"Das Banner der Brüderlichkeit" unternimmt eine grundlegende Neuinterpretation der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Deutschland in ihrer Frühphase. Die Studie zeichnet ein lebendiges Bild von den Sozialdemokraten zwischen 1848 und 1878, vom kulturellen Innenleben ihrer Vereine und von den Weltdeutungen, die sie dort diskutierten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2000Lilienweiße Hände durften die rote Fahne nicht tragen
Als die Genießer noch keine Genossen waren: Thomas Welskopps Urgeschichte der Sozialdemokratie / Von Dieter Langewiesche
Die Sozialdemokratie verstand sich als Arbeiterpartei. Aber wer war ein Arbeiter? Diese Frage zieht sich als roter Faden durch die schwergewichtige Habilitationsschrift von Thomas Welskopp. "Ob jemand ein Arbeiter im Sinne des Vereins sei, entscheidet der Vorstand", bestimmten die Statuten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863. Wen man nicht dazurechnete, läßt sich leichter sagen. Ein Kritiker listete die Ausgeschlossenen auf: "Die Mehrzahl der Menschen besteht aus Ackerbauern", doch "sie zählen nicht, sie sind keine Arbeiter par excellence", ebensowenig wie die vielen Knechte und Mägde. Und die übrigen Frauen? "Es gibt Millionen Hausfrauen, die sich vom Morgen bis in die Nacht abmühen für die Familie und fleißiger sind als ihre Männer - ihre Arbeit wird nicht mitgezählt im Buche der Gerechtigkeit, denn sie gehören nicht . . . zu der Kirche oder dem Orden der Arbeiter."
Diese Polemik führt ins soziale Zentrum der frühen Arbeiterbewegung: Sie war ein städtischer Männerbund, dessen Vorstellung von gerechter Gesellschaft auf die kleingewerbliche Lebenswelt zugeschnitten war. Sie entstand nicht als Klassenbewegung von Industriearbeitern, sondern als "Volksbewegung der kleinen Produzenten". Vor allem Handwerksgesellen, aber auch Meister und sonstige kleine Gewerbetreibende bildeten das "soziale Grundgerüst" der frühen Sozialdemokratie. Hinzu kamen randständige Intellektuelle, jedoch kaum Fabrikarbeiter.
"Unter Arbeiter verstehen wir jeden, der von seiner eigenen Arbeit und nicht von der Ausbeutung anderer Arbeiter lebt, jeden, der durch seine persönliche Thätigkeit dem Ganzen, entweder der Gemeinde oder dem Volksganzen, nützt, mag er als Fabrikarbeiter, als Handwerker den Bedürfnissen der Menschheit genügen und den Wohlstand der Nation schaffen oder durch die Arbeit des Kopfes seinen Beitrag zur Befreiung, Bildung und Veredlung des Volkes liefern." Die Arbeiter sind das Volk und nicht etwa eine spezielle Klasse. Dieses Selbstverständnis einte die deutsche Arbeiterbewegung über alle Programmkontroversen hinweg von ihren Anfängen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Beginn der Sozialistengesetze.
Nur durch Arbeit, die andere nicht abhängig macht und damit entmündigt, trägt der einzelne zur Wohlfahrt des Gemeinwesens bei. Auf dieser Überzeugung bauten das Gesellschaftsbild und das Politikmodell der frühen Arbeiterbewegung auf. "Arbeit ist Bethätigung des Menschentums", erklärte Wilhelm Liebknecht noch 1875 in seiner Programmrede auf dem Gothaer Vereinigungskongreß. "Durch Arbeit wird der Mensch erst zum Menschen. Arbeiter heißt also Mensch - als Mensch sich bethätigender Mensch." Arbeiterpartei bedeute deshalb: "die Partei der wahren Kulturkämpfer, die Partei der für Kultur und Menschenthum ringenden Menschen". Nur die "Jünger des dolce far niente", die "Nurkonsumenten oder Nichtarbeiter", wollte man ausschließen. Das zweite der "zehn Gebote der Arbeiter" von 1849 hatte es ebenso gesehen: "Du sollst keinen Müßiggänger neben dir dulden." Diese Radikalität des Arbeitsgebots konnte diejenigen, die aus dem "Blickwinkel des Werkstattfensters" nur verpraßten, was in der Werkstatt geschaffen wurde, unbarmherzig als "Parasitentum des menschlichen Geschlechts" an den Pranger stellen. Ob solche menschenverachtenden Formen der Verdammung die Kehrseite des eigenen Universalitätsanspruchs sichtbar machten und die politische Sprache durchsäuerten, wäre eine eigene Untersuchung wert.
