Verdrängt, vergessen, verschwunden - Ilja Ehrenburgs originellster und persönlichster Roman von 1928. Der kleine jüdische Herrenschneider Lasik Roitschwantz wird vom Lehrmeister Hunger durchs Leben, über Grenzen und Sprachen gewirbelt. Er verliert sein Geschäft und seine Heimat, er beginnt eine Odyssee - als Parteikandidat in Kiew, Kaninchenzüchter in Tula und Schriftsteller in Moskau; er wird zum Affen im Wanderzirkus, zum Filmschauspieler in Berlin und Rabbi in Frankfurt. Aber ob Königsberg, Paris oder London, von einer Hoffnung, einem Hunger, von einem Traum zum nächsten getrieben, wird der arme Ostjude Roitschwantz zum Anpassungskünstler und Enttarnungsgenie - vor allem aber zum ewigen Verlierer, der endlich im gelobten Heiligen Land eintrifft und am heiligsten Feiertag des Jahres neben dem Grab von Jakobs Ehefrau Rahel verhungert. Sprache war der Überlebensstoff des Lasik Roitschwantz, Sprache ist dieses wiederzuentdeckende Buch, ein wunderbares Tohuwabohu explosiver Phantasie.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jakob Hessing ist dankbar, dass dieser frühe Roman Ilja Ehrenburgs, bedeutender Intellektueller der Sowjetunion und "kompromissloser Kämpfer" gegen Faschisten und Nationalsozialisten, durch die exzellente deutsche Übersetzung Waldemar Jollos wieder zugänglich ist. In dem im Jahre 1928 erstmals erschienenen Roman liest der Kritiker die Geschichte des Juden Lasik Roitschwantz und folgt ihm nicht nur durch russische Gefängnisse, sondern auch durch die Länder der jüdischen Diaspora. Bisweilen erinnert der Roman Hessing an die Geschichte des "braven Soldaten Schwejk". Vor allem aber lernt der Rezensent hier einiges über die jüdisch-spanische Tradition des Picaro und lauscht in den "traurigen Monologen" des Protagonisten den verbliebenen Klängen des Jiddischen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2016Wer kein Begräbnisgeld hat, darf auch nicht sterben
Zu subversiv für die Sowjetunion und nun endlich wiederentdeckt: Ilja Ehrenburgs satirischer Roman "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz"
Ilja Ehrenburg (1891 bis 1967) ist eine schillernde Figur in der turbulenten Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er gehörte zu den bedeutendsten Intellektuellen der Sowjetunion, und dem deutschen Kollektivgedächtnis einer früheren Generation hat er sich als engagierter Kriegsjournalist eingeprägt, dessen militante Artikel den Kampf der Roten Armee gegen Hitler nicht nur begleiteten, sondern entscheidend vorantrieben.
Wegen seiner Kriegsartikel könnte man ihn für einen beinharten Stalinisten halten, der die politischen Säuberungen der Zwischenkriegsjahre nicht zufällig überlebt hat. Aber das war Ehrenburg keineswegs, kompromisslos war er nur im Kampf gegen die Faschisten und die Nationalsozialisten. Mit einigen der Opfer Stalins - dem im GULag gestorbenen Dichter Ossip Mandelstam zum Beispiel oder dem einstigen Herausgeber der "Prawda", Nikolaj Bucharin, der 1938 hingerichtet wurde - verbanden ihn tiefe Freundschaften. Er lebte lange im Ausland, in Berlin und den Künstlervierteln von Paris, zu seinen Freunden gehörten Picasso und Hemingway, den er im spanischen Bürgerkrieg kennengelernt hatte.
Ehrenburg war, was man unter Stalin besser nicht hätte sein sollen: ein jüdischer Kosmopolit. Dass er den Diktator überlebt hat und 1967 eines natürlichen Todes gestorben ist, erstaunt umso mehr, wenn man seinen frühen satirischen Roman liest, den die Andere Bibliothek jetzt wieder zugänglich macht. "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz" entstand in Paris und erschien 1928 auch dort; die nun neu aufgelegte hervorragende deutsche Übersetzung von Waldemar Jollos entstand kurz danach. In Russland aber kam das Buch erst 1989 heraus, kurz vor dem Ende der Sowjetunion.
