Man sieht nur, was man weiß, sagte schon Goethe, und nach Novalis ist Sehen ein poetischer Vorgang, bei dem Erinnerung und Ahnung mit der realen Welt zusammenfallen. Die Naturwissenschaft bedient sich heute ähnlicher Erklärungsmuster, doch die Geisteswissenschaften halten sich von der Deutung des realen Raums ängstlich fern. Friedmar Apel schreibt anhand von Beispielen aus der Kulturgeschichte den Versuch einer Poetik des Sehens - von Platon bis zu Adorno und Blumenberg, von Goethe über Hofmannsthal bis zu Herta Müller. Ein Plädoyer gegen die Abstraktionen modernistischer Theorie und für eine neue Hinwendung zum Sichtbaren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2010Das Auge im Wort
Friedmar Apel erkundet in der Literatur das Visuelle
"Nach und nach lernte ich sehen." Goethe, hier in der Rede des Zweiundzwanzigjährigen "Zum Shakespeares Tag", hat es wieder einmal als Erster gewusst: Ohne das genaue, systematisch eingeübte Hinschauen auf die Dinglichkeit der Welt, das im verweilenden Blick zur Anschauung wird, aus der sich der ästhetische Blick des Künstlers wie der objektivierende Blick des Naturwissenschaftlers herausschälen lassen, kann keine Literatur entstehen, keine Beschreibung von der Welt und unserer Anwesenheit in ihr. Goethes Fixierung auf das Auge als primäres Wahrnehmungsorgan hervorzuheben ist nicht neu - sie jedoch in einen Kontext zu stellen, der bis in die Literatur unserer Tage, bis zu Claude Simon, Herta Müller, Peter Handke reicht, schon. Ebendies unternimmt Friedmar Apel mit seinem Brevier "Das Auge liest mit".
Apel beginnt seinen Streifzug durch eine Literaturgeschichte der visuellen Sinnlichkeit mit einem Blick in Phänomenologie, Begriffsgeschichte sowie neuere Positionen von Hirnforschung, Konstruktivismus bis Kunstgeschichte, die allesamt dem Sehen eine Hauptrolle bei der Konstitution des sich und seine Welt erkennenden Ich zuschreiben. Als Literaturwissenschaftler tritt er für eine Hermeneutik ein, die sich auf das Sehen als konstitutiv für das Erzählen besinnt. Zentral ist für ihn die ästhetische Kategorie der Aufmerksamkeit: "Aufmerksames Betrachten ist also eine Kulturtechnik, in der sich das Subjekt seiner Autonomie versichert, die Darlegung des Seherlebnisses aber ist als aufmerksam und sichtbar machen eine Kommunikationsform, die auf Genuss durch Wahrnehmung zielt." Dies ist auf Goethe gemünzt, aber es gilt zunächst für alle nachfolgenden literarischen Sichtbarkeitsentwürfe, mögen sie von ihm abweichen und den in der Anschauung liegenden "Genuss" wie E.T.A. Hoffmann in Frage stellen oder sich wie Hofmannsthal im Wissen um die Unwiederholbarkeit des ,ersten Blicks' elegisch auf ihn besinnen - noch die Wahrnehmungsexerzitien eines Jünger oder Handke führen positiv reaktivierend auf ihn und damit eine am Auge des konkreten Subjekts geschulte Poetik zurück.
Freilich mag es sein, dass Apel die Blickgeschichte des modernen Subjekts immer noch, dem gängigen Modernetopos als Verfalls- und Kontingenzepoche geschuldet, zu sehr als eine Verlustgeschichte von Autonomie und Selbstbehauptung erzählt. Das ist, vom Standpunkt der Goetheschen Weltsicherheit aus argumentiert, mitnichten falsch, doch zeigen gerade die aus dem romantischen und symbolistischen Umfeld analysierten Beispiele die Möglichkeiten an, die dem in seiner Lebenswelt augenscheinlich entmachteten Subjekt wiederum offenstehen - nurmehr als Einzelnem jedoch, wie sehr er sich, das lehren George und Hofmannsthal, eine Gemeinschaft gleichgesinnter Schüler oder Einzelner imaginieren mochte. Die Literatur der Moderne mag melancholisches Rückzugsphänomen aus der Lebenswelt sein, sie kennt aber statt oder neben dem höchstens plötzlich sich ereignenden Blick ins Jetzt und Hier sowohl den Blick ins "Jetzt und Ehedem" (Nietzsche), wie Apel das an Baudelaires Victor-Hugo-Gedicht "Der Schwan" illustriert, als auch den visionären, traumartigen Blick ins Jetzt und "Noch nie" (Bloch), was bei Dichtern wie Novalis, Blake und Coleridge durchscheint - zu schweigen von der Möglichkeit eines Räume und Zeiten vermischenden oder gar negierenden Blicks, der sich als rein künstliche Konstruktion ausgibt wie in den Gedichten Stefan Georges. Und wie sieht es vollends aus mit den Autoren des Surrealismus, die den künstlichen Blick der technischen Apparatur, des Fotoapparats und vor allem des Kinos als Erste nicht als sekundär verwarfen, sondern unter dem Stichwort der Montage ihrem primären Blick einverleibten oder ihn gar in seinem Verhältnis zum Auge umkehrten, um ihn als für unsere technische Zivilisation primären Blick hervorzukehren?
