Peter Stamms Roman »Das Archiv der Gefühle« fragt, ob wir im Leben unsere Chancen erkennen?
Die Sängerin Fabienne heißt eigentlich Franziska, und es ist vierzig Jahre her, dass sie eng befreundet waren und er ihr seine Liebe gestand. Fast ein ganzes Leben. Seitdem hat er alles getan, um Unruhe und Unzufriedenheit von sich fernzuhalten. Er hat sich immer mehr zurückgezogen und nur noch in der Phantasie gelebt. Er hat sein Leben versäumt. Aber jetzt taucht Franziska wieder auf. Gefährdet das seine geschützte Existenz, oder nimmt er diese zweite Chance wahr?
Die Sängerin Fabienne heißt eigentlich Franziska, und es ist vierzig Jahre her, dass sie eng befreundet waren und er ihr seine Liebe gestand. Fast ein ganzes Leben. Seitdem hat er alles getan, um Unruhe und Unzufriedenheit von sich fernzuhalten. Er hat sich immer mehr zurückgezogen und nur noch in der Phantasie gelebt. Er hat sein Leben versäumt. Aber jetzt taucht Franziska wieder auf. Gefährdet das seine geschützte Existenz, oder nimmt er diese zweite Chance wahr?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Oliver Jungen erkennt einige der Stammmotive Peter Stamms in dessen neuem Roman. Es geht um Beziehungen, das Scheitern daran und die Verfügungsgewalt über die eigene Geschichte. Sympathisch am neuen Buch findet Jungen nicht nur den nerdigen Helden, einen Archivar, beruflich wie privat, der den Ausbruch aus der Welt des Bewahrens ins Echte (in die Liebe) wagen will, sondern auch die elegante Leichtigkeit, mit der Stamm die Geschichte sich entfalten lässt. Was davon real, was Wunschdenken der Figur ist, bleibt unklar. Für Jungen ein weiteres Plus der Geschichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2021Chanson vom Rückwärtsträumen
Die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit: Peter Stamms Roman "Das Archiv der Gefühle"
Dass einer immer wieder dasselbe Buch schreibt, ist kein Einwand, zumindest dann nicht, wenn jede neuerliche Überformung von solch stilistischer Anmut ist wie bei Peter Stamm, diesem Meister des Mitteltons und der schwebenden Melancholie. Seine zunehmend verwobene Prosa ist von einer uns anspringenden Gegenwärtigkeit, scharfkantig wie ein schweizerischer Gebirgszug und doch zugleich unterhöhlt von Denkfluchttunneln hinüber ins Imaginäre, ins Molassebecken der Sehnsüchte und Erinnerungen, in dem Stamms Protagonisten sich selbst gern abhandenkommen, aber ebenso oft auch wieder Tritt fassen und zu Dramaturgen ihrer eigenen Geschichte avancieren.
Was sich ähnelt in vielen Stamm-Erzählungen, ist das Beziehungs-Sujet. Doch griffe es zu kurz, darin ein Sujet unter vielen zu sehen, handelt es sich doch um Profunderes, um etwas, das wohl bis zum Anbeginn der Menschheit zurückreicht: die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit. Es geht um die spektakulären Abstürze auf diesem Weg, die doch nie verheerend genug sein können, um sich mit dem Alleinsein abzufinden.
Stamms Heroen sind nicht die Geleckten und Gegelten, sondern die Verbogenen und Verbeulten, sensible, verkrachte Existenzen, dabei aber so originell verkracht, dass sich eher Bewunderung einstellt als Mitleid. Das gilt ganz besonders für den namenlosen, entscheidungsschwachen Protagonisten des neuen Romans, der sich, auch das nicht neu bei Stamm, im mittleren Alter an eine zarte Jugendliebe erinnert, der er vierzig Jahre lang zu entkommen suchte. Nun streckt er die Waffen. Ohne Schutz und Filter überlässt er sich seinem Sehnsuchtskummer, parliert ausführlich mit der in Gedanken neben ihm laufenden, verzweifelt geliebten Franziska, die in Wahrheit eine prominente Chanson-Sängerin geworden ist, während der Held sich in deprimierten Momenten selbst für eine jämmerliche Gestalt hält, einen Promi-Stalker und traurigen Selbstgespräche-Vogel: "Dann wird mir bewusst, was Leben sein könnte, aber auch, wie wenig ich mich darauf eingelassen habe."