Schon sein Name weist den Helden in Ehrenburgs russischem Roman als Juden aus, der eigentlich Jiddisch spricht. "Ich habe die Welt befahren", sagt Roitschwantz gegen Ende des Romans, "habe mir angesehen, wie die Menschen leben und was bei ihnen in jedem Lande für ein besonderes Boxen herrscht. Jetzt habe ich nur die eine Sehnsucht nach meinem unvergeßlichen Homel." Roitschwantz' Leben war, wie der Titel es sagt, bewegt: Die Oktoberrevolution hat ihn aus seinem jiddischen Schtetl, das den Umbruch nicht überleben wird, in die Welt hinausgetrieben; er bereist eher unfreiwillig verschiedene Länder und lernt dort das "besondere Boxen" kennen: die verschiedenen Schläge, die ihm zugeteilt werden. Am Ende sehnt er sich nur noch nach der verlorenen Heimat.
Ehrenburg selbst war längst assimiliert, er sprach nicht mehr Jiddisch, aber in den Monologen seines traurigen Reisenden ist die alte Sprache unüberhörbar. Sich selbst bezeichnet Roitschwantz als "Kleingewerbetreibenden", er gibt dem Kleinhandel, den er betrieben hat, einen marxistischen Namen und befleißigt sich auch sonst des gebotenen newspeak. Von Gott spricht er nur als "erfundener Gott", statt "Religion" sagt er oft "Opium".
Roitschwantz ist ein Schelm, ein Picaro, und deutlich lässt Ehrenburg durchscheinen, dass diese Figur in einer jüdisch-spanischen Tradition steht. Es waren die Marranen - zwangsgetaufte Juden in Spanien, die ihrer Religion heimlich treu blieben und sich dabei vor den Inquisitoren hüten mussten -, die sich der Ironie bedienten, als Waffe der Schwächeren. Im Picaro schufen sie eine Stimme, die im Witz aussprechen durfte, was sonst ungesagt blieb.
Auch Roitschwantz ist auf seine Weise zwangsgetauft; auch er muss sich vor den neuen Machthabern verwandeln, seine wahre Identität verbergen und in seinen Monologen ein Maskenspiel treiben. Die Ironie des Romans liegt in der doppelbödigen Sprache, die Ehrenburg ihm in den Mund legt. Immer wieder lässt er seinen Protagonisten ausführlich zu Wort kommen, lässt ihn Geschichten erzählen, die er aus dem Schtetl mitgebracht hat; hört man ihm aber zu, drängt sich schnell die Frage auf: Ist sich Lasik Roitschwantz, dieser einfache Mensch, der Ironie seiner Erzählungen bewusst, oder ist es die Ironie des Autors, ist es Ehrenburg selbst, der sich hinter der Figur seines umhergestoßenen Juden verbirgt?
"Sie wissen natürlich, daß die rückständigen Juden an die Thora glauben", erklärt Roitschwantz dem Untersuchungsrichter, als man ihn eines Vergehens gegen die Parteidisziplin anklagt. "Die Thora - das ist ein Gesetz, das geradewegs vom Himmel herabgefallen ist, und da geben sie sich mit dieser Thora ab, so wie Sie sich mit Ihrer bedingungslosen Disziplin abgeben. Jeden Morgen danken sie Gott, daß er ihnen diese unerträgliche Thora geschenkt hat. Sie lesen und lesen sie immer wieder, aus einem Gesetz machen sie tausend, und sie dürfen am Sonnabend nicht rauchen, und sie dürfen keine gehackten Koteletts in Sahne essen, und sie dürfen überhaupt nichts."
Vordergründig ist das gegen die Thora gerichtet, die Roitschwantz als Totalverbot aller menschlichen Freuden denunziert. Damit liegt er auf der offiziellen Linie, die alle Religion als "rückständig" verurteilt, und wenn er in einem Nebensatz andeutet, dass auch die Parteidisziplin, nicht anders als die Thora, jede Lebensfreude beschneide, so bleibt das wirkungslos. Es gehört zur Tragik dieses Helden, dass seine Ironie ungehört verhallen muss. Wenige Jahre vor Ehrenburgs Roman wusste ein anderer Schelm, der brave Soldat Schwejk, sich noch aus den Fallen zu retten, die das System ihm gestellt hatte, Lasik Roitschwantz aber entkommt seinem Schicksal nicht. Er kann sogar von Glück reden, dass der Untersuchungsrichter die Analogie zwischen Thora und kommunistischer Doktrin gar nicht begriffen hat. Sonst wäre das über ihn verhängte Strafmaß noch härter ausgefallen.
