Das Berliner Zimmer ist seit jeher Zumutung und Angebot zugleich: dunkel, schwer zu beheizen, ohne klar definierte Funktion. Ein Raum, der zur kreativen Aneignung einlädt, der geliebt und gehasst wird - aber bisher kaum erforscht wurde. Jan Herres leistet in diesem Buch Pionierarbeit. Er zeigt auf, wie das Berliner Zimmer ab dem 18. Jahrhundert entstand und warum es bis heute Eingang in den Berliner Wohnungsbau findet. Die architekturgeschichtliche Beschreibung wird durch Fallstudien und Bildstrecken zu heutigen Formen der Nutzung und Möblierung ergänzt. Durch die Erfassung von Grundrissen, Größen und Wohnpraktiken liegt mit Das Berliner Zimmer. Geschichte, Typologie, Nutzungsaneignung die erste Anthologie des Berliner Zimmers vor, die zugleich ein Plädoyer dafür ist, Wohnarchitektur nutzungsoffen und wandelbar für künftige Anforderungen zu planen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Michael Mönninger lässt sich vom Architekten Jan Herres Berliner Zimmer vorführen, ob genutzt als Wohnküche, Bibliothek oder Musikzimmer, dieser "Transitraum" hat einiges zu erzählen, staunt Mönninger. Herres forscht in Grundrissen und stadtgeschichtlichen Quellen nach den Ursprüngen und der Entwicklung des "Eckdurchgangszimmers", befragt Zeitzeugen und lugt in Berliner Stuben von heute, erklärt der Rezensent. Was dabei herauskommt, ist laut Mönninger lebendige Stadt-, Architektur- und Sozialgeschichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2022Fenster zum Hof
Vom Lückenbüßer zum Möglichkeitsraum: Jan Herres folgt der Geschichte des Berliner Zimmers.
Im zwanzigsten Jahrhundert hätte solch ein vermurkster Restraum jeden Architekten die Stelle gekostet: Mitten in der Wohnung ein Durchgangszimmer anzulegen, das von drei Seiten zugänglich ist und im Dauerverkehr aller Haushaltsmitglieder nicht zur Ruhe kommt, wäre ein Verstoß gegen alle Komfort- und Abstandsregeln gewesen. Doch im neunzehnten Jahrhundert bestanden Wohnungsgrundrisse noch nicht aus säuberlich definierten Tätigkeitsflächen entlang spezialisierter Raumzuschnitte. Stattdessen entwickelte sich die kuriosen Eckdurchgangszimmer, später "Berliner Zimmer" genannt, zu Zentren des Gemeinschaftslebens. Sie waren das Gelenk zwischen Vorderhaus und Seitenflügel, verbanden den öffentlichen Teil der Wohnung an der Straße mit den Privaträumen im Seitenflügel und wiesen zugleich Eltern und Kindern, Herrschaft und Dienerschaft ihre Sphären zu.
Dem "Berliner Zimmer" hat jetzt der Berliner Architekt und Senatsbaubeamte Jan Herres eine Monographie gewidmet. Aus den banalen Grundrissen von Mietshäusern liest er das heraus, was der Werkbund-Gründer Hermann Muthesius einmal "die rhythmische Fassung unserer täglichen Lebensbedürfnisse" nannte. Das Berliner Zimmer entsprang aus dem Bedürfnis, einen Eckkonflikt zu lösen. Mit dem explosiven Bevölkerungswachstum musste auch die Bebauung expandieren. Die Häuser standen fortan nicht mehr mit den schmalen Giebeln an der Straße, sondern wurden um neunzig Grad mit der breiten Traufseite zur Straßenfront gedreht. Dahinter wuchsen die zuvor freistehenden Wirtschaftsgebäude zu Seitenflügeln und Quergebäuden mit dem Vorderhaus zusammen; aus der Durchdringung zweier Baukörper entstand das Berliner Zimmer.
Urheber dieses Lückenfüllers war der preußische Landbaumeister Gustav Assmann, der zusammen mit dem Ingenieur James Hobrecht von 1858 an bei der Berliner Baupolizei die immensen Stadterweiterungen Berlins plante. Gleichzeitig mit Hobrechts legendärem "Bebauungsplan der Umgebungen Berlins" von 1862 veröffentliche Assmann seine Sammlung "Grundrisse für städtische Wohngebäude". Sie sollte in der Tradition der Musterbücher von Beuth, Schinkel und Gilly das Niveau von Handwerkern und Architekten in Preußen heben.
Assmanns Typenwohnungen entwickelten trotz großer Uniformität eine erstaunliche Variationsbreite. Eigentlich gab es sie nur in vier Ausführungen, die man heute als small, medium, large und extra large bezeichnen könnte. Aber sie waren zusammen mit Assmanns Ausführungsbestimmungen verlässliche Arbeitsgrundlagen für die Baupolizei und konnten meist ohne Mitwirkung von Architekten und ohne Einzelprüfung genehmigt werden. Von Berlin aus eroberten die Mustergrundrisse alle östlichen Provinzen Preußens sowie Hannover und Köln. Dagegen waren Frankfurt am Main, München und andere südlicher gestimmte Städte für die strenge Berliner Blockrandbebauung mit multiplen Hinterhöfen nicht zu gewinnen. Paris und Wien vermieden die Berliner Block-Ecken sogar ganz und platzierten meist Treppenhäuser in den Gebäudezwickeln
Zwar schöpft Jan Herres meist aus bekannten Quellen, vor allem aus der epochalen Stadtgeschichte von Jonas Geist und Klaus Kürvers über "Das Berliner Mietshaus". Dennoch lässt sein Blick auf die Szenographie und Choreographie des Bauens und Wohnens im Kaiserreich die Architektur- wie Sozialgeschichte lebendig werden. Trotz aller Differenzierungen der Wohnbereiche verzichtete Landbaumeister Assmann auf jeden modernen Widmungsterror und legte neutrale Raumfolgen an. Dazu gehörte die seit Jahrhunderten bewährte Annehmlichkeit der "Enfiladen", gestaffelte Durchgangszimmer, die ohne Korridore auskamen, weil Raum- und Erschließungssystem noch identisch waren. Das Berliner Zimmer mit Fenster zum Hof, das Walter Benjamin als kindliche Übergangszone in die Traumwelt der rückwärtigen Schlafgemächer erlebte, beschreibt der Autor als "undeterminierten Möglichkeitsraum" und "Agora" für Zirkulation und Durchmischung.
Mit dem baupolizeilichen Verbot von Hinterhöfen 1925 schien die letzte Stunde des Berliner Zimmers zu schlagen. Doch nach einer Latenzperiode von über einem halben Jahrhundert tauchte es in der Jugendkultur wieder auf. Das Berliner Zimmer spielte sogar eine Rolle bei der Jugendrevolte 1968. Jan Herres beruft sich auf den Zeitzeugen und Journalisten Klaus Hartung, der die Aneignung der Eckräume rekapitulierte: Zuerst bestanden Wohngemeinschaften aus separierten Einzimmerbewohnern, die sich allmählich in der "unmöblierbaren Kältezone" des Berliner Zimmers beäugten und dort schließlich "den leeren Raum für soziale Phantasie und politische Träume" entwickelten.
Tatsächlich tauchten die Eckzimmer in experimentellen Entwürfen nachmoderner Architekten wieder auf, zunächst beim O. M. Ungers und den holländischen Strukturalisten, dann verstärkt im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Berlin 1984. Und im heutigen hochpreisigen Neubau bedient der Raumluxus undefinierter Begegnungszentren mitten in der Wohnung die erlesensten Komfortwünsche. Wie die Leute heute mit diesem Restraum umgehen, zeigt Herres mit seiner Bildreportage über zwei Dutzend Berliner Wohnungsbeispiele. Landbaumeister Assmann würde sich freuen, wenn er erführe, wie phantasiereich die Bewohner ihre preußischen Zimmer nutzen: als Bibliothek, Arbeitszimmer, Galerie, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, Hobby- und Musikraum und vor allem - als Wohnküche. Gerade in der Vermählung der archaischen Funktion einer Feuerstelle mit dem modernen Motiv eines Transitraums für nachmoderne Übergangsmenschen zeigt sich die zeitlose Aktualität einer verkannten preußischen Notlösung. MICHAEL MÖNNINGER
Jan Herres: "Das Berliner Zimmer". Geschichte, Typologie, Nutzungsaneignung.
