Es beginnt mit einer Liebesgeschichte im modernen Europa und endet mit einer Flucht in eine andere Welt: Als der Erzähler merkt, dass seine verführerische Geliebte Manon noch immer ein Verhältnis mit einem berühmten Maler hat, nimmt er einen Auftrag an, der ihn nach Indien führt, um den Palast eines Königs in ein modernes Hotel umzubauen. Die Begegnung mit dieser traumhaften Welt hilft dem Unglücklichen auf neue Gedanken zu kommen - bis ihm Manon in den fernen Palast folgt und ihre Geschichte neu zu beginnen scheint ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2005König, Dame und Kuh
Frankfurt - Indien und wieder zurück: Martin Mosebachs Roman "Das Beben" besticht durch elegante Lakonie, feinen Humor und unnachahmlichen Stil
Alles unterhalb des Trompetenstoßes wäre kleinlich und verfehlt. Martin Mosebachs neues Buch "Das Beben", ein komischer, reicher und tiefer Roman, enthält eine Handvoll Passagen, der unsere Kinder und Kindeskinder später in Lesebüchern begegnen werden. Wer schon heute in ihren Genuß kommen will, suche nach den Abschnitten, die jetzt noch unbetitelt sind: Wie der Held schlechten Gewissens eine Katze hypnotisiert. Wie er eine Nacht lang in der Wohnung seiner Geliebten vergeblich auf deren Heimkehr wartet. Wie die Geliebte, als sie sich unbeobachtet glaubt, in mystischer Wonne die Bläschen einer Verpackungsfolie zerquetscht. Es sind oft nur halbe Seiten, und sie sind unvergeßlich. Aber das ist auch der ganze Roman.
"Das Beben" ist in drei Bücher eingeteilt. Das erste Buch spielt im ungenannt bleibenden Frankfurt, die zwei folgenden in Indien, wohin der Held aus beruflichen Gründen und enttäuschter Liebe flieht. Das erste Buch, fast eine Novelle für sich, ist das Beste, was dieser Autor überhaupt geschrieben hat. Der Ich-Erzähler verliert sich in eine Affäre mit der Architektentochter Manon, der Mätresse eines bekannten bildenden Künstlers, dem Manon, wie sich herausstellt, immer noch hörig ist. Das zweite Buch zeigt den enttäuschten Erzähler in einem indischen Palast, aber das gibt eine falsche Vorstellung. Er ist ein Architekt, der Luxushotels entwirft, und ein solches soll aus dem Frauenflügel des alten Forts in Sanchor entstehen. Aber der Palast ist halb verfallen, das ehemalige Königreich liegt in der hintersten Provinz und ist wasserarm, kein Mensch wird sich hierherverirren; der Plan ist eine Farce. Und so wie Hans Castorp im Hotel Berghof bald aufhört, in seinem Handbuch "Ocean Steamships" zu blättern, läßt unser Held bald seine Pläne zum Umbau der Palastanlage liegen. Denn auch er ist in den Bannkreis einer höheren Macht gelangt, dem er erst im dritten Buch, das ihm das Wiedersehen mit Manon beschert, im überraschenden Finale entkommt.
Wer ihn fesselt und zeitweise sogar Manon vergessen läßt, ist der König, die Titelfigur des zweiten Buches. Dieser König blickt auf eine Tradition von Jahrtausenden zurück und hat die Lebensform der abstrakten Größe zu um so feinerer Kunst ausgebildet, als alle äußeren Umstände ihr widrig entgegenstehen. Indien ist eine Demokratie, der König hat keinerlei offizielle Macht und keine Rupie in der Staatsschatulle. Das bestärkt His Highness nur im Bewußtsein ihrer überzeitlichen Würde. Die königliche Hoheit oder "Hiseinis", wie sie in indischem Englisch genannt wird, verkörpert das Überzeitliche und Unzeitgemäße schlechthin. Als Kontrast und Hintergrund dient ihr das Nebenpersonal mit seinen außerordentlich komischen Figuren des Zeitgeists - einem glatzköpfig virilen und aufgeblasenen Literaten oder dem in Sanchor absteigenden Berufspolitiker der Grünen, der seinem über "Verspannung" klagenden zehnjährigen Sohn Joram den Nacken massiert - ",Tiefer', befahl der Sohn mürrisch."