Sozialismus begriff die frühe Sozialdemokratie als "Ideal, das die Vervollkommnung des ganzen Menschen hier auf Erden schon verheißt". Diese sozialdemokratische Utopie blickte nicht in eine ferne Zukunft. Der Weg dorthin schien kurz und klar vorgezeichnet: Assoziation plus Demokratie gleich Sozialismus. Nicht Sozialismus, sondern Demokratie stand an der Spitze der Wertehierarchie der Arbeiterbewegung. Sozialismus hieß, Wirtschaft und Politik nach demokratischen Prinzipien zu gestalten. "Sozialdemokratie", definierte Wilhelm Liebknecht 1874, bedeutet "Regierung durch das Volk auf gesellschaftlichem Gebiete so gut wie auf staatlichem; die gerechte, vernunftgemäße, menschenwürdige Ordnung von Staat und Gesellschaft".
Jenes Ideal verurteilte Karl Marx als "demokratischen Wunderglauben", "durch und durch verpestet vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte". Die Sozialdemokratie verehrte Marx zwar als den Hauptgaranten der Wissenschaftlichkeit ihres Programms, doch ihm blieb nur die Rolle des nörgelnden Beobachters einer Praxis, die sich nicht seiner Theorie fügte, sondern in der Lebenswelt der Mitglieder wurzelte. Sie suchten nach Möglichkeiten, die als chaotisch und ungerecht wahrgenommene Ökonomie des Marktes zu zähmen. Assoziation hieß ihr Rezept, um den kleinen Produzenten zu retten, ohne in die restaurative Vision einer Zunftordnung abzugleiten. Genossenschaftliche Selbstorganisation der Produzenten und der Konsumenten sollte den einzelnen befähigen, sich in einer Ökonomie, in der das große Kapital die Kleinen völlig zu verdrängen drohte, als Selbständiger zu behaupten. Es ging um eine alternative Wirtschaftsordnung, die an Vertrautes anknüpfte, ohne das Alte zementieren zu wollen. Die Spannweite der Ideen reichte vom Assoziationssozialismus als einem Netzwerk kleiner Werkstätten bis zum Staatssozialismus. Beides verlangte, Gesellschaft und Staat zu demokratisieren. Im Kern zielte die frühe Arbeiterbewegung auf eine radikaldemokratische Öffnung der liberalen Vision einer klassenlosen Bürgergesellschaft. Ihre Idee vom "Volk" als der Gemeinschaft aller, die durch Arbeit zum Gemeinwohl beitragen, fand jedoch spätestens seit den Revolutionserfahrungen von 1848/49 keinen Widerhall mehr im liberalen Bürgertum.
Wie in der Revolution und dann erneut in den sechziger Jahren die Chancen zu einer politischen Interessenkoalition mit den bürgerlichen Demokraten aussah, lotet Welskopp allerdings nicht aus. Die "Trennung zwischen proletarischer und bürgerlicher Demokratie" (Gustav Mayer), in der man einen Sonderweg der deutschen Arbeiterbewegung gesehen hat, will er neu deuten, indem er die Ursache ganz in den politischen Organisationsbereich des Bürgertums verlagert. Er sieht in ihr das "Ergebnis einer mißglückten Trennung der Demokratie vom Liberalismus und eines organisatorischen Vorsprungs der Arbeitervereinsbewegung" gegenüber demokratischen Parteien.
