Fünf Jahrzehnte konnte niemand das Berliner Schloss leiden. Voltaire, Friedrich der Große und die meisten anderen Schlossbewohner wollten ihm lieber entkommen denn es bewohnen. Dieter Hildebrandt stellt die Frage an uns Zeitgenossen: Warum wollen wir partout zurück in dieses Schloss, das tausend Zimmer, aber keine Seele hatte? Hatten nicht die Berliner schon 1448 ein besseres Gespür für Architektur, als sie den ersten Burgbau durch eine Wasserflut zu verhindern wussten? Dem Hype um die Rekonstruktion in der Mitte Berlins setzt Dieter Hildebrandt einen verblüffenden Rückbau entgegen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2011Geschichten aus dem Geisterhaus
Keine Gnade für den bürgerfeindlichen Klotz der Hohenzollern! Dieter Hildebrandt hat die schönste aller Polemiken gegen den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses geschrieben.
Was für ein wunderbares Buch! Eine Schatzkammer von Anekdoten, Episoden, Histörchen, ein ungehemmt fließender Strom der Gelehrsamkeit, eine Weltgeschichte im Plauderton. Und das Wunderbarste daran: wie dieses Buch, je länger man in ihm liest, ein Eigenleben, einen eigenen Willen entwickelt. Es denkt gar nicht daran, seinem Autor in die Richtung zu folgen, in die er es zwingen will. Stattdessen lässt es sich von seinem Thema bezirzen und bezaubern, so wie es den Leser bezaubert und bezirzt; es taucht mit ihm in die Tiefe seines Gegenstands und findet darin eine Welt. Und der Autor selbst? Auch er kann sich der Faszination, die er doch brechen wollte, nicht völlig entziehen. Er hat seine Feder gespitzt, um zu sticheln, zu verletzen, mit Worten zu töten; am Ende aber ist es fast eine Hommage geworden. Die Handschrift eines Meisters trägt sie allemal.
Dieter Hildebrandt, der Autor bemerkenswerter historisch-biographischer Essays über Beethovens neunte Symphonie oder Schillers kluge Schwester Christophine, hat eine Streitschrift gegen das Berliner Schloss geschrieben. Das ist nicht neu, Polemiken gegen den Wiederaufbau, seine Initiatoren, Lobbyisten und künftigen Nutznießer gibt es viele; aber diese ist die beste. Sie ist die beste, weil sie die schönste ist. Und sie ist die schönste, weil sie, statt immer nur über das Schloss zu reden, das Schloss selbst reden lässt.
Es ist ein Haus voller Geschichten. Eine, die allererste, beispielsweise erzählt davon, wie die Hohenzollernresidenz, als sie noch gar nicht stand, von den Berlinern schon gehasst wurde, wie sie die Fundamente der Zwingburg, die auf Befehl des Kurfürsten Friedrich Eisenzahn in ihrer Stadt emporwuchs, mit Wassermassen aus der Spree wegzuschwemmen versuchten. Eine andere, knapp zweihundert Jahre jüngere, handelt von einem Preußenherrscher, der im Fieberwahn aus seinem eigenen Palast flieht, gejagt von jener "weißen Frau", von der niemand genau weiß, wer sie eigentlich ist - eine verirrte Magd, eine misshandelte Mätresse oder, wie Fontane später mutmaßte, das Hoffräulein Wangeline von Burgsdorff, die einen hohenzollerschen Erbprinzen vergiftet hat und von ihrem schlechten Gewissen durch die Flure getrieben wird.
Eine dritte, ziemlich traurige Geschichte schließlich erzählt von einer Prinzessin und ihrem Lieblingsbruder, die sich nach längerer Trennung auf der Hochzeit der Prinzessin wiedersehen: "Beim Näherkommen erkannte ich ihn, obschon mit Mühe: er war erstaunlich viel stärker geworden und kürzer am Hals; auch sein Gesicht war sehr verändert ... Er trug eine stolze Miene und schien auf jedermann herabzublicken." Es ist der in der Küstriner Festungshaft durch seinen Vater gedemütigte, zum Menschenhasser verhärtete Thronfolger Friedrich, aus dem kaum zehn Jahre später "der Große" werden wird - einer von vielen Bewohnern, Insassen, Opfern des Berliner Schlosses.