Hiseinis ist nicht die einzige Hauptfigur. Es sind ihrer drei, besser gesagt, die Hauptfigur ist eine dreifaltige: König, Dame und Kuh. Mit vielen halbtransparenten Fäden wird um diese Trias ein Schleier gewoben, der sie gemeinsam bedeckt und verhüllt. Der indische König ist so groß und überflüssig wie die hellgraue Kuh, die den Erzähler in der Flughafenhalle empfängt. Ihr, der heiligen Kuh, gilt das schon heute klassisch anmutende Eingangskapitel des zweiten Buchs. Sie ist das Wesen, in dem das Phänomen der Heiligkeit sich großäugig und gelassen im Alltag offenbart.
Nicht nur der Augenschnitt - aber gewiß kein misogyner Scherz - verbindet das heilige Tier mit der vom Erzähler angebeteten Frau. Manon ist auf der einen Seite eine individuelle Figur, wie sie in ihrer Lebendigkeit nur ein Autor von wahrer Beobachtungsgabe schaffen konnte. Es genügen vier oder fünf Details, aber es müssen die richtigen sein, und der Leser sieht Manon vor sich, in ihrer reizenden Konfusheit, wie sie im Restaurant zwischen ihren Telefonaten dem Liebhaber begeistert lauscht und dabei von seinem Teller ißt oder sich im Hotelbett wie ein Fisch unter ihm wegwindet. Auf der anderen Seite hat die rätselhafte Unruhe dieser Frau einen mythischen Hintergrund. Manon ist, wie dem Erzähler im Traum aufgeht, das schöne Vogelmädchen aus Tausendundeiner Nacht, dessen Gefieder geraubt und in einer Kiste verschlossen wurde; all ihr heimliches Streben gilt dem Ziel, ihr Federkleid wiederzugewinnen und ihren Schwestern nachzufliegen. Mosebach erzählt diese Urgeschichte ganz realistisch; der Mythos tritt so detailgenau ins Leben wie die heilige Kuh, deren Mittagessen aus einem Pappkarton besteht, der Tintenpatronen für Kopiergeräte enthalten hatte.
Diesem Autor ist alles schal Idealische und Mythisierende fremd. Gerade darum gelingt ihm ein zweites Mal eine mythische und doch in jedem Grashalm wirklichkeitszitternde Passage, von der man nie geglaubt hätte, daß sie zu bewältigen wäre, ohne daß die Furien des Kitsches auf sie herabschössen. Der junge König folgt einem blau-rot schillernden, verschleierten jungen Mädchen aus der Schneiderkaste, das vor ihm flieht und auffordernd mit den Händen klatscht; er rennt ihm über Dornen und Gestrüpp hinterher, watet durch einen Bach, verliert die Schöne aus den Augen und sieht hinter Büschen wieder das Blau-Rot; als er sie endlich stellt, verändern sich plötzlich ihre Augen, und wachsend, weißglühend und mit Brustwarzen, die sich wie kleine Schlangenköpfe bewegen, enthüllt sie sich als Göttin, wischt dunkles Blut aus ihrem Schoß auf seiner Stirne ab und macht, daß ihm schwarz vor Augen wird. Die Verwandlung eines Schneidermädchens in eine strahlende Göttin entspricht der unmerklichen Verwandlung einer realistischen Szene in ein mythisches Bild. Wofür man den Begriff "Apotheose" hat, wird auf zehn Seiten nicht behauptet, sondern vorgeführt.
Vor jenen Furien wäre Mosebach allein schon durch sein Temperament gewappnet, das genuin humoristisch ist. Man darf sich vom begeisterungsfähigen Erzähler nicht darüber täuschen lassen: "Das Beben" steckt voll vielfältiger objektiver Ironie. Dieser Ironie entkommt keine Figur und schon gar keine Meinungsäußerung. Der König mag ein Symbol des überzeitlich Heiligen sein, aber er ist selbstgerecht, hat keinen Funken Humor und deutet sogar Erdbeben als Ausflüsse der Demokratie. Die nach Freiheit gierende Frau, die ihn in die Knie zwingt, kehrt am Ende zu ihrem monströsen Kunst-Gaukler zurück. Alle Pläne sind Rauch. Jede Bewegung nach außen mündet nach kleinen Beben und Turbulenzen ins alte Innere zurück. Nicht einmal die Frankfurter Wohnung wird zu Ende renoviert.
