Sexualität ist mehr als nur Sex - es geht um Rollenzuschreibungen, Regeln und Rechte. Also wie frei, gleichberechtigt und sexuell selbstbestimmt sind Frauen im 21. Jahrhundert? Hat weibliche Sexualität sich emanzipiert oder lediglich maskulinisiert? Und wie viel wissen Frauen wirklich über ihre eigene sexuelle Identität? Was ist "normal", und wer bestimmt das?
Um diese Fragen zu beantworten, stellt Sandra Konrad die Geschichte weiblicher Sexualität dar und entlarvt bis heute wirksame Geschlechterklischees. Dabei verbindet sie psychohistorische Erkenntnisse mit aktuellen Forschungsergebnissen aus der Sexualwissenschaft und zahlreichen Interviews mit jungen Frauen, die zeigen, wie unbewusste Rollenvorgaben auch heute noch das Geschehen im Schlafzimmer prägen.
Um diese Fragen zu beantworten, stellt Sandra Konrad die Geschichte weiblicher Sexualität dar und entlarvt bis heute wirksame Geschlechterklischees. Dabei verbindet sie psychohistorische Erkenntnisse mit aktuellen Forschungsergebnissen aus der Sexualwissenschaft und zahlreichen Interviews mit jungen Frauen, die zeigen, wie unbewusste Rollenvorgaben auch heute noch das Geschehen im Schlafzimmer prägen.
buecher-magazin.deDie Geschichte der weiblichen Sexualität ist vor allem eins: eine Geschichte der Scham und der Angst. Sandra Konrad leuchtet jede noch so dunkle Ecke des Komplexes aus und kommt am Ende damit dem Anspruch eines neuen Standardwerkes sehr nah. Vor allem zeigt sie, ausgehend vom gewollt provokanten Titel, sehr eindringlich, wie weit unsere Welt von Aufklärung und Lockerheit entfernt ist. Sie enttarnt all die kleinen Fallen und unterschwelligen Sexismen, die im Verhältnis zwischen Männern und Frauen immer noch eine viel zu große Rolle spielen. Dabei schafft die Autorin es, der Versuchung eines vorwurfsvollen Tons zu widerstehen. Konrad hält sich an die Wissenschaft, beschreibt viel, wertet wenig, wenngleich solch ein Buch insgesamt nicht wertungsfrei bleiben kann. Immer wieder spürt man, wie sehr auch heute noch die weibliche Sexualität eine Art Kampfplatz darstellt, auf dem Männer die Deutungshoheit behalten wollen. Die Autorin streitet durchaus spürbar für die Sache der Frauen, doch immer mit guten Argumenten und ohne eine automatische pauschale Abwertung des Mannes. Dadurch ist ein mit Gewinn zu lesendes Buch entstanden, das bei genauer Lektüre weiblichen Lesern Aufklärung und Entlastung sowie männlichen Lesern Aufklärung und eine Schärfung des Blicks zu bieten hat.
© BÜCHERmagazin, Carsten Tergast (ct)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2018Frauen gehören erst dem Vater, dann dem Mann?
Einst tugendhaft, dann frigide, jetzt funktionsgestört: Sandra Konrads kenntnisreiche Geschichte der weiblichen Sexualität neigt zu steilen Behauptungen
Dieses Buch dürfte jetzt schon eines der am meisten missverstandenen Werke des Jahres sein. Und es war ein Missverständnis mit Vorsatz: "Warum sie will, was er will", lautet der Untertitel, und auch der Klappentext insinuiert, dass die weibliche Sexualität von männlichen Vorstellungen diktiert wird. Da stellen sich sofort ein paar methodische Fragen: Wie will man herausfinden, was die unverfälschten weiblichen Vorstellungen sind, wenn doch alle Frauen mit Männern aufgewachsen sind? Und verläuft die Grenze der Vorstellung davon, wie guter Sex auszusehen hat, wirklich trennscharf zwischen Männern und Frauen?
Die Autorin Sandra Konrad ist Diplom-Psychologin und hat in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben mehr als siebzig Frauen zwischen achtzehn und fünfundvierzig Jahren über ihre Sexualität befragt. Einige ihrer Schilderungen haben Eingang ins Buch gefunden, und auch das wirkt heikel: Konrad zitiert immer das, was gerade zu ihren Thesen passt. Oder basieren die Thesen wirklich auf den Aussagen der Frauen? Es ist schwer nachzuvollziehen, und genau darin liegt das Problem einer qualitativen Befragung: Man darf danach auf keinen Fall von "den Frauen" sprechen. Nicht einmal von "den meisten Frauen". Eine quantitative Erhebung hätte es immerhin erlaubt, von "zwei Dritteln der befragten Frauen" zu sprechen - eine solche Untermauerung hätte einigen der steilen Thesen gutgetan.
Doch tatsächlich ist die Kernaussage nicht das Wesentliche an Sandra Konrads Buch; eher wirkt sie wie nachträglich aufgepropft. Die Autorin beschreibt nämlich zunächst kenntnisreich die Geschichte der weiblichen Sexualität in den letzten Jahrhunderten mit all ihren sonderbaren Widersprüchen: Erst galten sexuell desinteressierte Frauen, die nicht zum Orgasmus kamen, als tugendhaft, dann als frigide und dann als funktionsgestört.