Seine Odyssee führt Roitschwantz nicht nur durch die Gefängnisse Russlands, sondern auch in die Länder der jüdischen Diaspora. Bei den deutschen Juden profitiert er eine Weile von der Nostalgie, mit der sie sich nach der Authentizität des Ostjudentums sehnen. In Frankfurt gibt Roitschwantz sich als Rabbiner aus und erlässt seiner dankbaren Gemeinde alle möglichen Speisegesetze, bevor sein Spiel auffliegt und er aus der Stadt geprügelt wird.
Die Schläge, die Roitschwantz erhalten hat, lesen sich wie die Landkarte seiner Lebensstationen. Gegen Ende des Buches sitzt er auf einem Schiff. "Wenn Sie mich ohne Hemd sehen würden", sagt er zu einem Mitreisenden, "so würden Sie sicher den Mund aufsperren, denn da gibt es nicht die kleinste Stelle, die kein Mal hätte, gleich als sei mein trauriger Leib ein Reisepaß."
Das Schiff, auf dem Roitschwantz seine letzte Reise macht, fährt nach Palästina, und auf den ersten Blick verwundert das. Der Kommunist Ilja Ehrenburg war ein Antizionist, und auch der Roman bringt das zum Ausdruck. Roitschwantz will in Palästina nur sterben, aber weil er seine Begräbniskosten nicht decken kann, verweigert ihm ein hartherziger Grabwächter diesen Wunsch.
Da stirbt Roitschwantz ohne Erlaubnis, und bevor er die Augen schließt, erzählt er dem Grabwächter eine letzte Geschichte. An einem Versöhnungstag bitten die Beter ihren erfundenen Gott um Vergebung ihrer Sünden, doch der Himmel öffnet sich nicht, die Gebete bleiben unerhört. Verzweiflung herrscht in der Synagoge, aber dann, gegen alle Gebote, bläst ein Kind auf einer Trillerpfeife, und plötzlich steht der Himmel offen. Das Blasen des Schofars, des Widderhorns, beendet den jüdischen Versöhnungstag und bahnt den Weg zu Gott. Wirksamer aber noch ist das Spielzeug eines Kindes. Sterbend erzählt Roitschwantz von dem Wunder, das er in seinem Leben nie erfahren durfte: von der rettenden Macht der Unschuld.
JAKOB HESSING
Ilja Ehrenburg: "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz". Roman.
Aus dem Russischen von Waldemar Jollos, Nachwort von Peter Hamm. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. 408 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zu subversiv für die Sowjetunion und nun endlich wiederentdeckt: Ilja Ehrenburgs satirischer Roman "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz"
Ilja Ehrenburg (1891 bis 1967) ist eine schillernde Figur in der turbulenten Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er gehörte zu den bedeutendsten Intellektuellen der Sowjetunion, und dem deutschen Kollektivgedächtnis einer früheren Generation hat er sich als engagierter Kriegsjournalist eingeprägt, dessen militante Artikel den Kampf der Roten Armee gegen Hitler nicht nur begleiteten, sondern entscheidend vorantrieben.
Wegen seiner Kriegsartikel könnte man ihn für einen beinharten Stalinisten halten, der die politischen Säuberungen der Zwischenkriegsjahre nicht zufällig überlebt hat. Aber das war Ehrenburg keineswegs, kompromisslos war er nur im Kampf gegen die Faschisten und die Nationalsozialisten. Mit einigen der Opfer Stalins - dem im GULag gestorbenen Dichter Ossip Mandelstam zum Beispiel oder dem einstigen Herausgeber der "Prawda", Nikolaj Bucharin, der 1938 hingerichtet wurde - verbanden ihn tiefe Freundschaften. Er lebte lange im Ausland, in Berlin und den Künstlervierteln von Paris, zu seinen Freunden gehörten Picasso und Hemingway, den er im spanischen Bürgerkrieg kennengelernt hatte.