Die rhetorische Grundfigur dieses Buches ist nicht zufällig die Antiklimax. Man könnte einen Essay allein über Mosebachs Kunst der Kapitelenden schreiben. Wenn es jeden Autor in den Fingern juckt, am Schluß etwas Weihrauch ins Feuer zu werfen und dem letzten Satz Pathos und Aplomb zu geben, so übt sich Mosebach in Hiseinis-gleicher Selbstbeherrschung. Bei ihm dreht sich das Finale lakonisch zur Seite. Von dieser leisen, eleganten Lakonik geht etwas aus, zu dem nur wenige Schriftsteller in der Lage sind.
Aufs Ganze übertragen, hätte dem Roman sogar noch mehr Lakonik genützt. Im Mittelteil hätte man dem Autor ein paar Striche gerne verziehen und mit einem Palastflügel weniger vorliebgenommen. Verglichen mit dem "Nebelfürst", Mosebachs furiosem Buffo-Roman über einen Hochstapler zur Kaiserzeit, ist "Das Beben" womöglich nicht ganz rund. Aber ein so eigenwilliges und solitäres Buch kann nicht ohne eigene Schwächen sein. Eine kleine liegt vielleicht auch darin, daß der Erzähler als Planer von Luxushotels doch etwas zu viel Kunstsinn, Philosophie und Literatur im Leibe hat. Es ist ein Problem vieler Romane, deren Helden nicht gleich Schriftsteller sind: Sie wissen mehr, als sie wissen dürften; und es wäre schade darum, wenn sie es nicht wüßten. Ein anderes Problem liegt in der Konstruktion. Die zwei Teile des Romans, der deutsche und der indische, sind fachmännisch mit Nut und Feder verzahnt, aber es bleiben zwei Teile.
Was nicht heißen soll, daß Mosebach seine Motive nicht ganz genau im Auge behält. Im Gegenteil ist er ein ausgefuchster Weber und Kompositeur. Wie er eine Liebesgeschichte abbricht und, um einen Kontinent versetzt, mit dem Anblick der heiligen Kuh wieder anheben läßt - darauf mußte man kommen. Viel wichtiger ist freilich etwas anderes. Nietzsche wußte es noch und bekannte es in einer Mischung aus Klage und Stolz: Wie schwierig es sei, eine Seite vollkommener Prosa zu schreiben. Martin Mosebach ist einer der wenigen Autoren, der noch einen Begriff von dieser Schwierigkeit hat. Ein falsches Wort, und die Seite ist verkleckst, eine Alliteration zuviel, und der Stil schlägt um in die Manier, ein schiefes Bild, und das Kapitel kippt.
Und das ist noch der einfache Teil. Die eigentliche Schwarze Kunst liegt in etwas kaum Nachweisbarem, dem Sinn für Rhythmus und Klang. Der Rhythmus in der Prosa ist noch schwieriger zu meistern als in der Lyrik. Wenn man ihn bemerkt, leiert er schon und der Autor hat schon verloren. Der Rhythmus muß sich wie der Meeresgott immerzu verwandeln und den Satzwellen anschmiegen. Mosebachs proteische Prosa ist perfekt rhythmisiert, wie man beim lauten Vorlesen überprüfen kann. Sie ist nah am Gesprochenen, wunderbar klar und frei von dem Grauschleier, der durch die Verwendung des naheliegenden Fremdworts, der kurrenten Wendung entsteht. Diesem Autor fallen auf jeder Seite drei Details ein, um die man ihn ehrlich beneidet. Aber ebenso wichtig ist, was er unterläßt. Stil ist beides, Fülle und Vermeidung. Je größer der Stilist, desto länger seine innere Liste des Verbotenen. Mosebachs unsichtbare Liste hat man sich wie ein Leporello vorzustellen. Seine Prosa, frei von Jargon, farbig funkelnd, klangschön, wissensprall und voller Witz, schreibt ihm heute niemand nach. Um den Zeitgeist hat er sich nie geschert, aber daß Mosebachs Zeit kommen wird, ist eine so wenig gewagte Prophezeiung wie die, daß in der Kirche irgendwann ein Amen fällt.
Martin Mosebach: "Das Beben". Roman. Hanser Verlag, München 2005. 412 S., geb., 24,90 [Euro].