In England wurden bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts Klitorisentfernungen durchgeführt, wenn eine Frau über Symptome klagte wie "Müdigkeit, Unruhe, unterschiedliche Gefühle, Schmerzen, trockene Haut, zitternde Augenlider (...). Würden diese Symptome nicht behandelt, könnten sie zu ernsteren Folgen wie Katalepsie, Epilepsie, Schwachsinn oder Wahnsinn führen." In Kontinentaleuropa wiederum rettete der Irrglaube, zur Empfängnis sei der weibliche Orgasmus vonnöten, die Frauen vor solchen Verstümmelungen - nicht aber vor der permanenten Abwertung ihrer Geschlechtsorgane.
Freud schrieb über die Frau im Stand der Ehe: "Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt." Davor war sie minderwertig, aber danach notwendig, um der Pflicht des ehelichen Beischlafes nachzukommen. Auch dazu hat Konrad ein wissenswertes Detail aufgetan: 1967 beschloss der BGH, die Frau müsse Anteilnahme am Geschlechtsverkehr zeigen. "Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen läßt." Die Ehe verbiete es, "Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen". Dient all das zum Beleg der Kernthese des Buches? Nicht unbedingt, aber das ist nicht wichtig, denn dieser Ritt durch die Geschichte steht für sich.
Zurück in die Gegenwart: Mehrere befragte Frauen erzählten in den Gesprächen, dass beim Sex nicht ihre eigene Lust, sondern die Bewertung ihrer Performance durch den Partner im Vordergrund stehe. Das gelte allerdings nicht in längeren Beziehungen, relativiert die Autorin später, denn dort würden sexuelle Erwartungen und Kränkungen eher geäußert. Prompt versteigt sie sich zum Umkehrschluss, eine rein sexuelle Affäre würde den Frauen meist weder Intimität noch Befriedigung versprechen - eine unzulässige Folgerung, und selbst als Behauptung doch einigermaßen steil.
Bei Pornographie und Prostitution, denen Sandra Konrad eigene Kapitel widmet, ist es immerhin unbestreitbar, dass die männliche Perspektive maßgeblich ist. Doch auch hier geht die Autorin einen Schritt zu weit, indem sie eigentlich allen Prostituierten das Vermögen abspricht, ihren Job kritisch zu hinterfragen, weil sie "ihre Gefühle und Körperwahrnehmungen abspalten, um psychisch überleben zu können". Das mag für einige gelten, womöglich sogar für viele, aber es zeugt nicht von Respekt, es allen zuzuschreiben.
Ein paar kluge Punkte kann Konrad trotzdem setzen. Etwa mit ihrem Verweis auf die amerikanischen Purity-Bälle, bei denen jungfräuliche Töchter ihren Vätern Treue und Gehorsam bis zur Ehe versprechen - kein Massenphänomen, aber doch viel mehr als eine gesellschaftliche Randerscheinung. "Das weibliche Geschlecht gehört dem männlichen - erst dem Vater, dann dem Mann", schreibt Konrad über diese Familien.
Und sie liefert eine gute Erklärung, warum manche Männer so empfindlich reagieren, wenn sie auf patriarchale Gesellschaftsstrukturen aufmerksam gemacht werden: "Wer die Macht hat, ohne sie an sich gerissen zu haben, möchte nicht dafür kritisiert werden." Das macht die Lektüre tatsächlich sehr angenehm: Konrad kritisiert weder Männer noch Frauen, sie konstatiert nur - wenn auch manchmal zu schnell.
JULIA BÄHR
Sandra Konrad: "Das
beherrschte Geschlecht". Warum sie will, was er will.
Piper Verlag, München 2018. 382 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einst tugendhaft, dann frigide, jetzt funktionsgestört: Sandra Konrads kenntnisreiche Geschichte der weiblichen Sexualität neigt zu steilen Behauptungen
Dieses Buch dürfte jetzt schon eines der am meisten missverstandenen Werke des Jahres sein. Und es war ein Missverständnis mit Vorsatz: "Warum sie will, was er will", lautet der Untertitel, und auch der Klappentext insinuiert, dass die weibliche Sexualität von männlichen Vorstellungen diktiert wird. Da stellen sich sofort ein paar methodische Fragen: Wie will man herausfinden, was die unverfälschten weiblichen Vorstellungen sind, wenn doch alle Frauen mit Männern aufgewachsen sind? Und verläuft die Grenze der Vorstellung davon, wie guter Sex auszusehen hat, wirklich trennscharf zwischen Männern und Frauen?