Ehrenburg war, was man unter Stalin besser nicht hätte sein sollen: ein jüdischer Kosmopolit. Dass er den Diktator überlebt hat und 1967 eines natürlichen Todes gestorben ist, erstaunt umso mehr, wenn man seinen frühen satirischen Roman liest, den die Andere Bibliothek jetzt wieder zugänglich macht. "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz" entstand in Paris und erschien 1928 auch dort; die nun neu aufgelegte hervorragende deutsche Übersetzung von Waldemar Jollos entstand kurz danach. In Russland aber kam das Buch erst 1989 heraus, kurz vor dem Ende der Sowjetunion.
Schon sein Name weist den Helden in Ehrenburgs russischem Roman als Juden aus, der eigentlich Jiddisch spricht. "Ich habe die Welt befahren", sagt Roitschwantz gegen Ende des Romans, "habe mir angesehen, wie die Menschen leben und was bei ihnen in jedem Lande für ein besonderes Boxen herrscht. Jetzt habe ich nur die eine Sehnsucht nach meinem unvergeßlichen Homel." Roitschwantz' Leben war, wie der Titel es sagt, bewegt: Die Oktoberrevolution hat ihn aus seinem jiddischen Schtetl, das den Umbruch nicht überleben wird, in die Welt hinausgetrieben; er bereist eher unfreiwillig verschiedene Länder und lernt dort das "besondere Boxen" kennen: die verschiedenen Schläge, die ihm zugeteilt werden. Am Ende sehnt er sich nur noch nach der verlorenen Heimat.
Ehrenburg selbst war längst assimiliert, er sprach nicht mehr Jiddisch, aber in den Monologen seines traurigen Reisenden ist die alte Sprache unüberhörbar. Sich selbst bezeichnet Roitschwantz als "Kleingewerbetreibenden", er gibt dem Kleinhandel, den er betrieben hat, einen marxistischen Namen und befleißigt sich auch sonst des gebotenen newspeak. Von Gott spricht er nur als "erfundener Gott", statt "Religion" sagt er oft "Opium".
Roitschwantz ist ein Schelm, ein Picaro, und deutlich lässt Ehrenburg durchscheinen, dass diese Figur in einer jüdisch-spanischen Tradition steht. Es waren die Marranen - zwangsgetaufte Juden in Spanien, die ihrer Religion heimlich treu blieben und sich dabei vor den Inquisitoren hüten mussten -, die sich der Ironie bedienten, als Waffe der Schwächeren. Im Picaro schufen sie eine Stimme, die im Witz aussprechen durfte, was sonst ungesagt blieb.
Auch Roitschwantz ist auf seine Weise zwangsgetauft; auch er muss sich vor den neuen Machthabern verwandeln, seine wahre Identität verbergen und in seinen Monologen ein Maskenspiel treiben. Die Ironie des Romans liegt in der doppelbödigen Sprache, die Ehrenburg ihm in den Mund legt. Immer wieder lässt er seinen Protagonisten ausführlich zu Wort kommen, lässt ihn Geschichten erzählen, die er aus dem Schtetl mitgebracht hat; hört man ihm aber zu, drängt sich schnell die Frage auf: Ist sich Lasik Roitschwantz, dieser einfache Mensch, der Ironie seiner Erzählungen bewusst, oder ist es die Ironie des Autors, ist es Ehrenburg selbst, der sich hinter der Figur seines umhergestoßenen Juden verbirgt?
"Sie wissen natürlich, daß die rückständigen Juden an die Thora glauben", erklärt Roitschwantz dem Untersuchungsrichter, als man ihn eines Vergehens gegen die Parteidisziplin anklagt. "Die Thora - das ist ein Gesetz, das geradewegs vom Himmel herabgefallen ist, und da geben sie sich mit dieser Thora ab, so wie Sie sich mit Ihrer bedingungslosen Disziplin abgeben. Jeden Morgen danken sie Gott, daß er ihnen diese unerträgliche Thora geschenkt hat. Sie lesen und lesen sie immer wieder, aus einem Gesetz machen sie tausend, und sie dürfen am Sonnabend nicht rauchen, und sie dürfen keine gehackten Koteletts in Sahne essen, und sie dürfen überhaupt nichts."