Diese Sicht ist jedoch ganz auf die sozialdemokratischen Vereinslandschaften in Mittel- und Norddeutschland begrenzt. Die Hochburgen der bürgerlichen Demokraten lagen im Südwesten, in Baden und Württemberg. Hier trennten sich die bürgerlichen Demokraten früh von den Liberalen und bauten leistungsfähige Parteiorganisationen auf, die mit der Tradition liberaler Honoratiorenpolitik brachen. Das verkennt Welskopp. Man müßte darüber nachdenken, was es bedeutete, daß sich vor 1870 die Vereinslandschaften der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Demokraten nur teilweise überlappten und nach 1870 keine Chance für eine politische Kooperation mehr bestand. Die Reichsgründung geriet nämlich für die bürgerlichen Demokraten des deutschen Südwestens zur Katastrophe. Sie hatten sich als Antipreußen ohne Wenn und Aber profiliert. Als ihre föderative Konzeption von nationaler Einheit scheiterte, haben sie sich von dieser Niederlage nie mehr erholen können. Die preußisch-kleindeutsche Reichsgründung hat der Arbeiterbewegung den einzig möglichen Koalitionspartner im Bürgertum genommen.
Der Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede von bürgerlicher und sozialdemokratischer Demokratie gehört nicht zu den Stärken dieses grundlegenden Werkes zur frühen Arbeiterbewegung. Welskopp gelingt es dafür aber, das Eigenständige dieser Phase hervortreten zu lassen, indem er sich konsequent gegen jede Deutung stellt, die im Weg der deutschen Sozialdemokratie einen Reifungsprozeß von frühsozialistischen Anfängen zur marxistischen Klassenpartei erkennen will. Er historisiert die Arbeiterbewegung, indem er sie als Geschöpf ihrer Zeit vorstellt. In drei großen Hauptteilen analysiert er ihre soziale Basis, ihre Vereinsmilieus und ihre programmatischen Diskurse. So kann er zeigen, wie das Organisationsgeflecht mit der Lebenswelt der Mitglieder harmonierte.
Die Vereine waren für sie "demokratische Handwerkerrepubliken im Kleinen". In ihnen gestalteten sie eine demokratische Gegenwelt zum Staat und zur "bürgerlichen Gesellschaft". Es war eine kämpferische Männerwelt, eingefügt in die frauenfeindliche Gesellenkultur, in denen die meisten aufgewachsen waren. In dem Handwerkermilieu, dem sie entstammten und in dem sie lebten, sieht Welskopp auch den stärksten Grund dafür, daß sich die deutsche Arbeiterbewegung zunächst politisch und nicht gewerkschaftlich formiert hat. Nur in wenigen Gewerben bot sich bereits die Möglichkeit, Solidarbeziehungen auf betrieblicher Ebene zu organisieren.
Betriebliche oder berufliche Zusammenschlüsse hätten zur Erstarrung in Zunfttraditionen geführt. Die politische Formierung der Arbeiterbewegung in nicht berufsgebundenen Vereinen ermöglichte es, ein neues Organisationsmodell zu erproben, ohne mit den Werten einer Gesellschaft kleiner Produzenten zu brechen. So gelang es, die Vision einer sozialen Demokratie aller "Arbeiter" als Gegenmodell zum Bestehenden rückzubinden an eine Lebenswelt, die noch nicht als industrielle Klassengesellschaft erfahren wurde.
Thomas Welskopp: "Das Banner der Brüderlichkeit". Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, Bonn 2000. 837 S., geb., 128,- DM.
