Ein Band mit neuen Gedichten. Summe und Coda eines bedeutenden lyrischen Werks.Tief geht der Blick des Autors in unserer Epoche zurück. Er reicht vom Mord in Sarajewo bis zum Abschuss eines Passagierflugzeugs über der Ostukraine, von einer Kriegskindheit bis in den heutigen Alltag. Hartung vereint die poetische Analyse mit persönlicher Teilnahme. Seine Poesie wirft einen gelassenen Blick auf Welt und Leben.Das Auto des ErzherzogsDer Lack ist abgeplatzt am EinschußlochBlank wie im Blankvers gingen Projektileerst in den Leib der Herzogin, dann inden Hals Franz Ferdinands, und gingen weiterin Herzen die man nach Millionen zählteGeschossen habe er geschlossenen Augsso Princip der das Werkzeug war, der Weltgeistein Meister der Ballistik drückte ihmdie Augen zu. Was blieb? In der Vitrinedie Uniform des Erzherzogs (noch immerrecht proper) zeigt nur in der Schultergegendpaar Flecken blassen Bluts. Die Reinigungwar tätig. Also bringt man die Geschichtezur Reinigung. Löcher und Flecken bleiben
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2017Versfürsorglich
Zum Geburtstag ein Geschenk an die Leser: Die neuen Gedichte von Harald Hartung
Harald Hartungs neuer Gedichtband setzt mit einem Kriegs- und Nachkriegszyklus ein und klingt im Angesicht des Todes aus. Hartungs Lyrik stimmt traurig; Vergänglichkeit durchweht seine Verse. Und doch strömen seine Gedichte eine Wärme aus, die einen tief berührt. Zärtliche Melancholie herrscht, wenn es "Mit Achtzig", so der Titel, zu einem unverhofften Wiedersehen kommt: "Im Hotelspiegel / Die Augen meiner Mutter / Du hier in Paris?", lautet das erste von Hartungs Doppelhaikus. Im hohen Alter die Augen der Mutter im eigenen Spiegelbild zu erkennen ist ein bewegendes Bild für eine ersehnte, aber unerfüllbare Heimkehr.
Indem der Betrachter seine Mutter in diesem Augen- und Anblick so lebendig vor sich sieht, dass er sie vertraut und doch verwundert anspricht, steigern sich Intensität und Anmut des Bildes. "Da ist ihr Lächeln", lautet der erste Vers des zweiten Haikus, als hätte sich das Bild aus dem Spiegel verselbständigt und würde weiter an Kontur gewinnen. Doch das Gegenteil ist der Fall: "Da ist ihr Lächeln fort", lautet der vollständige Satz über das Enjambement hinweg. Wie in der Schärfenverlagerung des Films lösen sich Züge der Mutter-Imago auf und tritt das Selbstbild hervor: "Und ein alter Mann grinst / in das trübe Glas." Auch das ist typisch für Hartungs Versfürsorge: Das Bild kippt nicht in sein komplettes Gegenteil, das Lächeln verliert sich in einem Grinsen, das durch die Trübe das Glases gemäßigt wird. Unklar, ob da der Tod grinst oder der alte Mann, der noch für einen Moment der Rolle des grinsenden Jungen verhaftet bleibt.
Von dieser ergreifenden Schlichtheit, die sorgsam, fast still über Momente von tiefer emotionaler Bewegung Auskunft gibt, zeugt auch ein Gedicht wie "Der Verlorene Sohn". Wie in der Spiegelszene entwirft auch dieser Text einen Zwischenraum. In diesem Fall wird er nicht durch einen Lichtstrahl erhellt, sondern akustisch erfüllt: "Ein Geräusch im Flur genügt / und ich denke Er ist es / Er wartet vor meiner Tür / mit Rucksack und jenem Seil / das er schließlich benutzte / Ist er es wirklich? Ich bin zu feige für den Spion / Ich trete ans Fenster und / schaue ob jemand das Haus / verläßt. Jeder ist mir recht." Der eine Laut setzt eine Gedanken- und Gefühlskaskade frei, die nach Selbstbefragung (ist er es wirklich?) und Selbstbeschimpfung (zu feige für die Tür) erst mit dem Fensterblick einen Halt findet. Da sieht man ihn vor sich, den verlorenen Vater, dessen Blick im Nichts verschwimmt. Harald Hartung ist ein Dichter subtiler Dringlichkeit und großer Gefühle, die über die Jahre zwar vertraut geworden sind, aber nicht gezähmt werden können.