Was ihn interessant macht, ist ein biographisches Detail, das sich als tragende Idee des ganzen Buchs erweist. Angestellt nämlich war der Held bei einem Zeitungsverlag, und zwar - höchste Zeit, diesen Mitarbeitern endlich einen Roman zu widmen - im Archiv desselben. Über Jahre hat er mit seinen Kollegen die Gegenwart komprimiert: ausgeschnitten, abgeheftet und verschlagwortet, um den Redakteuren auf Zuruf alles Relevante, Veröffentlichte zu einem Thema oder einer Person liefern zu können. Die digitale Verdopplung der Welt, per Volltextsuche zu durchforsten und wahllos alles aufbewahrend, hat diese Hüter des kollektiven Gedächtnisses zu einem Anachronismus degradiert. Dem Helden wurde gekündigt. Das wertlos gewordene Papierarchiv überließ ihm der Verlag. Seither sitzt er als soziophober Frührentner in seinem zu einem Magazin voller Rollregale umgebauten Keller und führt die Sammlung mit Schere und Klebstoff fort: eine Figur von Doktor-Murke-Dimension.
Wie dieser rigide Dienst an der sonst so flüchtigen Zeitgeschichte mit neuen Denkbewegungen des Privatarchivars interferiert, gehört zu den eindrücklichsten Passagen des Romans. Der durch die Natur streifende, sich von Menschen fernhaltende Held (Ferndiagnose: leichter Asperger) - wohl kein Zufall, dass der Roman in der Zeit des Social Distancing entstand - entledigt sich nach und nach des positivistischen Korsetts eines Ereignis- und Personenarchivs, indem er zunächst poetisch anmutende Mappen anlegt, in die die Geräusche des Wassers oder des Vogelflugs eingetragen werden sollen. Sein Abbild der Welt, schwant es dem Mann mit den Scherenhänden, war trotz ihrer poststabilisierten Harmonie - der hergestellten Wer-wann-wo-Ordnung - bisher alles andere als vollständig. Vor allem das vielleicht Wichtigste fehlte darin: die Empfindungen.
Die Befreiung aus dem Keller führt nun über die Gefühle des Erzählers für Franziska (und ihre Akte im Archiv), hinter denen die für seine übrigen Partnerinnen zu verblassen beginnen. Das Erwachen ist überhaupt zugleich ein Entschwinden, ein Abtauchen in einen Erinnerungssee, in dem unser Held allmählich die Orientierung verliert. Er will immer tiefer hinein in sein Material, will mehr als der "Dabeiseiende" gewesen sein, seine eigene Spur hinterlassen, und zugleich möchte er ausbrechen ins Echte, ins Verpasste. So kommt es einem Hilferuf gleich, als er seine Jugendliebe nach Jahrzehnten kontaktiert. Stamm ist ein Spezialist darin, Ebenen zu verwischen, mit Luftspiegelungen zu operieren: Ist Franziskas Antwort Wunschdenken? Sind die Treffen real, wenigstens die, die sich nicht selbst als (Angst-)Träume entlarven? Die Befangenheit des Helden immerhin wirkt echt.
In jedem Fall jagt bald ein Sakrileg das nächste. Lücken entstehen im Archiv, Schneisen, durch die der immer noch nicht kategorisierte Wind fegt. Akten verwandeln sich in Origami-Figuren. Das kommt einer Offenbarung gleich: "Wenn das Archiv meine Welt ist, dann kann ich sie ebenso gut gestalten, kann sie verändern." Erregt gibt sich der Held einer Art Dämonenaustreibung hin, löscht den Nationalsozialismus aus der Geschichte, dann den Kommunismus, die Massentierhaltung, den Spitzensport, bis er wieder zu Sinnen kommt. Kann man einer solchen Massaker-Figur noch trauen, wenn sie sich im Finale plötzlich angenommen fühlt, erlöst von ihrem Solipsismus? Oder hat hier jemand den Anderen so fest im Eigenen verankert, dass es kein Außen mehr gibt?
