Paul J. Crutzen ist einer der vielseitigsten Denker unserer Tage. In seinem umfangreichen Werk setzt er sich mit ökologischen Folgen menschlichen Handelns auseinander. Ob Nuklearer Winter, globale Erwärmung oder Ozonabbau - die Gegenstände von Crutzens Forschung sind so vielfältig wie bedeutend. Aktuell wird er mit dem Begriff des »Anthropozän«, des menschengemachten Zeitalters, in Verbindung gebracht, den er wesentlich geprägt und in die Diskussion eingebracht hat.
Dieser Band versammelt Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers sowie Einführungen in sein Werk von Michael Müller, Klaus Töpfer, Hans Joachim Schellnhuber, Kai Niebert und Volker Gerhardt.
Dieser Band versammelt Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers sowie Einführungen in sein Werk von Michael Müller, Klaus Töpfer, Hans Joachim Schellnhuber, Kai Niebert und Volker Gerhardt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.11.2019Wir schaffen Realitäten
Der Mensch als erdgeschichtlicher Akteur: Der Begriff "Anthropozän" muss erst noch in Politik und Wirtschaft vordringen. Zwei neue Bücher können dabei helfen.
Kapitalistisches Wirtschaften ist immer noch blind für die Lebensgrundlagen, von denen es zehrt. In seinen Bilanzen tauchen Natur, Klima und Ökosysteme erst dann als Werte auf, wenn sie tiefgreifend gestört oder restlos zerstört sind. Das Konzept der Nachhaltigkeit versucht hier gegenzusteuern. Echten Wandel hat es freilich noch nicht gebracht. Doch aus einer gar nicht erwartbaren Richtung, der Geologie, kam inzwischen ein neuer, breit rezipierter Anstoß: Rede ist vom Anthropozän, dem sich in diesem Herbst zwei lesenswerte Bücher widmen.
Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers Paul Crutzen "für das neue Erdzeitalter" verspricht der erste der beiden Bände, herausgegeben von dem seit Jahrzehnten in Umweltpolitik und Umweltbewegung aktiven Michael Müller. Der Titel ist zwar nicht ganz korrekt, denn es geht beim Anthropozän um eine Erdepoche und nicht gleich um ein Erdzeitalter (das Anthropozoikum heißen müsste). Aber dass es um große Dimensionen geht, das stimmt.
Bereits im Jahr 2000 schlug Paul Crutzen, Atmosphärenforscher und früher Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, vor, das seit dem Ende der letzten Eiszeit währende Holozän durch die Erdepoche des Menschen zu ersetzen, das Anthropozän. Klimawandel, Artenverluste, neue Chemikalien und vieles mehr, was wir Menschen erzeugen, ist Crutzen zufolge von derartig globaler und langfristiger Wucht, dass wir Menschen zum Akteur der Erdgeschichte werden. Seine Worte gelten in der Wissenschaft viel. Schließlich hat Crutzen den Nobelpreis dafür bekommen, dass er mit zwei weiteren Forschern die Gefahr des Ozonlochs rechtzeitig erkannte.
Der Band besticht, bevor der dokumentarische Teil beginnt, durch einführende Texte, die klarmachen, was die These einer Erdepoche des Menschen bedeutet: Unser tagtäglicher Konsum produziert Millionen und Milliarden Tonnen Beton, Erze, Kohlendioxid und Plastik, die zusammen eine neuartige geologische Realität schaffen, messbar an Rückständen, Klimaänderungen und veränderter Evolution noch in ferner Zukunft. Was wir heute tun, hat im Fall der Klimakrise Auswirkungen für Zehntausende Jahre, im Fall des Artensterbens für Millionen Jahre. Der neue Betrachtungshorizont, schreibt Müller, "muss von den industriellen Eingriffen in das Erdsystem ausgehen, ihre längerfristigen Wirkungen verstehen und die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten beachten". Müller umschreibt Crutzens Botschaft so: "Es muss dringend zu einer sozial-ökologischen Transformation kommen, die auf Dauer die planetarischen Grenzen einhält und die Tragfähigkeit der Erde für das menschliche Leben bewahrt."