Insgesamt vier Kapitel weist sein neuer Gedichtband "Das Auto des Erzherzogs" auf. Sie eröffnen vier Wege in jeweils unterschiedliche Textlandschaften. Der erste Weg führt zurück in die Vergangenheit. Über das titelgebende "Auto des Erzherzogs" und ein Pastiche auf Musils berühmtes Fliegerpfeil-Erlebnis wird schlaglichtartig der Erste Weltkrieg aufgerufen. Das Augenmerk allerdings liegt darauf, eine individuelle Enzyklopädie der eigenen Nachkriegskindheit zu erstellen. "Der Zechenwald", "Der Moldausommer" oder "Vaters Musik" lauten die einschlägigen Einträge.
Der zweite Weg führt direkt in die Gegenwart, und zwar durch jene schmalen poetischen Zwischenräume, die sich im Alltag öffnen. Die Figuren - bis auf eine Ausnahme spricht hier ein Ich - liegen "müßig auf dem Hotelbett", lesen "in den Versen / die Szymborska hinterließ", oder betrachten Brecht "beim Blick durchs Fenster". Auch das dritte Kapitel bleibt gegenwärtig, verändert aber seine Bewegungsform: In schnellen, knapp vermessenen Schritten springen die doppelten Haikus von einer Insel der Poesie zur anderen, bevor sich der Gang in der "Coda" abermals verlangsamt, um von den letzten Dingen zu erzählen und dem Tod in sein Angesicht zu schauen.
Wenn man nach einer Ästhetik sucht, die für Hartungs Lyrik maßgeblich sein könnte, landet man bei Adorno. In den "Minima Moralia" heißt es zu Beginn des zweiten Teiles: "Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben, dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt." Immer klang es seltsam, ausgerechnet von "anständig gearbeiteten Texten" zu sprechen, aber bei Hartungs Gedichten, die ausnahmslos bis in die feinsten Nuancen ausgearbeitet sind, leuchtet diese Bezeichnung ein. Und noch so eine seltsame Forderung aus den "Minima Moralia" bekommt mit Blick auf Hartungs Lyrik plötzlich eine Beschreibungskraft: Adorno betont die "Stichhaltigkeit der Konzeption". Stichhaltig ist ein schönes Wort. Es bedeutet, jedem Angriff standhalten zu können. In stichhaltiger Lyrik - die Wucht möglicher Angriffe kennt der Lyrikkritiker, Essayist und Literaturwissenschaftler Hartung nur zu gut - blitzt "das höllisch scharfe Teppichmesser", das vom Himmel fiel, noch einmal auf, wenn es schon am Erdboden angekommen ist - als würde einem Zeus nachträglich noch einmal zuzwinkern.
Ein solches Aufblinken entspricht dem feinen, mitunter schelmischen Humor, der Hartungs Lyrik auszeichnet. Den Gedichtband umrahmen zwei Begegnungen. Die erste ist ein Paradebeispiel für Hartungs Selbstironie. Sie spielt auf einem Balkon. Kaum hat der Dichter diesen Zwischenraum betreten, gesellt sich auch schon die "Muse des Alters" zu ihm und versucht, ihm ihre Dienste aufzudrängen. Aber der Dichter wehrt sich mit List und Raffinement. Auf die Frage, was er denn trinke, antwortet er trocken: Lethe. Auf die Auskunft der Muse, sie habe schon manchem gedient, kontert er frech: "Und Sie schreiben selbst?" Offensichtlich schreibt die "Muse des Alters" nicht selbst und erklärt das Gespräch vorerst für beendet. Kurz vor seinem am kommenden Sonntag zu feiernden fünfundachtzigsten Geburtstag hat der Lyriker Harald Hartung seine Leser mit einem Gedichtband beschenkt. Sie werden es ihm danken und ihn hochleben lassen. Es muss ja nicht unbedingt mit einem Glas Lethe sein.