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Als die Genießer noch keine Genossen waren: Thomas Welskopps Urgeschichte der Sozialdemokratie / Von Dieter Langewiesche
Die Sozialdemokratie verstand sich als Arbeiterpartei. Aber wer war ein Arbeiter? Diese Frage zieht sich als roter Faden durch die schwergewichtige Habilitationsschrift von Thomas Welskopp. "Ob jemand ein Arbeiter im Sinne des Vereins sei, entscheidet der Vorstand", bestimmten die Statuten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863. Wen man nicht dazurechnete, läßt sich leichter sagen. Ein Kritiker listete die Ausgeschlossenen auf: "Die Mehrzahl der Menschen besteht aus Ackerbauern", doch "sie zählen nicht, sie sind keine Arbeiter par excellence", ebensowenig wie die vielen Knechte und Mägde. Und die übrigen Frauen? "Es gibt Millionen Hausfrauen, die sich vom Morgen bis in die Nacht abmühen für die Familie und fleißiger sind als ihre Männer - ihre Arbeit wird nicht mitgezählt im Buche der Gerechtigkeit, denn sie gehören nicht . . . zu der Kirche oder dem Orden der Arbeiter."
Diese Polemik führt ins soziale Zentrum der frühen Arbeiterbewegung: Sie war ein städtischer Männerbund, dessen Vorstellung von gerechter Gesellschaft auf die kleingewerbliche Lebenswelt zugeschnitten war. Sie entstand nicht als Klassenbewegung von Industriearbeitern, sondern als "Volksbewegung der kleinen Produzenten". Vor allem Handwerksgesellen, aber auch Meister und sonstige kleine Gewerbetreibende bildeten das "soziale Grundgerüst" der frühen Sozialdemokratie. Hinzu kamen randständige Intellektuelle, jedoch kaum Fabrikarbeiter.
"Unter Arbeiter verstehen wir jeden, der von seiner eigenen Arbeit und nicht von der Ausbeutung anderer Arbeiter lebt, jeden, der durch seine persönliche Thätigkeit dem Ganzen, entweder der Gemeinde oder dem Volksganzen, nützt, mag er als Fabrikarbeiter, als Handwerker den Bedürfnissen der Menschheit genügen und den Wohlstand der Nation schaffen oder durch die Arbeit des Kopfes seinen Beitrag zur Befreiung, Bildung und Veredlung des Volkes liefern." Die Arbeiter sind das Volk und nicht etwa eine spezielle Klasse. Dieses Selbstverständnis einte die deutsche Arbeiterbewegung über alle Programmkontroversen hinweg von ihren Anfängen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Beginn der Sozialistengesetze.
Nur durch Arbeit, die andere nicht abhängig macht und damit entmündigt, trägt der einzelne zur Wohlfahrt des Gemeinwesens bei. Auf dieser Überzeugung bauten das Gesellschaftsbild und das Politikmodell der frühen Arbeiterbewegung auf. "Arbeit ist Bethätigung des Menschentums", erklärte Wilhelm Liebknecht noch 1875 in seiner Programmrede auf dem Gothaer Vereinigungskongreß. "Durch Arbeit wird der Mensch erst zum Menschen. Arbeiter heißt also Mensch - als Mensch sich bethätigender Mensch." Arbeiterpartei bedeute deshalb: "die Partei der wahren Kulturkämpfer, die Partei der für Kultur und Menschenthum ringenden Menschen". Nur die "Jünger des dolce far niente", die "Nurkonsumenten oder Nichtarbeiter", wollte man ausschließen. Das zweite der "zehn Gebote der Arbeiter" von 1849 hatte es ebenso gesehen: "Du sollst keinen Müßiggänger neben dir dulden." Diese Radikalität des Arbeitsgebots konnte diejenigen, die aus dem "Blickwinkel des Werkstattfensters" nur verpraßten, was in der Werkstatt geschaffen wurde, unbarmherzig als "Parasitentum des menschlichen Geschlechts" an den Pranger stellen. Ob solche menschenverachtenden Formen der Verdammung die Kehrseite des eigenen Universalitätsanspruchs sichtbar machten und die politische Sprache durchsäuerten, wäre eine eigene Untersuchung wert.