Ob man diesen Schluss als Idyll vor Alpensilhouette verstehen möchte, so wie er sich gibt, oder als Sieg der Liebe zu sich selbst (dafür spräche ein Satz wie "niemand klagt dich an, wenn du es nicht selbst tust"), bleibt den Lesern überlassen. Schließlich sind nicht nur Erinnerungen formbar. Natürlich handelt damit auch dieser nie verkopfte, nie unter seinen Allegorien ächzende, sondern leichtfüßig dem sanft dahinplätschernden, leise mit den Flügeln schlagenden Dasein folgende Roman, wie fast alle Texte Stamms, von der Autorschaft, von der Verfügungsgewalt über die eigene Geschichte und vom Preis für diese Macht. Er tut das mit einer Eleganz, die ihresgleichen sucht. OLIVER JUNGEN
Peter Stamm: "Das Archiv der Gefühle". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021. 190 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit: Peter Stamms Roman "Das Archiv der Gefühle"
Dass einer immer wieder dasselbe Buch schreibt, ist kein Einwand, zumindest dann nicht, wenn jede neuerliche Überformung von solch stilistischer Anmut ist wie bei Peter Stamm, diesem Meister des Mitteltons und der schwebenden Melancholie. Seine zunehmend verwobene Prosa ist von einer uns anspringenden Gegenwärtigkeit, scharfkantig wie ein schweizerischer Gebirgszug und doch zugleich unterhöhlt von Denkfluchttunneln hinüber ins Imaginäre, ins Molassebecken der Sehnsüchte und Erinnerungen, in dem Stamms Protagonisten sich selbst gern abhandenkommen, aber ebenso oft auch wieder Tritt fassen und zu Dramaturgen ihrer eigenen Geschichte avancieren.
Was sich ähnelt in vielen Stamm-Erzählungen, ist das Beziehungs-Sujet. Doch griffe es zu kurz, darin ein Sujet unter vielen zu sehen, handelt es sich doch um Profunderes, um etwas, das wohl bis zum Anbeginn der Menschheit zurückreicht: die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit. Es geht um die spektakulären Abstürze auf diesem Weg, die doch nie verheerend genug sein können, um sich mit dem Alleinsein abzufinden.
Stamms Heroen sind nicht die Geleckten und Gegelten, sondern die Verbogenen und Verbeulten, sensible, verkrachte Existenzen, dabei aber so originell verkracht, dass sich eher Bewunderung einstellt als Mitleid. Das gilt ganz besonders für den namenlosen, entscheidungsschwachen Protagonisten des neuen Romans, der sich, auch das nicht neu bei Stamm, im mittleren Alter an eine zarte Jugendliebe erinnert, der er vierzig Jahre lang zu entkommen suchte. Nun streckt er die Waffen. Ohne Schutz und Filter überlässt er sich seinem Sehnsuchtskummer, parliert ausführlich mit der in Gedanken neben ihm laufenden, verzweifelt geliebten Franziska, die in Wahrheit eine prominente Chanson-Sängerin geworden ist, während der Held sich in deprimierten Momenten selbst für eine jämmerliche Gestalt hält, einen Promi-Stalker und traurigen Selbstgespräche-Vogel: "Dann wird mir bewusst, was Leben sein könnte, aber auch, wie wenig ich mich darauf eingelassen habe."
Was ihn interessant macht, ist ein biographisches Detail, das sich als tragende Idee des ganzen Buchs erweist. Angestellt nämlich war der Held bei einem Zeitungsverlag, und zwar - höchste Zeit, diesen Mitarbeitern endlich einen Roman zu widmen - im Archiv desselben. Über Jahre hat er mit seinen Kollegen die Gegenwart komprimiert: ausgeschnitten, abgeheftet und verschlagwortet, um den Redakteuren auf Zuruf alles Relevante, Veröffentlichte zu einem Thema oder einer Person liefern zu können. Die digitale Verdopplung der Welt, per Volltextsuche zu durchforsten und wahllos alles aufbewahrend, hat diese Hüter des kollektiven Gedächtnisses zu einem Anachronismus degradiert. Dem Helden wurde gekündigt. Das wertlos gewordene Papierarchiv überließ ihm der Verlag. Seither sitzt er als soziophober Frührentner in seinem zu einem Magazin voller Rollregale umgebauten Keller und führt die Sammlung mit Schere und Klebstoff fort: eine Figur von Doktor-Murke-Dimension.
Wie dieser rigide Dienst an der sonst so flüchtigen Zeitgeschichte mit neuen Denkbewegungen des Privatarchivars interferiert, gehört zu den eindrücklichsten Passagen des Romans. Der durch die Natur streifende, sich von Menschen fernhaltende Held (Ferndiagnose: leichter Asperger) - wohl kein Zufall, dass der Roman in der Zeit des Social Distancing entstand - entledigt sich nach und nach des positivistischen Korsetts eines Ereignis- und Personenarchivs, indem er zunächst poetisch anmutende Mappen anlegt, in die die Geräusche des Wassers oder des Vogelflugs eingetragen werden sollen. Sein Abbild der Welt, schwant es dem Mann mit den Scherenhänden, war trotz ihrer poststabilisierten Harmonie - der hergestellten Wer-wann-wo-Ordnung - bisher alles andere als vollständig. Vor allem das vielleicht Wichtigste fehlte darin: die Empfindungen.
Die Befreiung aus dem Keller führt nun über die Gefühle des Erzählers für Franziska (und ihre Akte im Archiv), hinter denen die für seine übrigen Partnerinnen zu verblassen beginnen. Das Erwachen ist überhaupt zugleich ein Entschwinden, ein Abtauchen in einen Erinnerungssee, in dem unser Held allmählich die Orientierung verliert. Er will immer tiefer hinein in sein Material, will mehr als der "Dabeiseiende" gewesen sein, seine eigene Spur hinterlassen, und zugleich möchte er ausbrechen ins Echte, ins Verpasste. So kommt es einem Hilferuf gleich, als er seine Jugendliebe nach Jahrzehnten kontaktiert. Stamm ist ein Spezialist darin, Ebenen zu verwischen, mit Luftspiegelungen zu operieren: Ist Franziskas Antwort Wunschdenken? Sind die Treffen real, wenigstens die, die sich nicht selbst als (Angst-)Träume entlarven? Die Befangenheit des Helden immerhin wirkt echt.
In jedem Fall jagt bald ein Sakrileg das nächste. Lücken entstehen im Archiv, Schneisen, durch die der immer noch nicht kategorisierte Wind fegt. Akten verwandeln sich in Origami-Figuren. Das kommt einer Offenbarung gleich: "Wenn das Archiv meine Welt ist, dann kann ich sie ebenso gut gestalten, kann sie verändern." Erregt gibt sich der Held einer Art Dämonenaustreibung hin, löscht den Nationalsozialismus aus der Geschichte, dann den Kommunismus, die Massentierhaltung, den Spitzensport, bis er wieder zu Sinnen kommt. Kann man einer solchen Massaker-Figur noch trauen, wenn sie sich im Finale plötzlich angenommen fühlt, erlöst von ihrem Solipsismus? Oder hat hier jemand den Anderen so fest im Eigenen verankert, dass es kein Außen mehr gibt?