Das Grundmotiv, auf das Hildebrandt die gesamte Suite seiner Schloss-Episoden stimmt, ist das der Flucht. So gut wie jeder, von dem er erzählt, will weg aus dem "steinernen Labyrinth" mit seinen zuerst mittelalterlich-trutzigen, dann renaissancehaft-verschnörkelten, am Ende hochbarocken Mauern - vom brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. Nestor, der im Jahr 1524 vor der astrologisch angekündigten Sintflut auf den Tempelhofer Berg flüchtet, über Voltaire, dem die Gastfreundschaft des großen Friedrich in seinem Zimmerchen über der Spree zur unerträglichen Last wird, bis zum "Kartätschenprinzen" Wilhelm, dem späteren deutschen Kaiser, der sich im Revolutionsjahr 1848 im Zug nach Hamburg davonmacht, um nicht dem Zorn der Berliner Bürger anheimzufallen, die er hatte zusammenschießen lassen wollen. Das Hohenzollernschloss blieb ihm verleidet: Noch als regierender Monarch nahm Wilhelm die Wachparade lieber von seinem Arbeitszimmer im Palais Unter den Linden ab.
Worum es dem Autor bei diesen Schilderungen geht, ist klar: Er will seinen Lesern das Schloss gründlich madig machen. Wenn schon die Hohenzollern selbst den Kasten nicht mochten, um wie viel weniger braucht da die Berliner Republik ein solches "Denkmal der Nutzlosigkeit", eine "monumentale Gelegenheits-Absteige", die sich nur ein paar von "Nostal-Gier" zerfressene "Repliken-Republikaner" sehnlichst zurückwünschen? Ja, das müsste man sich tatsächlich fragen - wenn es sich so verhielte, wie der immer wieder hinter dem Erzähler Hildebrandt hervordrängende Schlosshasser Hildebrandt uns weismachen will.
Aber so ganz funktioniert der Indizienbeweis nicht, den der eine mit Hilfe des anderen anstrengt. Denn erstens kann auch dieses tief parteiische Buch nicht unterschlagen, dass es durchaus Preußenkönige gab, denen das Schloss am Herzen lag - etwa Friedrich Wilhelm II., der dessen Räume durch Erdmannsdorff verschönern, oder sein Enkel Friedrich Wilhelm IV., der dem Bau die Stülerkuppel aufsetzen ließ. Und zweitens steigert der Erzähler selbst mit jedem genaueren Blick, den er ins Innere des Gebäudes wirft, das Interesse des Lesers an dem nur scheinbar monolithischen, machtgetränkten, bürgerfeindlichen Klotz in der Mitte Berlins.
Die Privaträume des "Soldatenkönigs" etwa, die sein Thronerbe Friedrich der Große nach dem Tod des Vaters versiegeln ließ, bis sie von Würmern und Motten zerfressen waren: Gibt es ein sprechenderes Symbol der zerstörten, in Hass verkehrten Sohnesliebe? Oder der Weiße Saal, in dem drei Generationen von Hohenzollern ihre Architekturphantasien auslebten: Wo wäre ein besserer preußisch-deutscher Erinnerungsort? Das alles, versteht sich, wird es nie mehr geben, auch nicht im zukünftigen Humboldt-Forum auf dem Schlossplatz, aber es ist so lehrreich wie herzerquickend, bei Hildebrandt noch einmal davon zu lesen, auch und gerade dort, wo er über das, was hinter den Schlüterfassaden geschieht, nur den Kopf schütteln kann.
Es trifft sich, dass die Reihe der Hohenzollernherrscher mit Wilhelm II. abbricht, dem unreifsten und pathologischsten Vertreter der Dynastie. Für Hildebrandt, der die verbalen Entgleisungen Wilhelms mit schaudernder Akribie auflistet, ist das ein willkommener Anlass, vor der Wiederaufrichtung der "Topographie eines früheren Gewaltwahns" zu warnen, welcher "die Räume mit dem Wahnwitz seiner Worte kontaminierte". Wenn Kaiserworte zu Stein werden könnten wie die Zaubersprüche in "Harry Potter", dann müsste man sich tatsächlich vor dem neuen Berliner Schloss alias Humboldtforum fürchten. Aber in den Schlosskellern, die unter der Betondecke des einstigen Paradeplatzes der DDR zum Vorschein kamen, fand man nur die eingeritzten Spuren von Heizern und Mägden. Man muss also nicht jedes Wort dieses Buches, das fern von den Brachen und Bausünden Berlins an den sonnigen Hängen des Odenwalds entstanden ist, auf die Goldwaage legen. Ein Lesegenuss ist es trotzdem.
