielen zu vereinbaren.

Es wird dann schon die 21. Weltklimakonferenz sein, und das Interesse der Weltbevölkerung sinkt. Dabei wird die Situation immer bedrohlicher: Nicht nur der Klimawandel bedroht die Welt, auch die damit einhergehenden Folgewirkungen wie Artenverschleppung sind gravierend. So ist die Asiatische Tigermücke, die das Denguefieber überträgt, nach Europa gekommen: Im August 2014 wurde am Freiburger Waldsee ein Exemplar entdeckt, zuvor gab es bereits Sichtungen an Autobahnen. Vermutlich sind Warenlieferungen aus China schuld.

Der Umweltschutz war das wichtigste Thema der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Seitdem ist vieles erreicht worden oder zumindest in Planung: Energiewende eingeleitet, Ozonloch gestopft, Waldsterben beendet, Flüsse sauberer. Es ist das Verdienst der Journalisten Dirk Maxeiner und Michael Miersch, auf diese Erfolge hingewiesen und gegen eine Öko-Diktatur angeschrieben zu haben. Der Berliner Meteorologe und Physiker Hans-Joachim Lange zweifelt zudem in seinem elektronischen Buch "Klimakatastrophe oder Katastrophe der Klimadiskussion" daran, dass man die Entwicklung des Klimawandels überhaupt prognostizieren kann. Er legt dar, dass die Erwärmung seit 16 Jahren stagniert.

Dabei werden allerdings kurzfristige Temperaturschwankungen mit langfristigen Klimatrends vermischt, meint der Journalist Toralf Staud. In solchen Perioden saugen die Ozeane die Wärme quasi auf. Unumstritten ist diese These zwar nicht, aber das Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie hat schon im Jahre 1995 den menschlichen Fingerabdruck im Klimageschehen nachgewiesen.

Sind wir in ein neues Zeitalter eingetreten? Auf das Holozän folgt nun, sagen manche Geowissenschaftler und Umwelthistoriker, das Anthropozän. "Unser Handeln reicht weit in andere Regionen dieser Welt: Kleinbauern, denen Land für die Sojaproduktion gestohlen wird; indigene Völker, die aus ihrer Heimat vertrieben werden, damit nach noch mehr Öl gebohrt werden kann; Kinder, die unsere Kleidung nähen", beklagt der Grüne Anton Hofreiter.

Wir geraten in eine neue und heftige Öko-Diskussion. Da tut es gut, dass der Münchner Hochschullehrer für Öffentliches Recht, Jens Kersten, in aller Ruhe das "Anthropozän-Konzept" erläutert: "Menschen modifizieren die biochemischen und Wasserkreisläufe, vernichten unwiederbringlich Tier- und Pflanzenarten, verändern das Weltklima, transformieren Landschaften, variieren genetische Konstitutionen und schaffen synthetisch neue Lebensformen", schreibt der Staatsrechtler: "Wenn aber die Menschen zu einem zentralen geologischen Faktor auf der Erde geworden sind, müssen sie zugleich auch eine konzeptionelle Vorstellung davon entwickeln, wie sie ihrer neuen erdgeschichtlichen Rolle und der damit einhergehenden Verantwortung gerecht werden."

Kersten ist nicht der Einzige, der das Thema derzeit aufgreift. Der Soziologe Stephan Lessenich meint, dass der westliche Wohlfühl-Kapitalismus nicht über seine Verhältnisse lebe, aber: "Er lebt über die Verhältnisse anderer." Die Schriftstellerin Karen Duve, die vor wenigen Jahren ein großartiges Plädoyer gegen das Fleischessen vorgelegt hatte, verrennt sich dagegen in ihrem neuen Essay unter dem Titel "Warum die Sache schiefgeht". Schon die nächste oder übernächste Generation wird nicht überleben, wenn wir den derzeitigen Lebensstil beibehalten, prophezeit sie. Grund sei, dass in Wirtschaft und Politik Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen das Sagen hätten. Als Gegenstrategie schlägt sie unter anderem vor, viel mehr Frauen in entscheidende Positionen zu bringen. Ob das Matriarchat die Lösung ist?

Kersten dagegen ist so klug, Karl Poppers Freiheit der institutionalisierten Revisionen und Friedrich von Hayeks Freiheit der spontanen Ordnungen als Entdeckungsverfahren zu bezeichnen, "die nicht nur politisch und ökonomisch, sondern vor allem auch ökologisch funktionieren". Das macht Kerstens Gedanken so fruchtbar: Er widerlegt die Konzepte anderer Anthropozän-Forscher und lehnt etwa den "Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation" des Potsdamer Klimaforschers Hans Joachim Schellnhuber ab. Der darin postulierte Nachhaltigkeitsgrundsatz sei zu nachgiebig, um ökologische Belange gegenüber sozialen und ökonomischen Interessen effektiv durchzusetzen.

Über das Artensterben oder die atomare Müllakkumulation lasse sich "schlicht nichts Nachhaltiges sagen". Als Verwaltungsrechtler weiß Kersten, dass Umweltbelange bei Abwägungsentscheidungen regelmäßig den Kürzeren ziehen. Dieses Manko lässt sich nur auflösen, wenn man Tieren und Landschaften subjektive Rechte gewährt und Menschen den Schutz vor Umweltgefährdungen einklagen könnten. Bisher seien die Grundrechte vorrangig als Abwehrrechte gegen den Staat gedacht, eine Drittwirkung gegenüber Eigentümern von Naturgütern sei ausgeschlossen.

In den Landesverfassungen von Brandenburg, Bayern und Sachsen finden sich Versuche, den Naturschutz zu subjektivieren. Ob sich die ganze Welt auf solche Revolutionen wird einigen können, muss Carole Dieschbourg in Paris herausfinden. Von ihrem Verhandlungsgeschick wird abhängen, ob die Welt ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk bekommt - ein sicheres Leben im Anthropozän.

JOCHEN ZENTHÖFER

Jens Kersten: Das Anthropozän-Konzept. Nomos, Baden-Baden 2014. 124 Seiten, 32 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr