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"Wo warst du?" In dicken roten Buchstaben schreibt die rätselhafte June diese Frage an die Wand ihres Apartments. Als sich Barry, der in der Wohnung gegenüber lebt, bei ihr meldet, nennt sie ihn ihren "unsichtbaren Freund" und erzählt ihm die Geschichte ihres Lebens - und die Geschichte einer ungewöhnlichen erotischen Obsession. Schritt für Schritt entführt sie Barry in eine Welt, in der sich Phantasie und Wirklichkeit auf bizarre Weise vermischen.

Produktbeschreibung
"Wo warst du?" In dicken roten Buchstaben schreibt die rätselhafte June diese Frage an die Wand ihres Apartments. Als sich Barry, der in der Wohnung gegenüber lebt, bei ihr meldet, nennt sie ihn ihren "unsichtbaren Freund" und erzählt ihm die Geschichte ihres Lebens - und die Geschichte einer ungewöhnlichen erotischen Obsession. Schritt für Schritt entführt sie Barry in eine Welt, in der sich Phantasie und Wirklichkeit auf bizarre Weise vermischen.
Autorenporträt
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm »Die gefährliche Frau«, »Singvogel«, der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman »Eine kurze Geschichte vom Glück« und zuletzt »Das Glück meiner Mutter«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2002

Unter uns Pfarrerstöchtern
Peep-Show mit Bekenntnis: Thommie Bayer wirft tiefe Blicke ins Aquarium

Der Mensch ist ein sentimentales Wesen. Thommie Bayer scheut sich nicht, das auszusprechen, und das, unter anderem, hat ihm in manchen Leserkreisen den Status des Kultautors eingetragen. In die Spiegel, die er aufstellt, schaut man gern - wenn kein anderer zusieht. In "Aquarium", Bayers neuem Roman, trägt der Spiegel einen schwarzen Trauerrand und ist von Tränenschlieren überzogen, denn der Ich-Erzähler hat gerade seine große Liebe verloren. Sie ist von einem Auto überfahren worden, er selbst, schwer verletzt, hat monatelang im Krankenhaus gelegen. Jetzt sitzt er, immer noch krank geschrieben, in seinem schicken Appartement und denkt über das Leben nach, das wiedergewonnene und zugleich seines strahlenden Zentrums beraubte. Und er tippt in seinen Computer, was ihm dazu so alles einfällt.

Dieser Barry ist ein sentimentaler Hund, was in seiner Lage von Vorteil ist, weil Sentimentalität beim Trauern hilft. Sie hellt die Vergangenheit auf und dunkelt die Gegenwart ein, bis die Tränen getrocknet sind und die Augen wieder frei für Neues. Zum Beispiel für das, was sich im Dachgeschoß des Hauses gegenüber abspielt, in jenem Apartment, das der Erzähler wegen der vielen Fensterflächen "Aquarium" nennt. Dort ist eine Frau eingezogen; sie sitzt im Rollstuhl und unterhält, bis auf einen Essensbringdienst und einen Masseur, keinen Kontakt zur Außenwelt. Während Barry sich seine Erinnerungen an die verlorene Geliebte von der Seele schreibt, läßt er den Blick immer häufiger nach drüben schweifen und bemerkt, daß auch die gelähmte Frau pausenlos in ihren Laptop tippt.

Es dauert nicht lange, bis die beiden Eremiten Kontakt aufnehmen, über E-Mail natürlich, und bald intensiv miteinander chatten. June, der jungen Nachbarin, war keineswegs verborgen geblieben, daß sie von Barry heimlich beobachtet wurde. Und es war ihr recht: "Ich bin die, die gesehen werden will", schreibt sie und entlastet mit diesem Geständnis den Voyeur, den sie in ihm herausgekitzelt hat. Ein seltsamer Flirt hebt nun an, in jener digital vermittelten Spielart, die Intimität und Distanz zugleich erlaubt und in der die abgründigsten Bekenntnisse möglich sind, ohne sich in die Augen sehen zu müssen.

Von Anfang an hat dieses paraschriftliche "Gespräch" einen sexuellen Unterton. Er geht eindeutig von June aus, dem dominanten Pol der beiden. Sie macht Barry zum Zeugen visueller und sprachlicher Entblößungen, die ihn erregen und verunsichern, bietet ihm Peep-Show und Konfession in einem. Sie läßt ihn ihre Aufzeichnungen lesen, den Bericht über ein fatales, an Hörigkeit und Selbstaufgabe grenzendes Verhältnis zu einem arabischen Krankenpfleger. Dabei geht sie durchaus ins krude Detail. Obszön ist das Buch deshalb noch lange nicht; die Obszönität literarischer Werke, das hat schon D. H. Lawrence in einem berühmten Aufsatz ausgeführt, liegt nicht in ihrer Erregungsqualität, sondern in der Verlogenheit, mit der sexuelle Verhältnisse dargestellt, meistens: verkitscht werden. Reiz und Risiko dieses Romans liegen nun gerade darin, daß der Autor, indem er an der Klippe der Pornographie geradezu demonstrativ dicht vorbeisegeln will, sich gefährlich den Riffen des Kitsches nähert. Denn die Drastik der erzählten Erlebnisse kontrastiert er durch eine Ich-versteh'-dich-ja-so-gut-Kuschelwärme, die von Beginn an zwischen June und Barry waltet.

June weiß genau, daß detailwütig ausgemalte Sexualpraktiken, das Arbeitsmittel der Pornographie, sich schnell abnutzen. Sie überschätzt sich, als sie sich dem Einfluß des geheimnisvollen und unverkennbar sadistischen Kalim aussetzt. Sie unterschätzt seine Macht, weil sie sie auf die pornographische Oberfläche der Sexualhandlungen reduziert. Die eigentliche Steigerung beim Sex - das begreifen June, weil sie es erlebt, und Barry, der es in wachsender Verwirrung lesen muß - bewirkt eine einzige, die eigentliche erogene Zone: das Gehirn. Sie zeigt June, wie gefährdet sie tatsächlich ist - weil sie den Grad der Erniedrigung, den sie hinzunehmen bereit ist, nicht absehen kann. Hier erhebt ein Monster von ganz anderen Dimensionen sein Haupt. Es ist die Sexualität selbst, mit ihrem unabschätzbaren Potential an Aggressivität, an Destruktivität, an Entgrenzung und Selbstaufgabe. Zum Äußersten kommt es dann doch nicht in diesem Roman, vielmehr zu Versöhnung, Tröstung und Heilung. June merkt, daß sie doch nicht "so eine" ist (wie Pfarrerstöchter sagen würden), und was der Leser am Ende aus der Hand legt, ist - zu des einen Befriedigung, zu des anderen Enttäuschung - ein veritables Happy-End.

June, die provozierende Verführerin mit dem ganz anderen Unterleib, diese moderne Undinen-Figur, ist also nicht, was sie zu sein scheint (das gilt auch für anderes: Aber mehr darf hier nicht verraten werden). Barry dagegen ist ganz so, wie er sich gibt: ein lieber, nicht weiter bemerkenswerter Kerl, der seine Allerweltsbedürfnisse mit ästhetischem Abgrenzungsfuror zu tarnen versucht. "Geschmack" ist sein Distinktionsmerkmal, was sich in der Nennung zahlreicher Marken, Autofarben und in dogmatischen Urteilen darüber ausdrückt, was geht und was nicht. Klimt im Wohnzimmer: unmöglich; Rothko: durchaus.

Was Barry sympathisch macht - Bayers Helden sind immer sympathisch -, ist, daß er das alles selbst weiß. Er hat ein angenehm unverkrampftes Verhältnis zu all den Aporien des Ausdrucks und der Empfindung, mit denen er eigentlich zu kämpfen hätte. Vom Herzen zu sprechen, gar vom gebrochenen, ist natürlich kitschig, aber zu sagen, daß man gern "Herz" sagen würde, wenn es nicht so kitschig wäre: Das geht gerade noch. Es bannt zwar weder den Kitsch, noch erspart es die Suche nach dem treffenden Wort, aber Thommie Bayer will eben nicht klüger sein als sein Held.

Erkenntnis erhöht die Kampfkraft. Den knappen Sieg über die beiden herausgeforderten Monster, den Kitsch und die Pornographie, verdankt "Das Aquarium" aber schließlich jenen Stärken, welche die Romane des Autors seit längerem auszeichnen: einem ausgeprägten Gespür für Tempo und Dynamik und einem hochentwickelten Sinn für Aufbau und Architektur. Hinzu kommt diesmal ein fein ausgelegtes Netzwerk von Motiven und Konstellationen und die Fähigkeit, diese im Nu umzuwerfen. So viel hat Thommie Bayer noch nie gewagt. Und so viel ist ihm selten geglückt.

Thommie Bayer: "Das Aquarium". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002. 336 S., geb., 19,90

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