ANDREAS KILB.
Dieter Hildebrandt: "Das Berliner Schloss". Deutschlands leere Mitte.
Hanser Verlag, München 2011. 272 S., Abb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Keine Gnade für den bürgerfeindlichen Klotz der Hohenzollern! Dieter Hildebrandt hat die schönste aller Polemiken gegen den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses geschrieben.
Was für ein wunderbares Buch! Eine Schatzkammer von Anekdoten, Episoden, Histörchen, ein ungehemmt fließender Strom der Gelehrsamkeit, eine Weltgeschichte im Plauderton. Und das Wunderbarste daran: wie dieses Buch, je länger man in ihm liest, ein Eigenleben, einen eigenen Willen entwickelt. Es denkt gar nicht daran, seinem Autor in die Richtung zu folgen, in die er es zwingen will. Stattdessen lässt es sich von seinem Thema bezirzen und bezaubern, so wie es den Leser bezaubert und bezirzt; es taucht mit ihm in die Tiefe seines Gegenstands und findet darin eine Welt. Und der Autor selbst? Auch er kann sich der Faszination, die er doch brechen wollte, nicht völlig entziehen. Er hat seine Feder gespitzt, um zu sticheln, zu verletzen, mit Worten zu töten; am Ende aber ist es fast eine Hommage geworden. Die Handschrift eines Meisters trägt sie allemal.
Dieter Hildebrandt, der Autor bemerkenswerter historisch-biographischer Essays über Beethovens neunte Symphonie oder Schillers kluge Schwester Christophine, hat eine Streitschrift gegen das Berliner Schloss geschrieben. Das ist nicht neu, Polemiken gegen den Wiederaufbau, seine Initiatoren, Lobbyisten und künftigen Nutznießer gibt es viele; aber diese ist die beste. Sie ist die beste, weil sie die schönste ist. Und sie ist die schönste, weil sie, statt immer nur über das Schloss zu reden, das Schloss selbst reden lässt.
Es ist ein Haus voller Geschichten. Eine, die allererste, beispielsweise erzählt davon, wie die Hohenzollernresidenz, als sie noch gar nicht stand, von den Berlinern schon gehasst wurde, wie sie die Fundamente der Zwingburg, die auf Befehl des Kurfürsten Friedrich Eisenzahn in ihrer Stadt emporwuchs, mit Wassermassen aus der Spree wegzuschwemmen versuchten. Eine andere, knapp zweihundert Jahre jüngere, handelt von einem Preußenherrscher, der im Fieberwahn aus seinem eigenen Palast flieht, gejagt von jener "weißen Frau", von der niemand genau weiß, wer sie eigentlich ist - eine verirrte Magd, eine misshandelte Mätresse oder, wie Fontane später mutmaßte, das Hoffräulein Wangeline von Burgsdorff, die einen hohenzollerschen Erbprinzen vergiftet hat und von ihrem schlechten Gewissen durch die Flure getrieben wird.
Eine dritte, ziemlich traurige Geschichte schließlich erzählt von einer Prinzessin und ihrem Lieblingsbruder, die sich nach längerer Trennung auf der Hochzeit der Prinzessin wiedersehen: "Beim Näherkommen erkannte ich ihn, obschon mit Mühe: er war erstaunlich viel stärker geworden und kürzer am Hals; auch sein Gesicht war sehr verändert ... Er trug eine stolze Miene und schien auf jedermann herabzublicken." Es ist der in der Küstriner Festungshaft durch seinen Vater gedemütigte, zum Menschenhasser verhärtete Thronfolger Friedrich, aus dem kaum zehn Jahre später "der Große" werden wird - einer von vielen Bewohnern, Insassen, Opfern des Berliner Schlosses.