Auch andere Essays, die der Sammlung von Schlüsseltexten von Crutzen vorangestellt sind, bieten Nachdenkenswertes. So beschreibt etwa der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer das Anthropozän als Antwort auf die Krise von Demokratie und internationaler Kooperation. Denn das neue Konzept lasse die Erde als "gemeinsames Haus" erscheinen, für das alle Bewohner auch gemeinsam verantwortlich sind. Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt ortet in der Anthropozän-Idee wegen ihres naturwissenschaftlich-empirischen und eben nicht primär religiösen, philosophischen oder rein ökonomischen Ursprungs eine "normative Wende".
Unter den wissenschaftlichen Schriften Crutzens, die der Band meist erstmals in deutscher Übersetzung versammelt, ragt neben einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gaia-Hypothese von James Lovelock jene hervor, in der er die "Geologie der Menschheit" beschwört: Fast zwanzig Jahre vor dem Entstehen von "Scientists for the Future" schreibt Crutzen darin Ingenieuren und Wissenschaftlern die Aufgabe zu, "der Gesellschaft den Weg in Richtung eines ökologisch nachhaltigen Managements des Planeten" zu weisen.
Im zweiten Anthropozän-Buch versuchen sich die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn und ihr Fachkollege Hannes Bergthaller an einer Einführung in das Thema. "Zum Epochenbewusstsein des Anthropozäns gehört, dass viele der Kategorien obsolet werden, in denen das Verhältnis zwischen Mensch und ökologischer Umwelt gefasst wurde", heißt es zu Beginn. Das Konzept der neuen Erdepoche werfe die Frage auf, was noch Natur sei, wenn wir sie als wesentlich vom Menschen beeinflusst dächten, und was noch Kultur, wenn diese in Form von Konsum und Technik "eine zunehmend unkontrollierte Eigendynamik" entfalte.
Die Autoren bieten zuerst gut präsentiertes Grundlagenwissen, um dann die Weiterungen zu erkunden. Im Abschnitt zur Politik des Anthropozäns zitieren sie ein Bild Goyas, auf dem sich zwei Männer mit Stöcken bekämpfen, während sie im Treibsand stehen. Der Boden als Akteur, den die versinkenden Kämpfer ignorieren, steht übertragen für all die Lebensformen und Lebenstypen - ob Moore, Urwälder, Algen oder Pilze - die den wirtschaftlichen Akteuren kaum etwas bedeuten.
Ob das Anthropozän sich als neue, gegen die kapitalistisch geprägte Globalisierung in Stellung gebrachte Leitidee etablieren wird können, ist noch offen. Zwar hat der Begriff in den vergangenen Jahren eine steile Karriere in der wissenschaftlichen und kulturellen Sphäre absolviert, bis hin zur Gefahr modischer Inflationierung. Der Sprung in Politik und Wirtschaft steht aber noch aus. Zudem irrt Michael Müller, wenn er in dem Sammelband schreibt, das Anthropozän sei von den zuständigen geologischen Instanzen bereits formal anerkannt. Erst eine Vorstufe dazu ist erreicht.
Die vollständige Anerkennung unserer bisherigen Erdepoche, des Holozäns, dauerte ganze hundert Jahre. Das ist verständlich, denn Geologen irren ungerne, wenn sie Epochen festzurren. Doch die Zeit vor der formalen Anerkennung könnte viel wichtiger sein als der Akt der Ausrufung, hat Paul Crutzen einmal gesagt: "Am wichtigsten ist, dass wir verstehen, welche ungeheure Verantwortung wir haben." Dass die Geologie in großen Zeiträumen denkt, ist Mahnung, kein Trost. Wir sitzen am längsten Hebel, den Menschen je in der Hand hatten. Die Anthropozän-Idee, das machen die beiden Bücher klar, lässt uns überhaupt erst verstehen, was diese Situation bedeutet.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Paul J. Crutzen:
"Das Anthropozän".
Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter.
Hrsg. v. Michael Müller.
Oekom Verlag,
München 2019.
224 S., geb., 20,- [Euro].
Eva Horn und Hannes Bergthaller: "Anthropozän". Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2019. 256 S., br., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Mensch als erdgeschichtlicher Akteur: Der Begriff "Anthropozän" muss erst noch in Politik und Wirtschaft vordringen. Zwei neue Bücher können dabei helfen.
Kapitalistisches Wirtschaften ist immer noch blind für die Lebensgrundlagen, von denen es zehrt. In seinen Bilanzen tauchen Natur, Klima und Ökosysteme erst dann als Werte auf, wenn sie tiefgreifend gestört oder restlos zerstört sind. Das Konzept der Nachhaltigkeit versucht hier gegenzusteuern. Echten Wandel hat es freilich noch nicht gebracht. Doch aus einer gar nicht erwartbaren Richtung, der Geologie, kam inzwischen ein neuer, breit rezipierter Anstoß: Rede ist vom Anthropozän, dem sich in diesem Herbst zwei lesenswerte Bücher widmen.
Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers Paul Crutzen "für das neue Erdzeitalter" verspricht der erste der beiden Bände, herausgegeben von dem seit Jahrzehnten in Umweltpolitik und Umweltbewegung aktiven Michael Müller. Der Titel ist zwar nicht ganz korrekt, denn es geht beim Anthropozän um eine Erdepoche und nicht gleich um ein Erdzeitalter (das Anthropozoikum heißen müsste). Aber dass es um große Dimensionen geht, das stimmt.
Bereits im Jahr 2000 schlug Paul Crutzen, Atmosphärenforscher und früher Direktor am Max-Planck-Institut für Chemie, vor, das seit dem Ende der letzten Eiszeit währende Holozän durch die Erdepoche des Menschen zu ersetzen, das Anthropozän. Klimawandel, Artenverluste, neue Chemikalien und vieles mehr, was wir Menschen erzeugen, ist Crutzen zufolge von derartig globaler und langfristiger Wucht, dass wir Menschen zum Akteur der Erdgeschichte werden. Seine Worte gelten in der Wissenschaft viel. Schließlich hat Crutzen den Nobelpreis dafür bekommen, dass er mit zwei weiteren Forschern die Gefahr des Ozonlochs rechtzeitig erkannte.
Der Band besticht, bevor der dokumentarische Teil beginnt, durch einführende Texte, die klarmachen, was die These einer Erdepoche des Menschen bedeutet: Unser tagtäglicher Konsum produziert Millionen und Milliarden Tonnen Beton, Erze, Kohlendioxid und Plastik, die zusammen eine neuartige geologische Realität schaffen, messbar an Rückständen, Klimaänderungen und veränderter Evolution noch in ferner Zukunft. Was wir heute tun, hat im Fall der Klimakrise Auswirkungen für Zehntausende Jahre, im Fall des Artensterbens für Millionen Jahre. Der neue Betrachtungshorizont, schreibt Müller, "muss von den industriellen Eingriffen in das Erdsystem ausgehen, ihre längerfristigen Wirkungen verstehen und die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten beachten". Müller umschreibt Crutzens Botschaft so: "Es muss dringend zu einer sozial-ökologischen Transformation kommen, die auf Dauer die planetarischen Grenzen einhält und die Tragfähigkeit der Erde für das menschliche Leben bewahrt."
Auch andere Essays, die der Sammlung von Schlüsseltexten von Crutzen vorangestellt sind, bieten Nachdenkenswertes. So beschreibt etwa der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer das Anthropozän als Antwort auf die Krise von Demokratie und internationaler Kooperation. Denn das neue Konzept lasse die Erde als "gemeinsames Haus" erscheinen, für das alle Bewohner auch gemeinsam verantwortlich sind. Der Berliner Philosoph Volker Gerhardt ortet in der Anthropozän-Idee wegen ihres naturwissenschaftlich-empirischen und eben nicht primär religiösen, philosophischen oder rein ökonomischen Ursprungs eine "normative Wende".