Leider ist Apel eben fast nur an einer Poetik des Auges interessiert, so dass er keine systematischen Antworten für das die literarische Moderne doch maßgeblich bestimmende Wechselspiel von technisch konditioniertem Sehen und Augen-Blick bietet. Damit hängt wohl auch seine Wahl von Gegenwartsautoren zusammen, die vehement für eine Rückgewinnung leiblichen Sehens einzutreten scheinen. Wenn er Handkes serbische Spaziergänge und -fahrten unter dem Stichwort "Die Rettung der Wirklichkeit" subsumiert, so unterschlägt er dabei jedoch nicht nur den "Kinogeher", der Handke noch immer ist, sondern auch, dass diese Formel von einem stammt, der sich die "Errettung der äußeren Wirklichkeit" gerade durch das Kino erhofft hatte, nämlich Siegfried Kracauer. Friedmar Apel blickt der Literatur auf anregende Weise in die Augen - aber doch nicht erschöpfend genug.
JAN RÖHNERT
Friedmar Apel: "Das Auge liest mit". Zur Visualität der Literatur. Hrsg. von Michael Krüger. Hanser Verlag, München 2010. 190 S., br., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Friedmar Apel erkundet in der Literatur das Visuelle
"Nach und nach lernte ich sehen." Goethe, hier in der Rede des Zweiundzwanzigjährigen "Zum Shakespeares Tag", hat es wieder einmal als Erster gewusst: Ohne das genaue, systematisch eingeübte Hinschauen auf die Dinglichkeit der Welt, das im verweilenden Blick zur Anschauung wird, aus der sich der ästhetische Blick des Künstlers wie der objektivierende Blick des Naturwissenschaftlers herausschälen lassen, kann keine Literatur entstehen, keine Beschreibung von der Welt und unserer Anwesenheit in ihr. Goethes Fixierung auf das Auge als primäres Wahrnehmungsorgan hervorzuheben ist nicht neu - sie jedoch in einen Kontext zu stellen, der bis in die Literatur unserer Tage, bis zu Claude Simon, Herta Müller, Peter Handke reicht, schon. Ebendies unternimmt Friedmar Apel mit seinem Brevier "Das Auge liest mit".
Apel beginnt seinen Streifzug durch eine Literaturgeschichte der visuellen Sinnlichkeit mit einem Blick in Phänomenologie, Begriffsgeschichte sowie neuere Positionen von Hirnforschung, Konstruktivismus bis Kunstgeschichte, die allesamt dem Sehen eine Hauptrolle bei der Konstitution des sich und seine Welt erkennenden Ich zuschreiben. Als Literaturwissenschaftler tritt er für eine Hermeneutik ein, die sich auf das Sehen als konstitutiv für das Erzählen besinnt. Zentral ist für ihn die ästhetische Kategorie der Aufmerksamkeit: "Aufmerksames Betrachten ist also eine Kulturtechnik, in der sich das Subjekt seiner Autonomie versichert, die Darlegung des Seherlebnisses aber ist als aufmerksam und sichtbar machen eine Kommunikationsform, die auf Genuss durch Wahrnehmung zielt." Dies ist auf Goethe gemünzt, aber es gilt zunächst für alle nachfolgenden literarischen Sichtbarkeitsentwürfe, mögen sie von ihm abweichen und den in der Anschauung liegenden "Genuss" wie E.T.A. Hoffmann in Frage stellen oder sich wie Hofmannsthal im Wissen um die Unwiederholbarkeit des ,ersten Blicks' elegisch auf ihn besinnen - noch die Wahrnehmungsexerzitien eines Jünger oder Handke führen positiv reaktivierend auf ihn und damit eine am Auge des konkreten Subjekts geschulte Poetik zurück.