Das Grundmotiv, auf das Hildebrandt die gesamte Suite seiner Schloss-Episoden stimmt, ist das der Flucht. So gut wie jeder, von dem er erzählt, will weg aus dem "steinernen Labyrinth" mit seinen zuerst mittelalterlich-trutzigen, dann renaissancehaft-verschnörkelten, am Ende hochbarocken Mauern - vom brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. Nestor, der im Jahr 1524 vor der astrologisch angekündigten Sintflut auf den Tempelhofer Berg flüchtet, über Voltaire, dem die Gastfreundschaft des großen Friedrich in seinem Zimmerchen über der Spree zur unerträglichen Last wird, bis zum "Kartätschenprinzen" Wilhelm, dem späteren deutschen Kaiser, der sich im Revolutionsjahr 1848 im Zug nach Hamburg davonmacht, um nicht dem Zorn der Berliner Bürger anheimzufallen, die er hatte zusammenschießen lassen wollen. Das Hohenzollernschloss blieb ihm verleidet: Noch als regierender Monarch nahm Wilhelm die Wachparade lieber von seinem Arbeitszimmer im Palais Unter den Linden ab.
Worum es dem Autor bei diesen Schilderungen geht, ist klar: Er will seinen Lesern das Schloss gründlich madig machen. Wenn schon die Hohenzollern selbst den Kasten nicht mochten, um wie viel weniger braucht da die Berliner Republik ein solches "Denkmal der Nutzlosigkeit", eine "monumentale Gelegenheits-Absteige", die sich nur ein paar von "Nostal-Gier" zerfressene "Repliken-Republikaner" sehnlichst zurückwünschen? Ja, das müsste man sich tatsächlich fragen - wenn es sich so verhielte, wie der immer wieder hinter dem Erzähler Hildebrandt hervordrängende Schlosshasser Hildebrandt uns weismachen will.
Aber so ganz funktioniert der Indizienbeweis nicht, den der eine mit Hilfe des anderen anstrengt. Denn erstens kann auch dieses tief parteiische Buch nicht unterschlagen, dass es durchaus Preußenkönige gab, denen das Schloss am Herzen lag - etwa Friedrich Wilhelm II., der dessen Räume durch Erdmannsdorff verschönern, oder sein Enkel Friedrich Wilhelm IV., der dem Bau die Stülerkuppel aufsetzen ließ. Und zweitens steigert der Erzähler selbst mit jedem genaueren Blick, den er ins Innere des Gebäudes wirft, das Interesse des Lesers an dem nur scheinbar monolithischen, machtgetränkten, bürgerfeindlichen Klotz in der Mitte Berlins.
Die Privaträume des "Soldatenkönigs" etwa, die sein Thronerbe Friedrich der Große nach dem Tod des Vaters versiegeln ließ, bis sie von Würmern und Motten zerfressen waren: Gibt es ein sprechenderes Symbol der zerstörten, in Hass verkehrten Sohnesliebe? Oder der Weiße Saal, in dem drei Generationen von Hohenzollern ihre Architekturphantasien auslebten: Wo wäre ein besserer preußisch-deutscher Erinnerungsort? Das alles, versteht sich, wird es nie mehr geben, auch nicht im zukünftigen Humboldt-Forum auf dem Schlossplatz, aber es ist so lehrreich wie herzerquickend, bei Hildebrandt noch einmal davon zu lesen, auch und gerade dort, wo er über das, was hinter den Schlüterfassaden geschieht, nur den Kopf schütteln kann.
Es trifft sich, dass die Reihe der Hohenzollernherrscher mit Wilhelm II. abbricht, dem unreifsten und pathologischsten Vertreter der Dynastie. Für Hildebrandt, der die verbalen Entgleisungen Wilhelms mit schaudernder Akribie auflistet, ist das ein willkommener Anlass, vor der Wiederaufrichtung der "Topographie eines früheren Gewaltwahns" zu warnen, welcher "die Räume mit dem Wahnwitz seiner Worte kontaminierte". Wenn Kaiserworte zu Stein werden könnten wie die Zaubersprüche in "Harry Potter", dann müsste man sich tatsächlich vor dem neuen Berliner Schloss alias Humboldtforum fürchten. Aber in den Schlosskellern, die unter der Betondecke des einstigen Paradeplatzes der DDR zum Vorschein kamen, fand man nur die eingeritzten Spuren von Heizern und Mägden. Man muss also nicht jedes Wort dieses Buches, das fern von den Brachen und Bausünden Berlins an den sonnigen Hängen des Odenwalds entstanden ist, auf die Goldwaage legen. Ein Lesegenuss ist es trotzdem.
ANDREAS KILB.
Dieter Hildebrandt: "Das Berliner Schloss". Deutschlands leere Mitte.