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Frankfurt - Indien und wieder zurück: Martin Mosebachs Roman "Das Beben" besticht durch elegante Lakonie, feinen Humor und unnachahmlichen Stil
Alles unterhalb des Trompetenstoßes wäre kleinlich und verfehlt. Martin Mosebachs neues Buch "Das Beben", ein komischer, reicher und tiefer Roman, enthält eine Handvoll Passagen, der unsere Kinder und Kindeskinder später in Lesebüchern begegnen werden. Wer schon heute in ihren Genuß kommen will, suche nach den Abschnitten, die jetzt noch unbetitelt sind: Wie der Held schlechten Gewissens eine Katze hypnotisiert. Wie er eine Nacht lang in der Wohnung seiner Geliebten vergeblich auf deren Heimkehr wartet. Wie die Geliebte, als sie sich unbeobachtet glaubt, in mystischer Wonne die Bläschen einer Verpackungsfolie zerquetscht. Es sind oft nur halbe Seiten, und sie sind unvergeßlich. Aber das ist auch der ganze Roman.
"Das Beben" ist in drei Bücher eingeteilt. Das erste Buch spielt im ungenannt bleibenden Frankfurt, die zwei folgenden in Indien, wohin der Held aus beruflichen Gründen und enttäuschter Liebe flieht. Das erste Buch, fast eine Novelle für sich, ist das Beste, was dieser Autor überhaupt geschrieben hat. Der Ich-Erzähler verliert sich in eine Affäre mit der Architektentochter Manon, der Mätresse eines bekannten bildenden Künstlers, dem Manon, wie sich herausstellt, immer noch hörig ist. Das zweite Buch zeigt den enttäuschten Erzähler in einem indischen Palast, aber das gibt eine falsche Vorstellung. Er ist ein Architekt, der Luxushotels entwirft, und ein solches soll aus dem Frauenflügel des alten Forts in Sanchor entstehen. Aber der Palast ist halb verfallen, das ehemalige Königreich liegt in der hintersten Provinz und ist wasserarm, kein Mensch wird sich hierherverirren; der Plan ist eine Farce. Und so wie Hans Castorp im Hotel Berghof bald aufhört, in seinem Handbuch "Ocean Steamships" zu blättern, läßt unser Held bald seine Pläne zum Umbau der Palastanlage liegen. Denn auch er ist in den Bannkreis einer höheren Macht gelangt, dem er erst im dritten Buch, das ihm das Wiedersehen mit Manon beschert, im überraschenden Finale entkommt.
Wer ihn fesselt und zeitweise sogar Manon vergessen läßt, ist der König, die Titelfigur des zweiten Buches. Dieser König blickt auf eine Tradition von Jahrtausenden zurück und hat die Lebensform der abstrakten Größe zu um so feinerer Kunst ausgebildet, als alle äußeren Umstände ihr widrig entgegenstehen. Indien ist eine Demokratie, der König hat keinerlei offizielle Macht und keine Rupie in der Staatsschatulle. Das bestärkt His Highness nur im Bewußtsein ihrer überzeitlichen Würde. Die königliche Hoheit oder "Hiseinis", wie sie in indischem Englisch genannt wird, verkörpert das Überzeitliche und Unzeitgemäße schlechthin. Als Kontrast und Hintergrund dient ihr das Nebenpersonal mit seinen außerordentlich komischen Figuren des Zeitgeists - einem glatzköpfig virilen und aufgeblasenen Literaten oder dem in Sanchor absteigenden Berufspolitiker der Grünen, der seinem über "Verspannung" klagenden zehnjährigen Sohn Joram den Nacken massiert - ",Tiefer', befahl der Sohn mürrisch."
Hiseinis ist nicht die einzige Hauptfigur. Es sind ihrer drei, besser gesagt, die Hauptfigur ist eine dreifaltige: König, Dame und Kuh. Mit vielen halbtransparenten Fäden wird um diese Trias ein Schleier gewoben, der sie gemeinsam bedeckt und verhüllt. Der indische König ist so groß und überflüssig wie die hellgraue Kuh, die den Erzähler in der Flughafenhalle empfängt. Ihr, der heiligen Kuh, gilt das schon heute klassisch anmutende Eingangskapitel des zweiten Buchs. Sie ist das Wesen, in dem das Phänomen der Heiligkeit sich großäugig und gelassen im Alltag offenbart.