CHRISTIAN METZ
Harald Hartung: "Das Auto des Erzherzogs". Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 72 S., geb, 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Geburtstag ein Geschenk an die Leser: Die neuen Gedichte von Harald Hartung
Harald Hartungs neuer Gedichtband setzt mit einem Kriegs- und Nachkriegszyklus ein und klingt im Angesicht des Todes aus. Hartungs Lyrik stimmt traurig; Vergänglichkeit durchweht seine Verse. Und doch strömen seine Gedichte eine Wärme aus, die einen tief berührt. Zärtliche Melancholie herrscht, wenn es "Mit Achtzig", so der Titel, zu einem unverhofften Wiedersehen kommt: "Im Hotelspiegel / Die Augen meiner Mutter / Du hier in Paris?", lautet das erste von Hartungs Doppelhaikus. Im hohen Alter die Augen der Mutter im eigenen Spiegelbild zu erkennen ist ein bewegendes Bild für eine ersehnte, aber unerfüllbare Heimkehr.
Indem der Betrachter seine Mutter in diesem Augen- und Anblick so lebendig vor sich sieht, dass er sie vertraut und doch verwundert anspricht, steigern sich Intensität und Anmut des Bildes. "Da ist ihr Lächeln", lautet der erste Vers des zweiten Haikus, als hätte sich das Bild aus dem Spiegel verselbständigt und würde weiter an Kontur gewinnen. Doch das Gegenteil ist der Fall: "Da ist ihr Lächeln fort", lautet der vollständige Satz über das Enjambement hinweg. Wie in der Schärfenverlagerung des Films lösen sich Züge der Mutter-Imago auf und tritt das Selbstbild hervor: "Und ein alter Mann grinst / in das trübe Glas." Auch das ist typisch für Hartungs Versfürsorge: Das Bild kippt nicht in sein komplettes Gegenteil, das Lächeln verliert sich in einem Grinsen, das durch die Trübe das Glases gemäßigt wird. Unklar, ob da der Tod grinst oder der alte Mann, der noch für einen Moment der Rolle des grinsenden Jungen verhaftet bleibt.
Von dieser ergreifenden Schlichtheit, die sorgsam, fast still über Momente von tiefer emotionaler Bewegung Auskunft gibt, zeugt auch ein Gedicht wie "Der Verlorene Sohn". Wie in der Spiegelszene entwirft auch dieser Text einen Zwischenraum. In diesem Fall wird er nicht durch einen Lichtstrahl erhellt, sondern akustisch erfüllt: "Ein Geräusch im Flur genügt / und ich denke Er ist es / Er wartet vor meiner Tür / mit Rucksack und jenem Seil / das er schließlich benutzte / Ist er es wirklich? Ich bin zu feige für den Spion / Ich trete ans Fenster und / schaue ob jemand das Haus / verläßt. Jeder ist mir recht." Der eine Laut setzt eine Gedanken- und Gefühlskaskade frei, die nach Selbstbefragung (ist er es wirklich?) und Selbstbeschimpfung (zu feige für die Tür) erst mit dem Fensterblick einen Halt findet. Da sieht man ihn vor sich, den verlorenen Vater, dessen Blick im Nichts verschwimmt. Harald Hartung ist ein Dichter subtiler Dringlichkeit und großer Gefühle, die über die Jahre zwar vertraut geworden sind, aber nicht gezähmt werden können.
Insgesamt vier Kapitel weist sein neuer Gedichtband "Das Auto des Erzherzogs" auf. Sie eröffnen vier Wege in jeweils unterschiedliche Textlandschaften. Der erste Weg führt zurück in die Vergangenheit. Über das titelgebende "Auto des Erzherzogs" und ein Pastiche auf Musils berühmtes Fliegerpfeil-Erlebnis wird schlaglichtartig der Erste Weltkrieg aufgerufen. Das Augenmerk allerdings liegt darauf, eine individuelle Enzyklopädie der eigenen Nachkriegskindheit zu erstellen. "Der Zechenwald", "Der Moldausommer" oder "Vaters Musik" lauten die einschlägigen Einträge.