Hanser Verlag, München 2011. 272 S., Abb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.01.2012Wozu der große Kasten?
Dieter Hildebrandt polemisiert so intelligent wie unterhaltsam gegen die Sehnsucht nach dem Berliner Schloss
Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, war begeistert, als sein Hofbildhauer Andreas Schlüter ihm 1698 aus eigenem Antrieb ein Schlossmodell präsentierte. Seit einiger Zeit schon suchte er nach einem Baumeister, der in der Lage wäre, seine Residenz, die gerade den Charakter eines Landstädtchens verlor, in ein zweites Rom zu verwandeln. Mit Schlüter, der einen römischen Palast auf den sumpfigen Grund zu wuchten versprach, der von Michelangelo und Bernini gelernt hatte, schien endlich der geeignete Mann gefunden. Der Kurfürst ernannte ihn zum Schlossbau-Direktor und trieb zur Eile. Als er knapp drei Jahre später aus Königsberg zurückkehrte, wo er sich die Krone eines „Königs in Preußen“ aufs Haupt gesetzt hatte, stand von der projektierten Pracht so viel, dass bald der Wunsch nach Mehr aufkam. Die Erweiterung des Berliner Schlosses nach Westen wurde angeordnet.
Glück hat der große Kasten mit den monumentalen Portalen weder dem Bauherren noch dem Baumeister gebracht. Friedrich residierte auf einer Baustelle, während seine Länder dem Ruin entgegenschlitterten, als zu den Kosten der Rangerhöhung, der Bauwut und des elend langen Spanischen Erbfolgekrieges eine Pestepidemie hinzukam. Schlüter musste mit ansehen, wie der Münzturm, der auf Befehl des Königs die kolossale Höhe von 120 Metern erreichen sollte, bald schon Risse im Mauerwerk zeigte, kein Versuch der Stabilisierung half. Um dem Einsturz zuvorzukommen musste der Turm wieder abgetragen werden, Schlüter erntete Spott und Hohn der professionellen Architekten und die Ungnade des Königs. Aus solch missglückten Anfängen wird selten Gutes.
Die meisten früheren Bewohner des Berliner Schlosses empfanden das Gemäuer als Ärgernis, dem sie mehr oder weniger rasch zu entkommen suchten. Die Geschichten dieser kleinen und großen Fluchten erzählt der stets pointiert formulierende Lessing-Biograph und Schiller-Kenner Dieter Hildebrandt, um dem „Pathos der Heim-ins-Schloss-Bewegung der Berliner Republik“ etwas entgegenzusetzen. Sein Buch über „Deutschlands leere Mitte“ ist die intelligenteste unter den Dutzenden Streitschriften gegen die Schloss-Rekonstruktion. Mit Zorn und Leidenschaft berichtet er, wie es den Friedrichs, Wilhelms und Friedrich Wilhelms im Schloss erging, was Berliner und Reisende darüber notierten.
Es ist bekannt, dass in Preußen die Thronfolger meist in Opposition zum Vorgänger standen. Das Haugesetz der Hohenzollern hat Karl Marx 1859 so zusammengefasst: „Dem Komödianten, der mehr oder weniger verschwenderisch, mehr oder weniger von byzantinischen religiösen Vorstellungen durchdrungen ist, der mehr oder weniger mit der mittelalterlichen Romantik kokettiert, folgt immer die grämliche Mischung von Feldwebel, Bürokrat und Schulmeister.“ Die diskontinuierliche und polyzentrische Entwicklung der Residenzlandschaft war Konsequenz und Ausdruck dieser Unstetigkeit, des ständigen Neubeginns.