Freilich mag es sein, dass Apel die Blickgeschichte des modernen Subjekts immer noch, dem gängigen Modernetopos als Verfalls- und Kontingenzepoche geschuldet, zu sehr als eine Verlustgeschichte von Autonomie und Selbstbehauptung erzählt. Das ist, vom Standpunkt der Goetheschen Weltsicherheit aus argumentiert, mitnichten falsch, doch zeigen gerade die aus dem romantischen und symbolistischen Umfeld analysierten Beispiele die Möglichkeiten an, die dem in seiner Lebenswelt augenscheinlich entmachteten Subjekt wiederum offenstehen - nurmehr als Einzelnem jedoch, wie sehr er sich, das lehren George und Hofmannsthal, eine Gemeinschaft gleichgesinnter Schüler oder Einzelner imaginieren mochte. Die Literatur der Moderne mag melancholisches Rückzugsphänomen aus der Lebenswelt sein, sie kennt aber statt oder neben dem höchstens plötzlich sich ereignenden Blick ins Jetzt und Hier sowohl den Blick ins "Jetzt und Ehedem" (Nietzsche), wie Apel das an Baudelaires Victor-Hugo-Gedicht "Der Schwan" illustriert, als auch den visionären, traumartigen Blick ins Jetzt und "Noch nie" (Bloch), was bei Dichtern wie Novalis, Blake und Coleridge durchscheint - zu schweigen von der Möglichkeit eines Räume und Zeiten vermischenden oder gar negierenden Blicks, der sich als rein künstliche Konstruktion ausgibt wie in den Gedichten Stefan Georges. Und wie sieht es vollends aus mit den Autoren des Surrealismus, die den künstlichen Blick der technischen Apparatur, des Fotoapparats und vor allem des Kinos als Erste nicht als sekundär verwarfen, sondern unter dem Stichwort der Montage ihrem primären Blick einverleibten oder ihn gar in seinem Verhältnis zum Auge umkehrten, um ihn als für unsere technische Zivilisation primären Blick hervorzukehren?
Leider ist Apel eben fast nur an einer Poetik des Auges interessiert, so dass er keine systematischen Antworten für das die literarische Moderne doch maßgeblich bestimmende Wechselspiel von technisch konditioniertem Sehen und Augen-Blick bietet. Damit hängt wohl auch seine Wahl von Gegenwartsautoren zusammen, die vehement für eine Rückgewinnung leiblichen Sehens einzutreten scheinen. Wenn er Handkes serbische Spaziergänge und -fahrten unter dem Stichwort "Die Rettung der Wirklichkeit" subsumiert, so unterschlägt er dabei jedoch nicht nur den "Kinogeher", der Handke noch immer ist, sondern auch, dass diese Formel von einem stammt, der sich die "Errettung der äußeren Wirklichkeit" gerade durch das Kino erhofft hatte, nämlich Siegfried Kracauer. Friedmar Apel blickt der Literatur auf anregende Weise in die Augen - aber doch nicht erschöpfend genug.
JAN RÖHNERT
Friedmar Apel: "Das Auge liest mit". Zur Visualität der Literatur. Hrsg. von Michael Krüger. Hanser Verlag, München 2010. 190 S., br., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jan Röhnert weiß Friedmar Apels Untersuchung des Visuellen in der Literatur zu schätzen. Der Literaturwissenschaftler vertritt für ihn eine Hermeneutik, die das Sehen als wesentlich für das Erzählen und die ästhetische Kategorie der Aufmerksamkeit als zentral erachtet. Interessant scheint ihm Apels Erkundung der Rolle des Sehens in Phänomenologie, Begriffsgeschichte sowie Positionen von Hirnforschung, Konstruktivismus bis Kunstgeschichte. Im Mittelpunkt aber sieht er die Darstellung des Visuellen in der Literaturgeschichte von Goethe bis Handke. Dabei kritisiert Röhnert insbesondere, dass der Autor die "Blickgeschichte des modernen Subjekts" vor allem als "Verlustgeschichte von Autonomie und Selbstbehauptung" darstellt. Insgesamt findet er Apels Arbeit anregend, aber nicht "erschöpfend genug".
© Perlentaucher Medien GmbH
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