Die Autorin Sandra Konrad ist Diplom-Psychologin und hat in den vergangenen Jahren nach eigenen Angaben mehr als siebzig Frauen zwischen achtzehn und fünfundvierzig Jahren über ihre Sexualität befragt. Einige ihrer Schilderungen haben Eingang ins Buch gefunden, und auch das wirkt heikel: Konrad zitiert immer das, was gerade zu ihren Thesen passt. Oder basieren die Thesen wirklich auf den Aussagen der Frauen? Es ist schwer nachzuvollziehen, und genau darin liegt das Problem einer qualitativen Befragung: Man darf danach auf keinen Fall von "den Frauen" sprechen. Nicht einmal von "den meisten Frauen". Eine quantitative Erhebung hätte es immerhin erlaubt, von "zwei Dritteln der befragten Frauen" zu sprechen - eine solche Untermauerung hätte einigen der steilen Thesen gutgetan.
Doch tatsächlich ist die Kernaussage nicht das Wesentliche an Sandra Konrads Buch; eher wirkt sie wie nachträglich aufgepropft. Die Autorin beschreibt nämlich zunächst kenntnisreich die Geschichte der weiblichen Sexualität in den letzten Jahrhunderten mit all ihren sonderbaren Widersprüchen: Erst galten sexuell desinteressierte Frauen, die nicht zum Orgasmus kamen, als tugendhaft, dann als frigide und dann als funktionsgestört.
In England wurden bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts Klitorisentfernungen durchgeführt, wenn eine Frau über Symptome klagte wie "Müdigkeit, Unruhe, unterschiedliche Gefühle, Schmerzen, trockene Haut, zitternde Augenlider (...). Würden diese Symptome nicht behandelt, könnten sie zu ernsteren Folgen wie Katalepsie, Epilepsie, Schwachsinn oder Wahnsinn führen." In Kontinentaleuropa wiederum rettete der Irrglaube, zur Empfängnis sei der weibliche Orgasmus vonnöten, die Frauen vor solchen Verstümmelungen - nicht aber vor der permanenten Abwertung ihrer Geschlechtsorgane.
Freud schrieb über die Frau im Stand der Ehe: "Die Vagina wird nun als Herberge des Penis geschätzt." Davor war sie minderwertig, aber danach notwendig, um der Pflicht des ehelichen Beischlafes nachzukommen. Auch dazu hat Konrad ein wissenswertes Detail aufgetan: 1967 beschloss der BGH, die Frau müsse Anteilnahme am Geschlechtsverkehr zeigen. "Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen läßt." Die Ehe verbiete es, "Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen". Dient all das zum Beleg der Kernthese des Buches? Nicht unbedingt, aber das ist nicht wichtig, denn dieser Ritt durch die Geschichte steht für sich.
Zurück in die Gegenwart: Mehrere befragte Frauen erzählten in den Gesprächen, dass beim Sex nicht ihre eigene Lust, sondern die Bewertung ihrer Performance durch den Partner im Vordergrund stehe. Das gelte allerdings nicht in längeren Beziehungen, relativiert die Autorin später, denn dort würden sexuelle Erwartungen und Kränkungen eher geäußert. Prompt versteigt sie sich zum Umkehrschluss, eine rein sexuelle Affäre würde den Frauen meist weder Intimität noch Befriedigung versprechen - eine unzulässige Folgerung, und selbst als Behauptung doch einigermaßen steil.
Bei Pornographie und Prostitution, denen Sandra Konrad eigene Kapitel widmet, ist es immerhin unbestreitbar, dass die männliche Perspektive maßgeblich ist. Doch auch hier geht die Autorin einen Schritt zu weit, indem sie eigentlich allen Prostituierten das Vermögen abspricht, ihren Job kritisch zu hinterfragen, weil sie "ihre Gefühle und Körperwahrnehmungen abspalten, um psychisch überleben zu können". Das mag für einige gelten, womöglich sogar für viele, aber es zeugt nicht von Respekt, es allen zuzuschreiben.
Ein paar kluge Punkte kann Konrad trotzdem setzen. Etwa mit ihrem Verweis auf die amerikanischen Purity-Bälle, bei denen jungfräuliche Töchter ihren Vätern Treue und Gehorsam bis zur Ehe versprechen - kein Massenphänomen, aber doch viel mehr als eine gesellschaftliche Randerscheinung. "Das weibliche Geschlecht gehört dem männlichen - erst dem Vater, dann dem Mann", schreibt Konrad über diese Familien.
Und sie liefert eine gute Erklärung, warum manche Männer so empfindlich reagieren, wenn sie auf patriarchale Gesellschaftsstrukturen aufmerksam gemacht werden: "Wer die Macht hat, ohne sie an sich gerissen zu haben, möchte nicht dafür kritisiert werden." Das macht die Lektüre tatsächlich sehr angenehm: Konrad kritisiert weder Männer noch Frauen, sie konstatiert nur - wenn auch manchmal zu schnell.
JULIA BÄHR
Sandra Konrad: "Das
beherrschte Geschlecht". Warum sie will, was er will.
Piper Verlag, München 2018. 382 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die Hamburger Psychologin und Sexualtherapeutin Sandra Konrad (...) entlarvt in ihrem Buch 'Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will' anhand der Geschichte weiblicher Sexualität die bis heute wirksamen Geschlechterklischees.", Deutschlandfunk Kultur "Lesart", 03.02.2018