Besonders konsequent verfuhr auch hier Friedrich II., der im Berliner Schloss geboren worden war. Er ließ nach der Thronbesteigung die Zimmer seines Vaters zusperren, gleichsam einsargen und betrat das Schloss in der Hauptstadt nur, wenn es nicht zu vermeiden war. Erst 1793 wurden die Zimmer des „Soldatenkönigs“ wieder geöffnet: „Und man fand“, wie Hildebrandt schreibt, „bei der Inventur die ganze Wohnung vermodert, dem Fraß von Motten und Holzwürmern preisgegeben.“
Freilich gab es Ausnahmen: Friedrich Wilhelm II. ließ sich von Erdmannsdorff, Gontard und Langhans Königskammern in feinsten klassizistischen Formen einrichten; Friedrich Wilhelm IV. nutzte das Schloss, um seine Vorstellungen vom Gottesgnadentum wenigstens Stein werden zu lassen. Leider hält sich Hildebrandt mit ästhetischen Beobachtungen, kunsthistorischen Informationen nicht lange auf. Er steuert über die 48er Revolution, den Kartätschenprinzen und Bismarck zügig auf Wilhelm II. zu, der die Häuser auf der Schlossfreiheit abriss, um Platz für das Nationaldenkmal zu gewinnen, der so unüberlegt wie großspurig den Weißen Saal umzubauen begann und der am Ende seiner Herrschaft bramarbasierte: „Und das sage ich Ihnen, wenn nur das Geringste passiert, dann schreib ich denen die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster, und wenn ich mir mein eigenes Schloß zerschieße, aber Ordnung soll sein!“ Von hier ist es zur „Planierungsbarbarei Ulbrichts“ in der Tat nur ein Schritt. Es verstört am Ende, dass dieser kluge Erzähler die Sprengung des Schlosses geschichtstheologisch rechtfertigt. Größenwahn und Herrenrassendünkel hätten in diesem Gemäuer „ihre historische Wurzel gehabt“.
Stimmt das? Entspringt dieses Argument nicht vielmehr einer Entlastungsstrategie der Nachkriegszeit, der beruhigenden, jeden einzelnen entschuldigenden Behauptung, preußischer Ungeist oder sonstige abstrakte Mächte seien für Krieg und Verbrechen verantwortlich? Glich der Abriss nicht eher einer Teufelsaustreibung als souveränem, bürgerlich selbstbewusstem Umgang mit historischer Verantwortung?
Ja, es gibt eine mal verblendete, mal kenntnisarme Preußen-Nostalgie. Den von ihr Befallenen ist Dieter Hildebrandts lebendige, republikanisch lichte Streitschrift unbedingt zu empfehlen. Alle anderen finden hier eine kurze Geschichte des Berliner Schlosses, wie es sie so unterhaltsam bisher nicht gegeben hat. Im Streit um die Rekonstruktion der Schlüter-Fassaden und das Humboldt-Forum wird das Buch gleichwohl wenig bewirken können.
Es kommt spät und macht den Schlossbaufreunden das abwehrende Zucken mit den Schultern sehr leicht. Wenn im März die Bagger ausrücken, dann doch nicht, um die Fundamente für ein Denkmal „militaristischer Hybris“ auszuheben. Eine urbane Wüste soll belebt werden, was viele der zeitgenössischen Architektur nicht zutrauten. Dass es am Ende mehr brauchen wird als historisierende Fassaden, können auch sie von Hildebrandt lernen.
JENS BISKY
DIETER HILDEBRANDT: Das Berliner Schloss. Deutschlands leere Mitte. Carl Hanser Verlag, München 2011. 294 Seiten, 19,90 Euro.
„Das Schloss, auf einen Nenner
gebracht: tausend Zimmer
und keine Seele.“
Im Legoland Berlin sind die Arbeiten am Schloss schon weit vorangeschritten. Aber welcher Geist steckt hinter den Fassaden? Foto: Jens Kalaene/dpa
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Dieter Hildebrandt polemisiert so intelligent wie unterhaltsam gegen die Sehnsucht nach dem Berliner Schloss
Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, war begeistert, als sein Hofbildhauer Andreas Schlüter ihm 1698 aus eigenem Antrieb ein Schlossmodell präsentierte. Seit einiger Zeit schon suchte er nach einem Baumeister, der in der Lage wäre, seine Residenz, die gerade den Charakter eines Landstädtchens verlor, in ein zweites Rom zu verwandeln. Mit Schlüter, der einen römischen Palast auf den sumpfigen Grund zu wuchten versprach, der von Michelangelo und Bernini gelernt hatte, schien endlich der geeignete Mann gefunden. Der Kurfürst ernannte ihn zum Schlossbau-Direktor und trieb zur Eile. Als er knapp drei Jahre später aus Königsberg zurückkehrte, wo er sich die Krone eines „Königs in Preußen“ aufs Haupt gesetzt hatte, stand von der projektierten Pracht so viel, dass bald der Wunsch nach Mehr aufkam. Die Erweiterung des Berliner Schlosses nach Westen wurde angeordnet.
