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Die Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht ist - was die Zahl der Opfer und die Permanenz des Schreckens betrifft - die größte Katastrophe, die eine Stadt im Zweiten Weltkrieg erlitt. Nahezu 900 Tage lang - vom 7. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 - war die Metropole an der Newa eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschnitten. Als Folge dieser Blockade starben rund eine Million Menschen, die weitaus meisten durch Hunger und Mangelkrankheiten. Zum ersten Mal in der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs werden die deutsche und die sowjetische Perspektive in einem Buch vereint.…mehr

Produktbeschreibung
Die Belagerung Leningrads durch die Wehrmacht ist - was die Zahl der Opfer und die Permanenz des Schreckens betrifft - die größte Katastrophe, die eine Stadt im Zweiten Weltkrieg erlitt. Nahezu 900 Tage lang - vom 7. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 - war die Metropole an der Newa eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschnitten. Als Folge dieser Blockade starben rund eine Million Menschen, die weitaus meisten durch Hunger und Mangelkrankheiten. Zum ersten Mal in der Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs werden die deutsche und die sowjetische Perspektive in einem Buch vereint. Der Autor stellt die Belagerung in den Kontext der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und beschreibt auf der Grundlage neuer Dokumente aus russischen Archiven die Reaktionen von Stalins Regime auf die existentiellen Herausforderungen der Blockade. Neben den erstaunlichen Leistungen, zu denen die sowjetische Diktatur im Krieg imstande war, finden auch die Versäumnisse und Mißerfolge der Verteidiger Leningrads in dieser differenzierten und packenden Darstellung ihren Platz. Das Buch revidiert gängige deutsche und sowjetische Geschichtsbilder gleichermaßen. So weist der Autor nach, daß die deutsche Belagerungsstrategie nicht dem militärstrategischen Kalkül entsprang, die Stadt einzunehmen. Die Annahme einer Kapitulation wurde von Hitler vielmehr kategorisch ausgeschlossen, da er das Ziel verfolgte, Leningrad und seine Einwohner vollständig zu vernichten. Auf der anderen Seite bricht die Darstellung mit dem sowjetischen Heldenmythos, der bisher auch die westliche Sichtweise stark geprägt hat. Eine Untersuchung der Rüstungsproduktion in der belagerten Stadt verweist das Bild der waffenproduzierenden Frontstadt in das Reich der Fabeln. Die fortgesetzte Verfolgung der Leningrader Bevölkerung durch den sowjetischen Geheimdienst relativiert die gängige Vorstellung vom 'Großen Vaterländischen Krieg' als einer Atempause zwischen den Wellen des stalinistischen Terrors. Und eine ungeschminkte Schilderung des Blockadealltags rückt vom Mythos einer in der Not zusammenhaltenden Solidargemeinschaft ab. Das Buch erschöpft sich aber nicht im Aufbrechen eines dogmatischen Geschichtsbildes. Im Schlußkapitel erklärt der Autor, wie der Heldenkult um die Blockade Leningrads entstand und warum sich die sowjetischen Formen der Kriegserinnerung in Rußland bis heute kaum verändert haben.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Jörg Ganzenmüller, Dr. phil., geb. 1969, ist Wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2006

Stalinismus ohne Stalin
Die Belagerung Leningrads in den Strategien Moskaus und Berlins

An die 900 Tage, vom 7. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, wurde Leningrad belagert. Etwa eine Million Einwohner fanden in dieser Zeit den Tod, die meisten verhungerten oder starben an Folgen des Hungers. Die zweite Metropole der Sowjetunion wurde in der schlimmsten Zeit der Belagerung zu einer hunde- und katzenfreien Stadt, Kannibalismus kam vor. Vergleichbares mußte keine andere Stadt im Zweiten Weltkrieg überstehen. Dennoch stand der Kampf um Leningrad, der so eigentlich keiner war, in Deutschland wie auch in der Sowjetunion und später in Rußland stets im Schatten Stalingrads. Auch deshalb konnte sich die irrige Annahme halten, die Deutschen seien vor der Stadt Peters des Großen am militärischen Widerstand der Verteidiger gescheitert.