Jovis Verlag, Berlin 2021. 128 S., Abb., geb., 29,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Lückenbüßer zum Möglichkeitsraum: Jan Herres folgt der Geschichte des Berliner Zimmers.
Im zwanzigsten Jahrhundert hätte solch ein vermurkster Restraum jeden Architekten die Stelle gekostet: Mitten in der Wohnung ein Durchgangszimmer anzulegen, das von drei Seiten zugänglich ist und im Dauerverkehr aller Haushaltsmitglieder nicht zur Ruhe kommt, wäre ein Verstoß gegen alle Komfort- und Abstandsregeln gewesen. Doch im neunzehnten Jahrhundert bestanden Wohnungsgrundrisse noch nicht aus säuberlich definierten Tätigkeitsflächen entlang spezialisierter Raumzuschnitte. Stattdessen entwickelte sich die kuriosen Eckdurchgangszimmer, später "Berliner Zimmer" genannt, zu Zentren des Gemeinschaftslebens. Sie waren das Gelenk zwischen Vorderhaus und Seitenflügel, verbanden den öffentlichen Teil der Wohnung an der Straße mit den Privaträumen im Seitenflügel und wiesen zugleich Eltern und Kindern, Herrschaft und Dienerschaft ihre Sphären zu.
Dem "Berliner Zimmer" hat jetzt der Berliner Architekt und Senatsbaubeamte Jan Herres eine Monographie gewidmet. Aus den banalen Grundrissen von Mietshäusern liest er das heraus, was der Werkbund-Gründer Hermann Muthesius einmal "die rhythmische Fassung unserer täglichen Lebensbedürfnisse" nannte. Das Berliner Zimmer entsprang aus dem Bedürfnis, einen Eckkonflikt zu lösen. Mit dem explosiven Bevölkerungswachstum musste auch die Bebauung expandieren. Die Häuser standen fortan nicht mehr mit den schmalen Giebeln an der Straße, sondern wurden um neunzig Grad mit der breiten Traufseite zur Straßenfront gedreht. Dahinter wuchsen die zuvor freistehenden Wirtschaftsgebäude zu Seitenflügeln und Quergebäuden mit dem Vorderhaus zusammen; aus der Durchdringung zweier Baukörper entstand das Berliner Zimmer.
Urheber dieses Lückenfüllers war der preußische Landbaumeister Gustav Assmann, der zusammen mit dem Ingenieur James Hobrecht von 1858 an bei der Berliner Baupolizei die immensen Stadterweiterungen Berlins plante. Gleichzeitig mit Hobrechts legendärem "Bebauungsplan der Umgebungen Berlins" von 1862 veröffentliche Assmann seine Sammlung "Grundrisse für städtische Wohngebäude". Sie sollte in der Tradition der Musterbücher von Beuth, Schinkel und Gilly das Niveau von Handwerkern und Architekten in Preußen heben.