Sozialismus begriff die frühe Sozialdemokratie als "Ideal, das die Vervollkommnung des ganzen Menschen hier auf Erden schon verheißt". Diese sozialdemokratische Utopie blickte nicht in eine ferne Zukunft. Der Weg dorthin schien kurz und klar vorgezeichnet: Assoziation plus Demokratie gleich Sozialismus. Nicht Sozialismus, sondern Demokratie stand an der Spitze der Wertehierarchie der Arbeiterbewegung. Sozialismus hieß, Wirtschaft und Politik nach demokratischen Prinzipien zu gestalten. "Sozialdemokratie", definierte Wilhelm Liebknecht 1874, bedeutet "Regierung durch das Volk auf gesellschaftlichem Gebiete so gut wie auf staatlichem; die gerechte, vernunftgemäße, menschenwürdige Ordnung von Staat und Gesellschaft".
Jenes Ideal verurteilte Karl Marx als "demokratischen Wunderglauben", "durch und durch verpestet vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte". Die Sozialdemokratie verehrte Marx zwar als den Hauptgaranten der Wissenschaftlichkeit ihres Programms, doch ihm blieb nur die Rolle des nörgelnden Beobachters einer Praxis, die sich nicht seiner Theorie fügte, sondern in der Lebenswelt der Mitglieder wurzelte. Sie suchten nach Möglichkeiten, die als chaotisch und ungerecht wahrgenommene Ökonomie des Marktes zu zähmen. Assoziation hieß ihr Rezept, um den kleinen Produzenten zu retten, ohne in die restaurative Vision einer Zunftordnung abzugleiten. Genossenschaftliche Selbstorganisation der Produzenten und der Konsumenten sollte den einzelnen befähigen, sich in einer Ökonomie, in der das große Kapital die Kleinen völlig zu verdrängen drohte, als Selbständiger zu behaupten. Es ging um eine alternative Wirtschaftsordnung, die an Vertrautes anknüpfte, ohne das Alte zementieren zu wollen. Die Spannweite der Ideen reichte vom Assoziationssozialismus als einem Netzwerk kleiner Werkstätten bis zum Staatssozialismus. Beides verlangte, Gesellschaft und Staat zu demokratisieren. Im Kern zielte die frühe Arbeiterbewegung auf eine radikaldemokratische Öffnung der liberalen Vision einer klassenlosen Bürgergesellschaft. Ihre Idee vom "Volk" als der Gemeinschaft aller, die durch Arbeit zum Gemeinwohl beitragen, fand jedoch spätestens seit den Revolutionserfahrungen von 1848/49 keinen Widerhall mehr im liberalen Bürgertum.
Wie in der Revolution und dann erneut in den sechziger Jahren die Chancen zu einer politischen Interessenkoalition mit den bürgerlichen Demokraten aussah, lotet Welskopp allerdings nicht aus. Die "Trennung zwischen proletarischer und bürgerlicher Demokratie" (Gustav Mayer), in der man einen Sonderweg der deutschen Arbeiterbewegung gesehen hat, will er neu deuten, indem er die Ursache ganz in den politischen Organisationsbereich des Bürgertums verlagert. Er sieht in ihr das "Ergebnis einer mißglückten Trennung der Demokratie vom Liberalismus und eines organisatorischen Vorsprungs der Arbeitervereinsbewegung" gegenüber demokratischen Parteien.
Diese Sicht ist jedoch ganz auf die sozialdemokratischen Vereinslandschaften in Mittel- und Norddeutschland begrenzt. Die Hochburgen der bürgerlichen Demokraten lagen im Südwesten, in Baden und Württemberg. Hier trennten sich die bürgerlichen Demokraten früh von den Liberalen und bauten leistungsfähige Parteiorganisationen auf, die mit der Tradition liberaler Honoratiorenpolitik brachen. Das verkennt Welskopp. Man müßte darüber nachdenken, was es bedeutete, daß sich vor 1870 die Vereinslandschaften der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Demokraten nur teilweise überlappten und nach 1870 keine Chance für eine politische Kooperation mehr bestand. Die Reichsgründung geriet nämlich für die bürgerlichen Demokraten des deutschen Südwestens zur Katastrophe. Sie hatten sich als Antipreußen ohne Wenn und Aber profiliert. Als ihre föderative Konzeption von nationaler Einheit scheiterte, haben sie sich von dieser Niederlage nie mehr erholen können. Die preußisch-kleindeutsche Reichsgründung hat der Arbeiterbewegung den einzig möglichen Koalitionspartner im Bürgertum genommen.
