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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2021

Verboten
und undenkbar
Carmen Maria Machado sucht
eine Sprache für lesbische Gewalt
Welche Sprache, welche Form lässt sich finden, um von häuslicher Gewalt zu erzählen – in einer lesbischen Beziehung? Die amerikanische Schriftstellerin Carmen Maria Machado beantwortet diese Frage in ihrem ersten Roman „Das Archiv der Träume“ mit einer literarischen Collage.
Essayistische Kapitel durchsetzen diejenigen der explizit autobiografischen Erzählung. Jedes nimmt dabei die Perspektive eines anderen Genres ein – von „Liebesroman“ über „Noir“ bis „Apokalypse“. So will die Autorin ein „Kaleidoskop“ erschaffen, das ihre Widerfahrnisse als repräsentativ zeigt für eine Vielfalt übersehener Lebensrealitäten, sich vom Anspruch auf Deutungshoheit jedoch distanziert.
Denn die Zentralperspektive des männlichen, heteronormativen Blicks, stellt Machado heraus, ist in Wahrheit nur eine unter vielen. Ihre Verabsolutierung durch weite Teile westlicher Geschichte hat aber ein Problem hervorgerufen, das für das im Buch beschriebene Leid mitverantwortlich zeichnet: eine Sprachlosigkeit weiblicher Homosexualität.
So berichtet Machado, dass Anfang des 19. Jahrhunderts in England zwei Frauen vor Gericht standen, weil sie miteinander geschlafen haben sollen. Der Richter entschied sich gegen eine Verurteilung: Die Angeklagten seien in Ermangelung eines Penis der geschlechtlichen Penetration gar nicht fähig. Liebe zwischen Frauen war zugleich verboten und undenkbar.
Solchermaßen verneinter Existenz möchte Machado eine Echokammer bauen. Dazu schreibt sie das Archiv – altgriechisch „das Haus des Herrschenden“ – zu einem Aufbewahrungsort der Träume um: jener vermeintlich halbseidenen Phänomene, die in kollektiver Verdrängung ihr Schattendasein fristen.
Schuld an der Sprachlosigkeit trägt heute nur in Teilen noch die vorviktorianische Sexualmoral. Vielmehr ist die lesbische Liebesbeziehung zu einer Utopie jenseits aller Abgründe toxischer Männlichkeit verklärt. Als sich hinter der hinreißenden Fassade ihrer ersten Freundin eine dämonische Fratze regt, muss die junge Carmen nicht mehr nur das schwerlich Akzeptable erklären: dass sie Frauen liebt. Sie müsste das Unvorstellbare benennen: dass ihre Freundin sie missbraucht, verbal, emotional, körperlich. Carmen verstummt.
Sie ist Mitte zwanzig, studiert am renommiertesten Programm für kreatives Schreiben in den USA, dem Iowa Writers’ Workshop, und pendelt in ein gespenstisches Haus am Stadtrand von Bloomington, Indiana, zu der Person, die nur „die Frau im Traumhaus“ heißt.
Carmen verfällt in die chronische Rastlosigkeit eines Menschen, der seine Liebste fürchten muss, sich niemals sicher sein kann. Das Leben weicht aus ihr, die Wachheit. Körper und Geist beginnen sich zu trennen, anders ist der Schmerz unerträglich. Sie wird zu einem ephemeren Wesen, in die Ewigkeit eines Albtraums verbannt, aus dem sie sich nicht zu befreien vermag.
Das Buch überrollt seine Leser nicht, suhlt sich nicht im Elend. Dafür sorgen die Collagetechnik und die schlanke, legere Sprache, wenngleich mit einem Hang zum Bekenntnis. Carmen spricht ihr altes Ich als „Du“ an: Alles passiert heute vor zehn Jahren, mitten in den USA, am helllichten Tag. Sie führt ein Leben, das in seiner Eigenheit nicht anormal ist, liebt Literatur und Sex, macht einen Roadtrip nach Florida, erinnert sich an eine hingeträumte Kindheit und eine religiöse Jugend.
Die Risse an der Oberfläche sind zart und rar gesät, leicht zu übersehen, abzuwiegeln. Diabolischen Ausbrüchen ihrer Freundin folgen Akte biblischer Fürsorge. Allmählich steigt die Sogwirkung, das Scheitern einer jeden Reaktion führt die Ausweglosigkeit von Carmens Lage vor Augen – aus der doch ein Weg weisen muss.
Im Pressegespräch sagt Machado, sie habe eine „Queerness der Form“ gesucht, eine literarische Verkörperung derjenigen Seinsweise also, die sich binären Normen entwindet. Dies bedeutet eine Auffassung von Leben und Schreiben als tiefgründig Verbundenen – entgegen Rufen, die zu jedem Anlass irgendeine Literatur fordern und Werke wie „Das Archiv der Träume“ am liebsten mit dem Label der Identitätspolitik abstempelten.
Manchmal zeugt die Collagetechnik zu sehr von Machados erklärtem Bestreben, die Gefahr „des Voyeurismus und der Sentimentalität“ einer geradeheraus erzählten Leidensgeschichte zu umschiffen. In den Momenten jedoch, wo Erzählung und Essay einander brennglasartig beleuchten, zeigt sich deutlich: Machado stülpt ihrer Erfahrung und Situation keine Sprache über, sondern lässt eine Sprachform erst daraus erwachsen. Damit legt sie zumindest einen Stein im Fundament eines Archivs, das dringend weiterzubauen, zu füllen und zu sichten ist.
NIKLAS ELSENBRUCH
Lesbische Beziehungen werden
heute zu einer Utopie jenseits
toxischer Männlichkeit verklärt
Carmen Maria Machado: Das Archiv der Träume. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Tropen, Berlin 2021. 336 Seiten, 22 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rezensentin Marlen Hobrack staunt, wie Carmen Maria Machado in ihrem autofiktionalen Roman über eine lesbische Liebesbeziehung herkömmliche Erzählweisen aufbricht. Nicht als geschlossene Erzählung über Liebe und Verrat tritt Hobrack die Geschichte entgegen, sondern als Sammlung "multipler Erzähleinsätze" auf Grundlage bekannter Narrative, wie der Geschichte von Blaubart oder dem Film noir. Eine Technik, die für emotionale Distanz sorgt, erkennt Hobrack. Schaden nimmt der Roman dadurch aber nicht, versichert die Rezensentin. Die psychische Manipulation des Gaslighting als zentrales Moment der im Text behandelten Beziehung wird für die Leserin nur umso deutlicher, findet sie.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein [...] ehrliche[r], innovative[r] und mitleidlose[r] Erfahrungsbericht voller Dunkelheit und Schmerz, der gleichsam auch von Grauzonen und vom Überleben erzählt. [...] Mit ihrem 'Traumhaus' schreibt sich Carmen Maria Machado in die erste Riege queerer Autor_innen.« Isabella A. Caldart, ND - der Tag, 24. Februar 2022 Isabella Caldart nd 20220224