Glück hat der große Kasten mit den monumentalen Portalen weder dem Bauherren noch dem Baumeister gebracht. Friedrich residierte auf einer Baustelle, während seine Länder dem Ruin entgegenschlitterten, als zu den Kosten der Rangerhöhung, der Bauwut und des elend langen Spanischen Erbfolgekrieges eine Pestepidemie hinzukam. Schlüter musste mit ansehen, wie der Münzturm, der auf Befehl des Königs die kolossale Höhe von 120 Metern erreichen sollte, bald schon Risse im Mauerwerk zeigte, kein Versuch der Stabilisierung half. Um dem Einsturz zuvorzukommen musste der Turm wieder abgetragen werden, Schlüter erntete Spott und Hohn der professionellen Architekten und die Ungnade des Königs. Aus solch missglückten Anfängen wird selten Gutes.
Die meisten früheren Bewohner des Berliner Schlosses empfanden das Gemäuer als Ärgernis, dem sie mehr oder weniger rasch zu entkommen suchten. Die Geschichten dieser kleinen und großen Fluchten erzählt der stets pointiert formulierende Lessing-Biograph und Schiller-Kenner Dieter Hildebrandt, um dem „Pathos der Heim-ins-Schloss-Bewegung der Berliner Republik“ etwas entgegenzusetzen. Sein Buch über „Deutschlands leere Mitte“ ist die intelligenteste unter den Dutzenden Streitschriften gegen die Schloss-Rekonstruktion. Mit Zorn und Leidenschaft berichtet er, wie es den Friedrichs, Wilhelms und Friedrich Wilhelms im Schloss erging, was Berliner und Reisende darüber notierten.
Es ist bekannt, dass in Preußen die Thronfolger meist in Opposition zum Vorgänger standen. Das Haugesetz der Hohenzollern hat Karl Marx 1859 so zusammengefasst: „Dem Komödianten, der mehr oder weniger verschwenderisch, mehr oder weniger von byzantinischen religiösen Vorstellungen durchdrungen ist, der mehr oder weniger mit der mittelalterlichen Romantik kokettiert, folgt immer die grämliche Mischung von Feldwebel, Bürokrat und Schulmeister.“ Die diskontinuierliche und polyzentrische Entwicklung der Residenzlandschaft war Konsequenz und Ausdruck dieser Unstetigkeit, des ständigen Neubeginns.
Besonders konsequent verfuhr auch hier Friedrich II., der im Berliner Schloss geboren worden war. Er ließ nach der Thronbesteigung die Zimmer seines Vaters zusperren, gleichsam einsargen und betrat das Schloss in der Hauptstadt nur, wenn es nicht zu vermeiden war. Erst 1793 wurden die Zimmer des „Soldatenkönigs“ wieder geöffnet: „Und man fand“, wie Hildebrandt schreibt, „bei der Inventur die ganze Wohnung vermodert, dem Fraß von Motten und Holzwürmern preisgegeben.“
Freilich gab es Ausnahmen: Friedrich Wilhelm II. ließ sich von Erdmannsdorff, Gontard und Langhans Königskammern in feinsten klassizistischen Formen einrichten; Friedrich Wilhelm IV. nutzte das Schloss, um seine Vorstellungen vom Gottesgnadentum wenigstens Stein werden zu lassen. Leider hält sich Hildebrandt mit ästhetischen Beobachtungen, kunsthistorischen Informationen nicht lange auf. Er steuert über die 48er Revolution, den Kartätschenprinzen und Bismarck zügig auf Wilhelm II. zu, der die Häuser auf der Schlossfreiheit abriss, um Platz für das Nationaldenkmal zu gewinnen, der so unüberlegt wie großspurig den Weißen Saal umzubauen begann und der am Ende seiner Herrschaft bramarbasierte: „Und das sage ich Ihnen, wenn nur das Geringste passiert, dann schreib ich denen die Antwort mit Maschinengewehren auf das Pflaster, und wenn ich mir mein eigenes Schloß zerschieße, aber Ordnung soll sein!“ Von hier ist es zur „Planierungsbarbarei Ulbrichts“ in der Tat nur ein Schritt. Es verstört am Ende, dass dieser kluge Erzähler die Sprengung des Schlosses geschichtstheologisch rechtfertigt. Größenwahn und Herrenrassendünkel hätten in diesem Gemäuer „ihre historische Wurzel gehabt“.