Leningrad sollte, wie Jörg Ganzenmüller jetzt anhand von entsprechenden Befehlen, Äußerungen Hitlers oder auch Goebbelsscher Tagebucheinträge noch einmal belegt, nicht erobert, sondern ausgehungert, seine Bevölkerung ausgerottet werden: "Während die Blockade in der Sowjetunion und in der DDR zu einem herausragenden Heldenepos des Zweiten Weltkriegs verklärt wurde, erfuhr sie in der Bundesrepublik eine Marginalisierung zu einer gewöhnlichen Militäroperation, die sich durch keinerlei besondere Kennzeichen von anderen Schlachten des Krieges abhob. Bei allen Unterschieden haben diese beiden Narrative jedoch eines gemeinsam: Sie blenden beharrlich aus, daß die deutsche Strategie vor Leningrad schon bald nicht mehr darauf abzielte, die Stadt zu erobern. Als Genozid an den Leningradern wurde die Geschichte von keiner Seite erzählt."

Das unternimmt Ganzenmüller, in dessen Buch von einer "einmaligen Strategie in der Weltgeschichte" die Rede ist: "Die Belagerung einer Stadt oder Festung, die nicht auf Eroberung aus war. Selbst für den Zweiten Weltkrieg mit seiner beispiellosen Grausamkeit stellte dieses Vorgehen eine Besonderheit dar." Um die Aushungerung vorzubereiten, beschoß die Wehrmacht ab Ende Oktober 1941 Getreidespeicher, Brotfabriken, Schlachthöfe und Kühlhäuser Leningrads. Geplant war eine Aushungerung im Winter 1941/42, um dann im folgenden Frühjahr einrücken und die Stadt zerstören zu können. Es war ausgerechnet die sowjetische Propaganda, die für dieses Kriegsverbrechen der deutschen Belagerer moralische Entlastung bot. Hätte Moskau zugegeben, daß die deutschen Truppen Leningrad nicht erobern, sondern aushungern sollten, wäre die Schuld angesichts der ausgebliebenen Befreiung der Stadt auf die Sowjetführung zurückgefallen. Der Kreml brauchte also den Widerstandsmythos Leningrad, das Bild eines militärischen Kräftemessens, bei dem die Verteidiger den Angreifern standhielten. Ganzenmüller untersucht aber nicht allein den "Genozid an den Leningradern" als "Sonderfall in der Weltgeschichte". Er geht auch der Frage nach, wie der Stalinismus in Leningrad weiter funktionieren konnte, obwohl Moskau in der frühen Phase der Blockade zeitweilig keinen direkten Zugriff auf die abgeschlossene Stadt hatte. Die Annahme, der Schrecken des NKWD-Terrors müßte in dieser Zeit von den Leningradern gewichen sein, liegt schließlich nahe. Einige Berichte von Blockadeüberlebenden, die seit den achtziger Jahren unter Gorbatschow in der Sowjetunion erscheinen konnten und ein Gegenbild zum staatlichen Monopol auf die Erinnerung bildeten, scheinen sie zu bestätigen. Die Aussage, man sei zu schwach gewesen, um noch Angst zu haben, zieht sich durch viele Texte dieser Dystrophie-Literatur.

Im ersten Hungerwinter verfiel die Stadt in einen Todesschlaf, es standen nur noch 200 Arbeiter von einst 30 000 an den Werkbänken der Kirow-Werke. Andere waren an der Front, verhungert oder zu schwach, um ihre Betten zu verlassen. Die Versorgung mit Strom und Wasser brach zusammen, laut sowjetischen Quellen kollabierte vorübergehend das städtische Postwesen, weil alle Beamten der Leningrader Postzentrale verhungert waren. Ganzenmüller zeigt, daß sich der Staatsterror während dieser Zeit tatsächlich etwas lockerte, lockern mußte. So litt sogar der NKWD unter einem Mangel an Mitarbeitern, weil viele die Stadt verlassen hatten. In seiner räumlichen Trennung vom Hinterland habe das belagerte Leningrad eine relative Unabhängigkeit entwickeln können: "Die Verbindungen zwischen den Fabriken und den zuständigen Volkskommissariaten in Moskau waren bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn schwächer geworden und brachen nach der Schließung des Belagerungsrings größtenteils ab." Jedoch weist Ganzenmüller nach, daß diese kriegsbedingte Selbständigkeit nicht mit politischer Eigenständigkeit zu verwechseln ist. In Leningrad habe der anfängliche Kollaps des Systems nach dem deutschen Angriff 1941 nämlich keinen Bruch in der Geschichte des Stalinismus dargestellt. Der Autor macht deutlich, daß es sich vielmehr um eine Fortsetzung des Stalinismus unter anderen Bedingungen handelte. Die Abgeschiedenheit der Blockade schuf den lokalen Befehlshabern zwar Spielräume, die sie mitunter zu eigenständigen Handlungen nutzten, aber Leningrad blieb eine Insel des Stalinismus im besetzten Gebiet. Dieser funktionierte ohne Stalin weiter, gestützt auf Leningrader und russischen Patriotismus.