Ob man diesen Schluss als Idyll vor Alpensilhouette verstehen möchte, so wie er sich gibt, oder als Sieg der Liebe zu sich selbst (dafür spräche ein Satz wie "niemand klagt dich an, wenn du es nicht selbst tust"), bleibt den Lesern überlassen. Schließlich sind nicht nur Erinnerungen formbar. Natürlich handelt damit auch dieser nie verkopfte, nie unter seinen Allegorien ächzende, sondern leichtfüßig dem sanft dahinplätschernden, leise mit den Flügeln schlagenden Dasein folgende Roman, wie fast alle Texte Stamms, von der Autorschaft, von der Verfügungsgewalt über die eigene Geschichte und vom Preis für diese Macht. Er tut das mit einer Eleganz, die ihresgleichen sucht. OLIVER JUNGEN
Peter Stamm: "Das Archiv der Gefühle". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021. 190 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Leser wird Zeuge einer grossen Sehnsucht, einer unerfüllten Liebe, eines verpassten Lebens und [...] eines möglichen Neuanfangs. Kati Moser Tagblatt der Stadt Zürich 20220223
Rezensent Rainer Moritz schätzt den typischen Peter-Stamm-Sound aus kurzen, gedämpften Sätzen ebenso wie Stamms Figuren - Eigenbrötler, die langsam dem Leben abhandenkommen. Beides findet er auch in Stamms neuem Roman über einen Archivar auf dem Rückzug in die eigene Erinnerung an eine vergangene Liebe. Die Moral der Geschichte, dass sich das eigene Leben nicht archivieren lässt, vermittelt der Text laut Moritz mit sanfter Melancholie und ohne große Geste.
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Die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit: Peter Stamms Roman "Das Archiv der Gefühle"
Dass einer immer wieder dasselbe Buch schreibt, ist kein Einwand, zumindest dann nicht, wenn jede neuerliche Überformung von solch stilistischer Anmut ist wie bei Peter Stamm, diesem Meister des Mitteltons und der schwebenden Melancholie. Seine zunehmend verwobene Prosa ist von einer uns anspringenden Gegenwärtigkeit, scharfkantig wie ein schweizerischer Gebirgszug und doch zugleich unterhöhlt von Denkfluchttunneln hinüber ins Imaginäre, ins Molassebecken der Sehnsüchte und Erinnerungen, in dem Stamms Protagonisten sich selbst gern abhandenkommen, aber ebenso oft auch wieder Tritt fassen und zu Dramaturgen ihrer eigenen Geschichte avancieren.
Was sich ähnelt in vielen Stamm-Erzählungen, ist das Beziehungs-Sujet. Doch griffe es zu kurz, darin ein Sujet unter vielen zu sehen, handelt es sich doch um Profunderes, um etwas, das wohl bis zum Anbeginn der Menschheit zurückreicht: die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit. Es geht um die spektakulären Abstürze auf diesem Weg, die doch nie verheerend genug sein können, um sich mit dem Alleinsein abzufinden.
Stamms Heroen sind nicht die Geleckten und Gegelten, sondern die Verbogenen und Verbeulten, sensible, verkrachte Existenzen, dabei aber so originell verkracht, dass sich eher Bewunderung einstellt als Mitleid. Das gilt ganz besonders für den namenlosen, entscheidungsschwachen Protagonisten des neuen Romans, der sich, auch das nicht neu bei Stamm, im mittleren Alter an eine zarte Jugendliebe erinnert, der er vierzig Jahre lang zu entkommen suchte. Nun streckt er die Waffen. Ohne Schutz und Filter überlässt er sich seinem Sehnsuchtskummer, parliert ausführlich mit der in Gedanken neben ihm laufenden, verzweifelt geliebten Franziska, die in Wahrheit eine prominente Chanson-Sängerin geworden ist, während der Held sich in deprimierten Momenten selbst für eine jämmerliche Gestalt hält, einen Promi-Stalker und traurigen Selbstgespräche-Vogel: "Dann wird mir bewusst, was Leben sein könnte, aber auch, wie wenig ich mich darauf eingelassen habe."