Unter den wissenschaftlichen Schriften Crutzens, die der Band meist erstmals in deutscher Übersetzung versammelt, ragt neben einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gaia-Hypothese von James Lovelock jene hervor, in der er die "Geologie der Menschheit" beschwört: Fast zwanzig Jahre vor dem Entstehen von "Scientists for the Future" schreibt Crutzen darin Ingenieuren und Wissenschaftlern die Aufgabe zu, "der Gesellschaft den Weg in Richtung eines ökologisch nachhaltigen Managements des Planeten" zu weisen.
Im zweiten Anthropozän-Buch versuchen sich die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn und ihr Fachkollege Hannes Bergthaller an einer Einführung in das Thema. "Zum Epochenbewusstsein des Anthropozäns gehört, dass viele der Kategorien obsolet werden, in denen das Verhältnis zwischen Mensch und ökologischer Umwelt gefasst wurde", heißt es zu Beginn. Das Konzept der neuen Erdepoche werfe die Frage auf, was noch Natur sei, wenn wir sie als wesentlich vom Menschen beeinflusst dächten, und was noch Kultur, wenn diese in Form von Konsum und Technik "eine zunehmend unkontrollierte Eigendynamik" entfalte.
Die Autoren bieten zuerst gut präsentiertes Grundlagenwissen, um dann die Weiterungen zu erkunden. Im Abschnitt zur Politik des Anthropozäns zitieren sie ein Bild Goyas, auf dem sich zwei Männer mit Stöcken bekämpfen, während sie im Treibsand stehen. Der Boden als Akteur, den die versinkenden Kämpfer ignorieren, steht übertragen für all die Lebensformen und Lebenstypen - ob Moore, Urwälder, Algen oder Pilze - die den wirtschaftlichen Akteuren kaum etwas bedeuten.
Ob das Anthropozän sich als neue, gegen die kapitalistisch geprägte Globalisierung in Stellung gebrachte Leitidee etablieren wird können, ist noch offen. Zwar hat der Begriff in den vergangenen Jahren eine steile Karriere in der wissenschaftlichen und kulturellen Sphäre absolviert, bis hin zur Gefahr modischer Inflationierung. Der Sprung in Politik und Wirtschaft steht aber noch aus. Zudem irrt Michael Müller, wenn er in dem Sammelband schreibt, das Anthropozän sei von den zuständigen geologischen Instanzen bereits formal anerkannt. Erst eine Vorstufe dazu ist erreicht.
Die vollständige Anerkennung unserer bisherigen Erdepoche, des Holozäns, dauerte ganze hundert Jahre. Das ist verständlich, denn Geologen irren ungerne, wenn sie Epochen festzurren. Doch die Zeit vor der formalen Anerkennung könnte viel wichtiger sein als der Akt der Ausrufung, hat Paul Crutzen einmal gesagt: "Am wichtigsten ist, dass wir verstehen, welche ungeheure Verantwortung wir haben." Dass die Geologie in großen Zeiträumen denkt, ist Mahnung, kein Trost. Wir sitzen am längsten Hebel, den Menschen je in der Hand hatten. Die Anthropozän-Idee, das machen die beiden Bücher klar, lässt uns überhaupt erst verstehen, was diese Situation bedeutet.
CHRISTIAN SCHWÄGERL
Paul J. Crutzen:
"Das Anthropozän".
Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter.
Hrsg. v. Michael Müller.
Oekom Verlag,
München 2019.
224 S., geb., 20,- [Euro].
Eva Horn und Hannes Bergthaller: "Anthropozän". Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2019. 256 S., br., 15,90 [Euro].
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