Nicht nur der Augenschnitt - aber gewiß kein misogyner Scherz - verbindet das heilige Tier mit der vom Erzähler angebeteten Frau. Manon ist auf der einen Seite eine individuelle Figur, wie sie in ihrer Lebendigkeit nur ein Autor von wahrer Beobachtungsgabe schaffen konnte. Es genügen vier oder fünf Details, aber es müssen die richtigen sein, und der Leser sieht Manon vor sich, in ihrer reizenden Konfusheit, wie sie im Restaurant zwischen ihren Telefonaten dem Liebhaber begeistert lauscht und dabei von seinem Teller ißt oder sich im Hotelbett wie ein Fisch unter ihm wegwindet. Auf der anderen Seite hat die rätselhafte Unruhe dieser Frau einen mythischen Hintergrund. Manon ist, wie dem Erzähler im Traum aufgeht, das schöne Vogelmädchen aus Tausendundeiner Nacht, dessen Gefieder geraubt und in einer Kiste verschlossen wurde; all ihr heimliches Streben gilt dem Ziel, ihr Federkleid wiederzugewinnen und ihren Schwestern nachzufliegen. Mosebach erzählt diese Urgeschichte ganz realistisch; der Mythos tritt so detailgenau ins Leben wie die heilige Kuh, deren Mittagessen aus einem Pappkarton besteht, der Tintenpatronen für Kopiergeräte enthalten hatte.
Diesem Autor ist alles schal Idealische und Mythisierende fremd. Gerade darum gelingt ihm ein zweites Mal eine mythische und doch in jedem Grashalm wirklichkeitszitternde Passage, von der man nie geglaubt hätte, daß sie zu bewältigen wäre, ohne daß die Furien des Kitsches auf sie herabschössen. Der junge König folgt einem blau-rot schillernden, verschleierten jungen Mädchen aus der Schneiderkaste, das vor ihm flieht und auffordernd mit den Händen klatscht; er rennt ihm über Dornen und Gestrüpp hinterher, watet durch einen Bach, verliert die Schöne aus den Augen und sieht hinter Büschen wieder das Blau-Rot; als er sie endlich stellt, verändern sich plötzlich ihre Augen, und wachsend, weißglühend und mit Brustwarzen, die sich wie kleine Schlangenköpfe bewegen, enthüllt sie sich als Göttin, wischt dunkles Blut aus ihrem Schoß auf seiner Stirne ab und macht, daß ihm schwarz vor Augen wird. Die Verwandlung eines Schneidermädchens in eine strahlende Göttin entspricht der unmerklichen Verwandlung einer realistischen Szene in ein mythisches Bild. Wofür man den Begriff "Apotheose" hat, wird auf zehn Seiten nicht behauptet, sondern vorgeführt.
Vor jenen Furien wäre Mosebach allein schon durch sein Temperament gewappnet, das genuin humoristisch ist. Man darf sich vom begeisterungsfähigen Erzähler nicht darüber täuschen lassen: "Das Beben" steckt voll vielfältiger objektiver Ironie. Dieser Ironie entkommt keine Figur und schon gar keine Meinungsäußerung. Der König mag ein Symbol des überzeitlich Heiligen sein, aber er ist selbstgerecht, hat keinen Funken Humor und deutet sogar Erdbeben als Ausflüsse der Demokratie. Die nach Freiheit gierende Frau, die ihn in die Knie zwingt, kehrt am Ende zu ihrem monströsen Kunst-Gaukler zurück. Alle Pläne sind Rauch. Jede Bewegung nach außen mündet nach kleinen Beben und Turbulenzen ins alte Innere zurück. Nicht einmal die Frankfurter Wohnung wird zu Ende renoviert.
Die rhetorische Grundfigur dieses Buches ist nicht zufällig die Antiklimax. Man könnte einen Essay allein über Mosebachs Kunst der Kapitelenden schreiben. Wenn es jeden Autor in den Fingern juckt, am Schluß etwas Weihrauch ins Feuer zu werfen und dem letzten Satz Pathos und Aplomb zu geben, so übt sich Mosebach in Hiseinis-gleicher Selbstbeherrschung. Bei ihm dreht sich das Finale lakonisch zur Seite. Von dieser leisen, eleganten Lakonik geht etwas aus, zu dem nur wenige Schriftsteller in der Lage sind.