Stimmt das? Entspringt dieses Argument nicht vielmehr einer Entlastungsstrategie der Nachkriegszeit, der beruhigenden, jeden einzelnen entschuldigenden Behauptung, preußischer Ungeist oder sonstige abstrakte Mächte seien für Krieg und Verbrechen verantwortlich? Glich der Abriss nicht eher einer Teufelsaustreibung als souveränem, bürgerlich selbstbewusstem Umgang mit historischer Verantwortung?
Ja, es gibt eine mal verblendete, mal kenntnisarme Preußen-Nostalgie. Den von ihr Befallenen ist Dieter Hildebrandts lebendige, republikanisch lichte Streitschrift unbedingt zu empfehlen. Alle anderen finden hier eine kurze Geschichte des Berliner Schlosses, wie es sie so unterhaltsam bisher nicht gegeben hat. Im Streit um die Rekonstruktion der Schlüter-Fassaden und das Humboldt-Forum wird das Buch gleichwohl wenig bewirken können.
Es kommt spät und macht den Schlossbaufreunden das abwehrende Zucken mit den Schultern sehr leicht. Wenn im März die Bagger ausrücken, dann doch nicht, um die Fundamente für ein Denkmal „militaristischer Hybris“ auszuheben. Eine urbane Wüste soll belebt werden, was viele der zeitgenössischen Architektur nicht zutrauten. Dass es am Ende mehr brauchen wird als historisierende Fassaden, können auch sie von Hildebrandt lernen.
JENS BISKY
DIETER HILDEBRANDT: Das Berliner Schloss. Deutschlands leere Mitte. Carl Hanser Verlag, München 2011. 294 Seiten, 19,90 Euro.
„Das Schloss, auf einen Nenner
gebracht: tausend Zimmer
und keine Seele.“
Im Legoland Berlin sind die Arbeiten am Schloss schon weit vorangeschritten. Aber welcher Geist steckt hinter den Fassaden? Foto: Jens Kalaene/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Das Buch kommt spät, zu spät, bedauert Jens Bisky, um die Berliner Schlossbauenthusiasten zu bekehren. Doch bekehren möchte Dieter Hildebrandt wohl auch nicht, nur ein bisschen Schloss-Geschichte erzählen, stets pointiert und leidenschaftlich, wie Bisky erfreut feststellt, und dokumentieren, was die Bewohner, die Friedrichs und Wilhelms, im Gemäuer so empfanden. Bisky hält das schlicht für so intelligent, dass er Regalmeter Anti-Schloss-Literatur dafür drangibt. Bedauerlich erscheint ihm allerdings nicht nur das späte Erscheinen des klugen Bandes, sondern auch Hildebrandts Siebenmeilenstiefelei bis zu Wilhelm II., ohne viel kunsthistorisches oder ästhetisches Aufhebens. Geradezu verstörend findet er, wie der Autor schließlich die Sprengung des Baus rechtfertigt. Den unterstellten Größenwahn, der sich angeblich in den Schlossmauern manifestierte, nimmt Bisky ihm nicht ab. Als Streitschrift gegen grassierende Preußen-Nostalgie taugt ihm Hildebrandts lichte Schrift aber vorzüglich.
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"Dieter Hildebrandt hat die schönste aller Polemiken gegen den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses geschrieben. Was für ein wunderbares Buch!" Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.09.11
"Hildebrandts Buch liefert einen pointierten Blick auf die Geschichte eines streitbaren Denkmals, indem es aufzeigt, wessen Geistes Kind Bauherr und Bewohner des Schlosses stets waren." Jürgen Tietz, Neue Zürcher Zeitung, 08.10.11
"Dieter Hildbrandt polemisiert so intelligent wie unterhaltsam gegen die Sehnsucht nach dem Berliner Schloss" Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 04.01.12
"Hildebrandts Buch liefert einen pointierten Blick auf die Geschichte eines streitbaren Denkmals, indem es aufzeigt, wessen Geistes Kind Bauherr und Bewohner des Schlosses stets waren." Jürgen Tietz, Neue Zürcher Zeitung, 08.10.11
"Dieter Hildbrandt polemisiert so intelligent wie unterhaltsam gegen die Sehnsucht nach dem Berliner Schloss" Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung, 04.01.12