Zudem war der Kontakt nie ganz abgebrochen. Die Telefonverbindung zum Kreml funktionierte, der Leningrader Parteiführer Schdanow flog während der Blockade mehrmals aus dem Belagerungsring zum Rapport nach Moskau. Auch der Leningrader NKWD berichtete weiter an seinen Moskauer Chef Berija, und Stalin schickte bald eigene Kräfte in den Belagerungsring, so den späteren Politbüro-Angehörigen Kossygin, der den Abtransport der Bevölkerung zu organisieren hatte, weil nach den "kriegswichtigen" auch andere Zivilisten die Stadt verlassen durften.

Als Leningrad im Frühjahr 1942 aus seiner Todesstarre erwachte und sich die Versorgungslage im Zuge der allgemeinen militärischen Wende bald etwas besserte, zog das Regime die Umklammerung wieder enger. Noch während der Belagerung der Stadt begann deren politische Instrumentalisierung. Die Leningrader Parteiführung gab - als noch deutsche Soldaten vor der Stadt standen - die Herstellung von zwei Millionen Ehrenmedaillen für die Verteidiger in Auftrag. Die fehlenden Rohstoffe wurden aus Moskau angefordert.

Noch während des Zweiten Weltkrieges, im April 1944, wurde ein Blockademuseum eröffnet. Zu Lebzeiten Stalins freilich durfte ein stalinfreier Leningrad-Mythos nicht entstehen. Durch die spätstalinistische Terrorkampagne gegen die Parteielite an der Newa - die "Leningrader Affäre" von 1949 - wurden die lokalen Führer in der Stadt der Oktoberrevolution ausgeschaltet. Das Blockademuseum wurde geschlossen, sein Direktor verhaftet. Erst unter Chruschtschow fand das öffentliche Gedenken wieder statt, nun ganz ohne Stalin. Es begann die Suche nach einer brauchbaren Vergangenheit für eine Stadt, von der ihr Literaturnobelpreisträger Brodsky schrieb, sie sei schon 1917 in stummer Verblüffung über die heraufziehende Epoche erstarrt.

MICHAEL MARTENS

Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941-1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2005. 412 S., 38,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Hans-Martin Lohmann von der sorgfältigen und umfangreichen Studie des Militärhistorikers Jörg Ganzenmüller. Angesichts der Tragik und Dauer der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehmacht sei es merkwürdig, dass eine kritische Aufarbeitung der Ereignisse bisher ein Schattendasein in der deutschen Erinnerungskultur geführt habe, analysiert der Rezensent. Da Ganzenmüller auch Einblick in sowjetische Archive erhielt, sei erstmals ein vergleichender Blick möglich, der beweise, dass sowohl Stalin als auch Hilter Leningrad zum Nebenschauplatz im Krieg um Stalingrad und Moskau degradierten. In der Folge war Leningrad einem doppelten, sowohl deutschen als auch sowjetischen "Vernichtungskalkül" ausgeliefert, was die Ernährung der Bevölkerung betraf, die vorsätzlich und selektiv ausgehungert wurde. Außerdem räume Ganzenmüller mit der Legende auf, der Krieg habe die stalinistische Verfolgung außer Kraft gesetzt. Dass der Autor neben der Auswertung zahlreicher Quellen auch das Leiden der Bevölkerung nicht aus den Augen verliere, hebt für den Rezensenten die Qualität des Buches.

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