Aufs Ganze übertragen, hätte dem Roman sogar noch mehr Lakonik genützt. Im Mittelteil hätte man dem Autor ein paar Striche gerne verziehen und mit einem Palastflügel weniger vorliebgenommen. Verglichen mit dem "Nebelfürst", Mosebachs furiosem Buffo-Roman über einen Hochstapler zur Kaiserzeit, ist "Das Beben" womöglich nicht ganz rund. Aber ein so eigenwilliges und solitäres Buch kann nicht ohne eigene Schwächen sein. Eine kleine liegt vielleicht auch darin, daß der Erzähler als Planer von Luxushotels doch etwas zu viel Kunstsinn, Philosophie und Literatur im Leibe hat. Es ist ein Problem vieler Romane, deren Helden nicht gleich Schriftsteller sind: Sie wissen mehr, als sie wissen dürften; und es wäre schade darum, wenn sie es nicht wüßten. Ein anderes Problem liegt in der Konstruktion. Die zwei Teile des Romans, der deutsche und der indische, sind fachmännisch mit Nut und Feder verzahnt, aber es bleiben zwei Teile.
Was nicht heißen soll, daß Mosebach seine Motive nicht ganz genau im Auge behält. Im Gegenteil ist er ein ausgefuchster Weber und Kompositeur. Wie er eine Liebesgeschichte abbricht und, um einen Kontinent versetzt, mit dem Anblick der heiligen Kuh wieder anheben läßt - darauf mußte man kommen. Viel wichtiger ist freilich etwas anderes. Nietzsche wußte es noch und bekannte es in einer Mischung aus Klage und Stolz: Wie schwierig es sei, eine Seite vollkommener Prosa zu schreiben. Martin Mosebach ist einer der wenigen Autoren, der noch einen Begriff von dieser Schwierigkeit hat. Ein falsches Wort, und die Seite ist verkleckst, eine Alliteration zuviel, und der Stil schlägt um in die Manier, ein schiefes Bild, und das Kapitel kippt.
Und das ist noch der einfache Teil. Die eigentliche Schwarze Kunst liegt in etwas kaum Nachweisbarem, dem Sinn für Rhythmus und Klang. Der Rhythmus in der Prosa ist noch schwieriger zu meistern als in der Lyrik. Wenn man ihn bemerkt, leiert er schon und der Autor hat schon verloren. Der Rhythmus muß sich wie der Meeresgott immerzu verwandeln und den Satzwellen anschmiegen. Mosebachs proteische Prosa ist perfekt rhythmisiert, wie man beim lauten Vorlesen überprüfen kann. Sie ist nah am Gesprochenen, wunderbar klar und frei von dem Grauschleier, der durch die Verwendung des naheliegenden Fremdworts, der kurrenten Wendung entsteht. Diesem Autor fallen auf jeder Seite drei Details ein, um die man ihn ehrlich beneidet. Aber ebenso wichtig ist, was er unterläßt. Stil ist beides, Fülle und Vermeidung. Je größer der Stilist, desto länger seine innere Liste des Verbotenen. Mosebachs unsichtbare Liste hat man sich wie ein Leporello vorzustellen. Seine Prosa, frei von Jargon, farbig funkelnd, klangschön, wissensprall und voller Witz, schreibt ihm heute niemand nach. Um den Zeitgeist hat er sich nie geschert, aber daß Mosebachs Zeit kommen wird, ist eine so wenig gewagte Prophezeiung wie die, daß in der Kirche irgendwann ein Amen fällt.
Martin Mosebach: "Das Beben". Roman. Hanser Verlag, München 2005. 412 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "eigenwillig solitäres" unvergessliches Buch feiert Rezensent Michael Maar Martin Mosebachs neues Werk. Allein schon Mosebachs "Kunst der Kapitelenden" könnte aus Sicht des Rezensenten ein dankbares Essay-Thema sein. Beeindruckt schildert Maar außerdem Passagen, die er "mythisch" und doch "in jedem Grashalm wirklichkeitszitternd" findet. Kurz: Mosebachs Prosa ist aus Sicht des Rezensenten so formvollendet, wissend und auch witzig, dass sie den den Autor als literarische Ausnahmeerscheinung auszeichnet. Der Roman ist Maar zufolge in drei Teile eingeteilt. Teil eins, für den Rezensenten ein Höhepunkt des Mosebachschen Werks überhaupt und beinahe eine eigene Novelle, spiele im allerdings nicht erwähnten Frankfurt und schildere die unglückliche Liebesgeschichte seines Helden. Die beiden folgenden Teile spielten in Indien, wohin der Held wegen Beruf und Liebesschmerz geflohen sei. Mit großer Fabulierlust und Freude an Handlung und Figuren streift der Rezensent durch das Erzählgebäude des Romans und verleiht Mosebachs vollkommener, rhythmischer Prosa am Ende das ehrenvolle Etikett "Schwarze Kunst".
© Perlentaucher Medien GmbH
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