Der zweite Weg führt direkt in die Gegenwart, und zwar durch jene schmalen poetischen Zwischenräume, die sich im Alltag öffnen. Die Figuren - bis auf eine Ausnahme spricht hier ein Ich - liegen "müßig auf dem Hotelbett", lesen "in den Versen / die Szymborska hinterließ", oder betrachten Brecht "beim Blick durchs Fenster". Auch das dritte Kapitel bleibt gegenwärtig, verändert aber seine Bewegungsform: In schnellen, knapp vermessenen Schritten springen die doppelten Haikus von einer Insel der Poesie zur anderen, bevor sich der Gang in der "Coda" abermals verlangsamt, um von den letzten Dingen zu erzählen und dem Tod in sein Angesicht zu schauen.
Wenn man nach einer Ästhetik sucht, die für Hartungs Lyrik maßgeblich sein könnte, landet man bei Adorno. In den "Minima Moralia" heißt es zu Beginn des zweiten Teiles: "Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinnweben, dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügt und befestigt." Immer klang es seltsam, ausgerechnet von "anständig gearbeiteten Texten" zu sprechen, aber bei Hartungs Gedichten, die ausnahmslos bis in die feinsten Nuancen ausgearbeitet sind, leuchtet diese Bezeichnung ein. Und noch so eine seltsame Forderung aus den "Minima Moralia" bekommt mit Blick auf Hartungs Lyrik plötzlich eine Beschreibungskraft: Adorno betont die "Stichhaltigkeit der Konzeption". Stichhaltig ist ein schönes Wort. Es bedeutet, jedem Angriff standhalten zu können. In stichhaltiger Lyrik - die Wucht möglicher Angriffe kennt der Lyrikkritiker, Essayist und Literaturwissenschaftler Hartung nur zu gut - blitzt "das höllisch scharfe Teppichmesser", das vom Himmel fiel, noch einmal auf, wenn es schon am Erdboden angekommen ist - als würde einem Zeus nachträglich noch einmal zuzwinkern.
Ein solches Aufblinken entspricht dem feinen, mitunter schelmischen Humor, der Hartungs Lyrik auszeichnet. Den Gedichtband umrahmen zwei Begegnungen. Die erste ist ein Paradebeispiel für Hartungs Selbstironie. Sie spielt auf einem Balkon. Kaum hat der Dichter diesen Zwischenraum betreten, gesellt sich auch schon die "Muse des Alters" zu ihm und versucht, ihm ihre Dienste aufzudrängen. Aber der Dichter wehrt sich mit List und Raffinement. Auf die Frage, was er denn trinke, antwortet er trocken: Lethe. Auf die Auskunft der Muse, sie habe schon manchem gedient, kontert er frech: "Und Sie schreiben selbst?" Offensichtlich schreibt die "Muse des Alters" nicht selbst und erklärt das Gespräch vorerst für beendet. Kurz vor seinem am kommenden Sonntag zu feiernden fünfundachtzigsten Geburtstag hat der Lyriker Harald Hartung seine Leser mit einem Gedichtband beschenkt. Sie werden es ihm danken und ihn hochleben lassen. Es muss ja nicht unbedingt mit einem Glas Lethe sein.
CHRISTIAN METZ
Harald Hartung: "Das Auto des Erzherzogs". Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2017. 72 S., geb, 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»einfach würdevoll!« (Björn Hayer, Berliner Zeitung, 22./23.07.2017) »Harald Hartung ist ein Dichter subtiler Dringlichkeit und großer Gefühle« (Christian Metz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2017) »Seine Gedichte sind im besten Sinne unspektakulär, auf die alltäglichen Erfahrungen gerichtet.« (Michael Braun, www.signaturen-magazin.de, 29.10.2017) »Diese Gedichte sind von beiläufiger Eleganz« (Thomas Betz, Münchner Feuilleton, November 2017) »Mehr Worte muss große Lyrik nicht machen.« (Stefan Dosch, Augsburger Allgemeine, 15.11.2017) »Auch mit 85 Jahren gehört (...) Harald Hartung (...) zu den wichtigsten lyrischen Stimmen der Gegenwart.« (Jochen Grywatsch, Westfalenspiegel, Mai 2018)