Was ihn interessant macht, ist ein biographisches Detail, das sich als tragende Idee des ganzen Buchs erweist. Angestellt nämlich war der Held bei einem Zeitungsverlag, und zwar - höchste Zeit, diesen Mitarbeitern endlich einen Roman zu widmen - im Archiv desselben. Über Jahre hat er mit seinen Kollegen die Gegenwart komprimiert: ausgeschnitten, abgeheftet und verschlagwortet, um den Redakteuren auf Zuruf alles Relevante, Veröffentlichte zu einem Thema oder einer Person liefern zu können. Die digitale Verdopplung der Welt, per Volltextsuche zu durchforsten und wahllos alles aufbewahrend, hat diese Hüter des kollektiven Gedächtnisses zu einem Anachronismus degradiert. Dem Helden wurde gekündigt. Das wertlos gewordene Papierarchiv überließ ihm der Verlag. Seither sitzt er als soziophober Frührentner in seinem zu einem Magazin voller Rollregale umgebauten Keller und führt die Sammlung mit Schere und Klebstoff fort: eine Figur von Doktor-Murke-Dimension.
Wie dieser rigide Dienst an der sonst so flüchtigen Zeitgeschichte mit neuen Denkbewegungen des Privatarchivars interferiert, gehört zu den eindrücklichsten Passagen des Romans. Der durch die Natur streifende, sich von Menschen fernhaltende Held (Ferndiagnose: leichter Asperger) - wohl kein Zufall, dass der Roman in der Zeit des Social Distancing entstand - entledigt sich nach und nach des positivistischen Korsetts eines Ereignis- und Personenarchivs, indem er zunächst poetisch anmutende Mappen anlegt, in die die Geräusche des Wassers oder des Vogelflugs eingetragen werden sollen. Sein Abbild der Welt, schwant es dem Mann mit den Scherenhänden, war trotz ihrer poststabilisierten Harmonie - der hergestellten Wer-wann-wo-Ordnung - bisher alles andere als vollständig. Vor allem das vielleicht Wichtigste fehlte darin: die Empfindungen.
Die Befreiung aus dem Keller führt nun über die Gefühle des Erzählers für Franziska (und ihre Akte im Archiv), hinter denen die für seine übrigen Partnerinnen zu verblassen beginnen. Das Erwachen ist überhaupt zugleich ein Entschwinden, ein Abtauchen in einen Erinnerungssee, in dem unser Held allmählich die Orientierung verliert. Er will immer tiefer hinein in sein Material, will mehr als der "Dabeiseiende" gewesen sein, seine eigene Spur hinterlassen, und zugleich möchte er ausbrechen ins Echte, ins Verpasste. So kommt es einem Hilferuf gleich, als er seine Jugendliebe nach Jahrzehnten kontaktiert. Stamm ist ein Spezialist darin, Ebenen zu verwischen, mit Luftspiegelungen zu operieren: Ist Franziskas Antwort Wunschdenken? Sind die Treffen real, wenigstens die, die sich nicht selbst als (Angst-)Träume entlarven? Die Befangenheit des Helden immerhin wirkt echt.
In jedem Fall jagt bald ein Sakrileg das nächste. Lücken entstehen im Archiv, Schneisen, durch die der immer noch nicht kategorisierte Wind fegt. Akten verwandeln sich in Origami-Figuren. Das kommt einer Offenbarung gleich: "Wenn das Archiv meine Welt ist, dann kann ich sie ebenso gut gestalten, kann sie verändern." Erregt gibt sich der Held einer Art Dämonenaustreibung hin, löscht den Nationalsozialismus aus der Geschichte, dann den Kommunismus, die Massentierhaltung, den Spitzensport, bis er wieder zu Sinnen kommt. Kann man einer solchen Massaker-Figur noch trauen, wenn sie sich im Finale plötzlich angenommen fühlt, erlöst von ihrem Solipsismus? Oder hat hier jemand den Anderen so fest im Eigenen verankert, dass es kein Außen mehr gibt?