Vordergründig ist das gegen die Thora gerichtet, die Roitschwantz als Totalverbot aller menschlichen Freuden denunziert. Damit liegt er auf der offiziellen Linie, die alle Religion als "rückständig" verurteilt, und wenn er in einem Nebensatz andeutet, dass auch die Parteidisziplin, nicht anders als die Thora, jede Lebensfreude beschneide, so bleibt das wirkungslos. Es gehört zur Tragik dieses Helden, dass seine Ironie ungehört verhallen muss. Wenige Jahre vor Ehrenburgs Roman wusste ein anderer Schelm, der brave Soldat Schwejk, sich noch aus den Fallen zu retten, die das System ihm gestellt hatte, Lasik Roitschwantz aber entkommt seinem Schicksal nicht. Er kann sogar von Glück reden, dass der Untersuchungsrichter die Analogie zwischen Thora und kommunistischer Doktrin gar nicht begriffen hat. Sonst wäre das über ihn verhängte Strafmaß noch härter ausgefallen.
Seine Odyssee führt Roitschwantz nicht nur durch die Gefängnisse Russlands, sondern auch in die Länder der jüdischen Diaspora. Bei den deutschen Juden profitiert er eine Weile von der Nostalgie, mit der sie sich nach der Authentizität des Ostjudentums sehnen. In Frankfurt gibt Roitschwantz sich als Rabbiner aus und erlässt seiner dankbaren Gemeinde alle möglichen Speisegesetze, bevor sein Spiel auffliegt und er aus der Stadt geprügelt wird.
Die Schläge, die Roitschwantz erhalten hat, lesen sich wie die Landkarte seiner Lebensstationen. Gegen Ende des Buches sitzt er auf einem Schiff. "Wenn Sie mich ohne Hemd sehen würden", sagt er zu einem Mitreisenden, "so würden Sie sicher den Mund aufsperren, denn da gibt es nicht die kleinste Stelle, die kein Mal hätte, gleich als sei mein trauriger Leib ein Reisepaß."
Das Schiff, auf dem Roitschwantz seine letzte Reise macht, fährt nach Palästina, und auf den ersten Blick verwundert das. Der Kommunist Ilja Ehrenburg war ein Antizionist, und auch der Roman bringt das zum Ausdruck. Roitschwantz will in Palästina nur sterben, aber weil er seine Begräbniskosten nicht decken kann, verweigert ihm ein hartherziger Grabwächter diesen Wunsch.
Da stirbt Roitschwantz ohne Erlaubnis, und bevor er die Augen schließt, erzählt er dem Grabwächter eine letzte Geschichte. An einem Versöhnungstag bitten die Beter ihren erfundenen Gott um Vergebung ihrer Sünden, doch der Himmel öffnet sich nicht, die Gebete bleiben unerhört. Verzweiflung herrscht in der Synagoge, aber dann, gegen alle Gebote, bläst ein Kind auf einer Trillerpfeife, und plötzlich steht der Himmel offen. Das Blasen des Schofars, des Widderhorns, beendet den jüdischen Versöhnungstag und bahnt den Weg zu Gott. Wirksamer aber noch ist das Spielzeug eines Kindes. Sterbend erzählt Roitschwantz von dem Wunder, das er in seinem Leben nie erfahren durfte: von der rettenden Macht der Unschuld.
JAKOB HESSING
Ilja Ehrenburg: "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz". Roman.
Aus dem Russischen von Waldemar Jollos, Nachwort von Peter Hamm. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016. 408 S., geb., 42,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Wie sein Anti-Held Lasik Roitschwantz lebte auch Ehrenburg inmitten eines historischen Wirbelsturms. Sein satirisches Talent entfaltet sich in Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz ebenso zündend wie die existenzielle Weisheit des osteuropäischen Judentums. Auch sprachlich stoßen in dem Roman die Welten, die Lasik Roitschwantz durchquert, aufeinander. Jiddische Erzählkunst verbindet sich mit marxistischem Jargon, talmudischem Denken und Fabulierlust." Carsten Hueck Ö1 - Literaturmagazin Ex Libris 20160807