Assmanns Typenwohnungen entwickelten trotz großer Uniformität eine erstaunliche Variationsbreite. Eigentlich gab es sie nur in vier Ausführungen, die man heute als small, medium, large und extra large bezeichnen könnte. Aber sie waren zusammen mit Assmanns Ausführungsbestimmungen verlässliche Arbeitsgrundlagen für die Baupolizei und konnten meist ohne Mitwirkung von Architekten und ohne Einzelprüfung genehmigt werden. Von Berlin aus eroberten die Mustergrundrisse alle östlichen Provinzen Preußens sowie Hannover und Köln. Dagegen waren Frankfurt am Main, München und andere südlicher gestimmte Städte für die strenge Berliner Blockrandbebauung mit multiplen Hinterhöfen nicht zu gewinnen. Paris und Wien vermieden die Berliner Block-Ecken sogar ganz und platzierten meist Treppenhäuser in den Gebäudezwickeln
Zwar schöpft Jan Herres meist aus bekannten Quellen, vor allem aus der epochalen Stadtgeschichte von Jonas Geist und Klaus Kürvers über "Das Berliner Mietshaus". Dennoch lässt sein Blick auf die Szenographie und Choreographie des Bauens und Wohnens im Kaiserreich die Architektur- wie Sozialgeschichte lebendig werden. Trotz aller Differenzierungen der Wohnbereiche verzichtete Landbaumeister Assmann auf jeden modernen Widmungsterror und legte neutrale Raumfolgen an. Dazu gehörte die seit Jahrhunderten bewährte Annehmlichkeit der "Enfiladen", gestaffelte Durchgangszimmer, die ohne Korridore auskamen, weil Raum- und Erschließungssystem noch identisch waren. Das Berliner Zimmer mit Fenster zum Hof, das Walter Benjamin als kindliche Übergangszone in die Traumwelt der rückwärtigen Schlafgemächer erlebte, beschreibt der Autor als "undeterminierten Möglichkeitsraum" und "Agora" für Zirkulation und Durchmischung.
Mit dem baupolizeilichen Verbot von Hinterhöfen 1925 schien die letzte Stunde des Berliner Zimmers zu schlagen. Doch nach einer Latenzperiode von über einem halben Jahrhundert tauchte es in der Jugendkultur wieder auf. Das Berliner Zimmer spielte sogar eine Rolle bei der Jugendrevolte 1968. Jan Herres beruft sich auf den Zeitzeugen und Journalisten Klaus Hartung, der die Aneignung der Eckräume rekapitulierte: Zuerst bestanden Wohngemeinschaften aus separierten Einzimmerbewohnern, die sich allmählich in der "unmöblierbaren Kältezone" des Berliner Zimmers beäugten und dort schließlich "den leeren Raum für soziale Phantasie und politische Träume" entwickelten.
Tatsächlich tauchten die Eckzimmer in experimentellen Entwürfen nachmoderner Architekten wieder auf, zunächst beim O. M. Ungers und den holländischen Strukturalisten, dann verstärkt im Rahmen der Internationalen Bauausstellung in Berlin 1984. Und im heutigen hochpreisigen Neubau bedient der Raumluxus undefinierter Begegnungszentren mitten in der Wohnung die erlesensten Komfortwünsche. Wie die Leute heute mit diesem Restraum umgehen, zeigt Herres mit seiner Bildreportage über zwei Dutzend Berliner Wohnungsbeispiele. Landbaumeister Assmann würde sich freuen, wenn er erführe, wie phantasiereich die Bewohner ihre preußischen Zimmer nutzen: als Bibliothek, Arbeitszimmer, Galerie, Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, Hobby- und Musikraum und vor allem - als Wohnküche. Gerade in der Vermählung der archaischen Funktion einer Feuerstelle mit dem modernen Motiv eines Transitraums für nachmoderne Übergangsmenschen zeigt sich die zeitlose Aktualität einer verkannten preußischen Notlösung. MICHAEL MÖNNINGER
Jan Herres: "Das Berliner Zimmer". Geschichte, Typologie, Nutzungsaneignung.
Jovis Verlag, Berlin 2021. 128 S., Abb., geb., 29,- Euro.
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"Ein fundiertes und kurzweiliges Buch darüber, wie zeitlos robust die architektonischen Verlegenheitslösungen von vorgestern sein können." (Frank Peter Jäger in: BauNetz, 05/2022, https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Das_Berliner_Zimmer_7920909.html?wt_mc=nla.2022-05-04.meldungen.cid-7920909&context=2239)