Ob man diesen Schluss als Idyll vor Alpensilhouette verstehen möchte, so wie er sich gibt, oder als Sieg der Liebe zu sich selbst (dafür spräche ein Satz wie "niemand klagt dich an, wenn du es nicht selbst tust"), bleibt den Lesern überlassen. Schließlich sind nicht nur Erinnerungen formbar. Natürlich handelt damit auch dieser nie verkopfte, nie unter seinen Allegorien ächzende, sondern leichtfüßig dem sanft dahinplätschernden, leise mit den Flügeln schlagenden Dasein folgende Roman, wie fast alle Texte Stamms, von der Autorschaft, von der Verfügungsgewalt über die eigene Geschichte und vom Preis für diese Macht. Er tut das mit einer Eleganz, die ihresgleichen sucht. OLIVER JUNGEN
Peter Stamm: "Das Archiv der Gefühle". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021. 190 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit: Peter Stamms Roman "Das Archiv der Gefühle"
Dass einer immer wieder dasselbe Buch schreibt, ist kein Einwand, zumindest dann nicht, wenn jede neuerliche Überformung von solch stilistischer Anmut ist wie bei Peter Stamm, diesem Meister des Mitteltons und der schwebenden Melancholie. Seine zunehmend verwobene Prosa ist von einer uns anspringenden Gegenwärtigkeit, scharfkantig wie ein schweizerischer Gebirgszug und doch zugleich unterhöhlt von Denkfluchttunneln hinüber ins Imaginäre, ins Molassebecken der Sehnsüchte und Erinnerungen, in dem Stamms Protagonisten sich selbst gern abhandenkommen, aber ebenso oft auch wieder Tritt fassen und zu Dramaturgen ihrer eigenen Geschichte avancieren.
Was sich ähnelt in vielen Stamm-Erzählungen, ist das Beziehungs-Sujet. Doch griffe es zu kurz, darin ein Sujet unter vielen zu sehen, handelt es sich doch um Profunderes, um etwas, das wohl bis zum Anbeginn der Menschheit zurückreicht: die Paarbildung in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit. Es geht um die spektakulären Abstürze auf diesem Weg, die doch nie verheerend genug sein können, um sich mit dem Alleinsein abzufinden.
Stamms Heroen sind nicht die Geleckten und Gegelten, sondern die Verbogenen und Verbeulten, sensible, verkrachte Existenzen, dabei aber so originell verkracht, dass sich eher Bewunderung einstellt als Mitleid. Das gilt ganz besonders für den namenlosen, entscheidungsschwachen Protagonisten des neuen Romans, der sich, auch das nicht neu bei Stamm, im mittleren Alter an eine zarte Jugendliebe erinnert, der er vierzig Jahre lang zu entkommen suchte. Nun streckt er die Waffen. Ohne Schutz und Filter überlässt er sich seinem Sehnsuchtskummer, parliert ausführlich mit der in Gedanken neben ihm laufenden, verzweifelt geliebten Franziska, die in Wahrheit eine prominente Chanson-Sängerin geworden ist, während der Held sich in deprimierten Momenten selbst für eine jämmerliche Gestalt hält, einen Promi-Stalker und traurigen Selbstgespräche-Vogel: "Dann wird mir bewusst, was Leben sein könnte, aber auch, wie wenig ich mich darauf eingelassen habe."
Was ihn interessant macht, ist ein biographisches Detail, das sich als tragende Idee des ganzen Buchs erweist. Angestellt nämlich war der Held bei einem Zeitungsverlag, und zwar - höchste Zeit, diesen Mitarbeitern endlich einen Roman zu widmen - im Archiv desselben. Über Jahre hat er mit seinen Kollegen die Gegenwart komprimiert: ausgeschnitten, abgeheftet und verschlagwortet, um den Redakteuren auf Zuruf alles Relevante, Veröffentlichte zu einem Thema oder einer Person liefern zu können. Die digitale Verdopplung der Welt, per Volltextsuche zu durchforsten und wahllos alles aufbewahrend, hat diese Hüter des kollektiven Gedächtnisses zu einem Anachronismus degradiert. Dem Helden wurde gekündigt. Das wertlos gewordene Papierarchiv überließ ihm der Verlag. Seither sitzt er als soziophober Frührentner in seinem zu einem Magazin voller Rollregale umgebauten Keller und führt die Sammlung mit Schere und Klebstoff fort: eine Figur von Doktor-Murke-Dimension.