Der Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede von bürgerlicher und sozialdemokratischer Demokratie gehört nicht zu den Stärken dieses grundlegenden Werkes zur frühen Arbeiterbewegung. Welskopp gelingt es dafür aber, das Eigenständige dieser Phase hervortreten zu lassen, indem er sich konsequent gegen jede Deutung stellt, die im Weg der deutschen Sozialdemokratie einen Reifungsprozeß von frühsozialistischen Anfängen zur marxistischen Klassenpartei erkennen will. Er historisiert die Arbeiterbewegung, indem er sie als Geschöpf ihrer Zeit vorstellt. In drei großen Hauptteilen analysiert er ihre soziale Basis, ihre Vereinsmilieus und ihre programmatischen Diskurse. So kann er zeigen, wie das Organisationsgeflecht mit der Lebenswelt der Mitglieder harmonierte.
Die Vereine waren für sie "demokratische Handwerkerrepubliken im Kleinen". In ihnen gestalteten sie eine demokratische Gegenwelt zum Staat und zur "bürgerlichen Gesellschaft". Es war eine kämpferische Männerwelt, eingefügt in die frauenfeindliche Gesellenkultur, in denen die meisten aufgewachsen waren. In dem Handwerkermilieu, dem sie entstammten und in dem sie lebten, sieht Welskopp auch den stärksten Grund dafür, daß sich die deutsche Arbeiterbewegung zunächst politisch und nicht gewerkschaftlich formiert hat. Nur in wenigen Gewerben bot sich bereits die Möglichkeit, Solidarbeziehungen auf betrieblicher Ebene zu organisieren.
Betriebliche oder berufliche Zusammenschlüsse hätten zur Erstarrung in Zunfttraditionen geführt. Die politische Formierung der Arbeiterbewegung in nicht berufsgebundenen Vereinen ermöglichte es, ein neues Organisationsmodell zu erproben, ohne mit den Werten einer Gesellschaft kleiner Produzenten zu brechen. So gelang es, die Vision einer sozialen Demokratie aller "Arbeiter" als Gegenmodell zum Bestehenden rückzubinden an eine Lebenswelt, die noch nicht als industrielle Klassengesellschaft erfahren wurde.
Thomas Welskopp: "Das Banner der Brüderlichkeit". Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Verlag J. H. W. Dietz Nachfolger, Bonn 2000. 837 S., geb., 128,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Die Frage, die sich durch diese sehr umfangreiche Habilitationsschrift zieht, ist dem Rezensenten Dieter Langewiesche zufolge diese: "Wer war ein Arbeiter". Sagen lasse sich noch am ehesten, wer es nicht war: Bauern, Knechte, Hausfrauen. Die frühe Arbeiterbewegung habe sich als "städtischer Männerbund" verstanden, war so etwas wie eine "Volksbewegung der kleinen Produzenten". Im Grunde, so Langewiesche referierend (oder vielleicht auch ergänzend, das wird über weite Strecken nicht klar), ging es um die "radikal-demokratische Öffnung der liberalen Vision einer klassenlosen Bürgergesellschaft". Das Problem war nur: auf Seiten der Liberalen gab es dafür kaum Ansprechpartner, nach der Reichsgründung unter preußischer Vorherrschaft 1870 gar keine mehr. Das Buch, findet Langewiesche, hat Stärken und Schwächen. Der Vergleich von "bürgerlicher und sozialdemokratischer Demokratie" komme zu kurz, ein Verdienst sei es aber, auf das "Eigenständige" der frühen Phase der Arbeiterbewegung aufmerksam zu machen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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