Wie dieser rigide Dienst an der sonst so flüchtigen Zeitgeschichte mit neuen Denkbewegungen des Privatarchivars interferiert, gehört zu den eindrücklichsten Passagen des Romans. Der durch die Natur streifende, sich von Menschen fernhaltende Held (Ferndiagnose: leichter Asperger) - wohl kein Zufall, dass der Roman in der Zeit des Social Distancing entstand - entledigt sich nach und nach des positivistischen Korsetts eines Ereignis- und Personenarchivs, indem er zunächst poetisch anmutende Mappen anlegt, in die die Geräusche des Wassers oder des Vogelflugs eingetragen werden sollen. Sein Abbild der Welt, schwant es dem Mann mit den Scherenhänden, war trotz ihrer poststabilisierten Harmonie - der hergestellten Wer-wann-wo-Ordnung - bisher alles andere als vollständig. Vor allem das vielleicht Wichtigste fehlte darin: die Empfindungen.
Die Befreiung aus dem Keller führt nun über die Gefühle des Erzählers für Franziska (und ihre Akte im Archiv), hinter denen die für seine übrigen Partnerinnen zu verblassen beginnen. Das Erwachen ist überhaupt zugleich ein Entschwinden, ein Abtauchen in einen Erinnerungssee, in dem unser Held allmählich die Orientierung verliert. Er will immer tiefer hinein in sein Material, will mehr als der "Dabeiseiende" gewesen sein, seine eigene Spur hinterlassen, und zugleich möchte er ausbrechen ins Echte, ins Verpasste. So kommt es einem Hilferuf gleich, als er seine Jugendliebe nach Jahrzehnten kontaktiert. Stamm ist ein Spezialist darin, Ebenen zu verwischen, mit Luftspiegelungen zu operieren: Ist Franziskas Antwort Wunschdenken? Sind die Treffen real, wenigstens die, die sich nicht selbst als (Angst-)Träume entlarven? Die Befangenheit des Helden immerhin wirkt echt.
In jedem Fall jagt bald ein Sakrileg das nächste. Lücken entstehen im Archiv, Schneisen, durch die der immer noch nicht kategorisierte Wind fegt. Akten verwandeln sich in Origami-Figuren. Das kommt einer Offenbarung gleich: "Wenn das Archiv meine Welt ist, dann kann ich sie ebenso gut gestalten, kann sie verändern." Erregt gibt sich der Held einer Art Dämonenaustreibung hin, löscht den Nationalsozialismus aus der Geschichte, dann den Kommunismus, die Massentierhaltung, den Spitzensport, bis er wieder zu Sinnen kommt. Kann man einer solchen Massaker-Figur noch trauen, wenn sie sich im Finale plötzlich angenommen fühlt, erlöst von ihrem Solipsismus? Oder hat hier jemand den Anderen so fest im Eigenen verankert, dass es kein Außen mehr gibt?
Ob man diesen Schluss als Idyll vor Alpensilhouette verstehen möchte, so wie er sich gibt, oder als Sieg der Liebe zu sich selbst (dafür spräche ein Satz wie "niemand klagt dich an, wenn du es nicht selbst tust"), bleibt den Lesern überlassen. Schließlich sind nicht nur Erinnerungen formbar. Natürlich handelt damit auch dieser nie verkopfte, nie unter seinen Allegorien ächzende, sondern leichtfüßig dem sanft dahinplätschernden, leise mit den Flügeln schlagenden Dasein folgende Roman, wie fast alle Texte Stamms, von der Autorschaft, von der Verfügungsgewalt über die eigene Geschichte und vom Preis für diese Macht. Er tut das mit einer Eleganz, die ihresgleichen sucht. OLIVER JUNGEN
Peter Stamm: "Das Archiv der Gefühle". Roman.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2021. 190 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main