Jump Cuts durch die Zeit: Ulrich Peltzers Porträt des Künstlers als junger Mann
Plötzlich sitzt da diese Frau an einem Ecktisch neben der Bar, und du hast keine andere Wahl mehr, als zu ihr zu gehen. Quer durch den Raum wie ein Schlafwandler. Was fing damals an, im verschneiten West-Berlin der frühen achtziger Jahre, als der Potsdamer Platz eine von Grenzanlagen zerrissene Brache und die Stadt noch nicht leergeträumt war? Hätte alles auch ganz anders kommen können? Ulrich Peltzer erzählt in einer bewegenden Liebes- und Künstlergeschichte von der gefährlichen Freiheit, der Coolness und den euphorischen Aufbrüchen einer wilden, fremd gewordenen Zeit. Was für immer geblieben ist: der Impuls, zu schreiben. Und der Glaube daran, dass jedes neue Wort, jedes Bild, jeder Klang eine neue Welt bedeuten kann.
Plötzlich sitzt da diese Frau an einem Ecktisch neben der Bar, und du hast keine andere Wahl mehr, als zu ihr zu gehen. Quer durch den Raum wie ein Schlafwandler. Was fing damals an, im verschneiten West-Berlin der frühen achtziger Jahre, als der Potsdamer Platz eine von Grenzanlagen zerrissene Brache und die Stadt noch nicht leergeträumt war? Hätte alles auch ganz anders kommen können? Ulrich Peltzer erzählt in einer bewegenden Liebes- und Künstlergeschichte von der gefährlichen Freiheit, der Coolness und den euphorischen Aufbrüchen einer wilden, fremd gewordenen Zeit. Was für immer geblieben ist: der Impuls, zu schreiben. Und der Glaube daran, dass jedes neue Wort, jedes Bild, jeder Klang eine neue Welt bedeuten kann.
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Rezensent Richard Kämmerlings fallen die filmischen Schnitte auf in Ulrich Peltzers Porträt des Künstlers als junger Mann in West-Berlin um 1980. Kämmerlings erinnert der Stil des Buches an wackelige Super-8-Aufnahmen. Dem Erzähler von Affäre zu Affäre, von Trip zu Trip und von Kunsterlebnis zu Kunsterlebnis folgend, erkennt Kämmerlings den ernsten Hintergrund der Geschichte in der Frage nach dem Warum des eigenen Scheiterns und der Kontingenz des Daseins: Was war folgerichtig, was hätte anders laufen können?
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.2021Blinde Blicke
Die erhellenden Filmszenen der Erinnerung: Ulrich Peltzers Roman "Das bist du" setzt sich auf die Spur des eigenen Ichs in einer Zeit vor dem Willen zum Schreiben. Für diesen Schriftsteller stellt sich immer wieder neu die Frage: In welcher Fiktion haben wir gelebt?
Von Andreas Platthaus
Pardon, aber wer Christian Kracht sagt, muss auch Ulrich Peltzer lesen. Denn das, was bei den beiden coronabedingt gleichzeitig herausgekommenen Romanen dieser Schriftsteller - Peltzers Buch war eigentlich bereits fürs vergangene Jahr angekündigt - auf den ersten Blick als unterschiedlichste Formen autobiographisch-fiktionalen Schreibens erscheinen könnte, erweist sich bei der Parallellektüre als ganz ähnliches Projekt mit anderen literarischen Mitteln, aber auf demselben Reflexionsniveau. Kracht setzt auf ironische Distanz zur Gegenwart, Peltzer ganz unironisch auf teilnehmende Rückgewinnung der Vergangenheit. Zwischen beiden Romanhandlungen liegen fast vierzig Jahre, doch das Resultat ihrer jeweiligen Weltbeschreibung ist beide Male atemraubend intensiv.
Ulrich Peltzer nennt seinen neuen Roman "Das bist du". Diesen Buchtitel meint er als Anrede seiner selbst: Identifikation des Autors durch den und mit dem Ich-Erzähler. Der ist ein nie namentlich genannter, aber biographisch mit seinem Verfasser identischer junger Mann, der in den mittleren achtziger Jahren als Student in West-Berlin lebt und zu Beginn der Handlung an einem Sommertag unter den Yorckbrücken hindurch zu seiner Arbeit als Kinovorführer geht. Am Schluss des Romans wird er nur ein paar Tage älter, aber zum Schriftsteller geworden sein: "Seit gestern Abend frage ich mich, ob man die ganze Geschichte schon im Kopf haben muss, bevor man zu erzählen beginnt, oder ob alles vom ersten Satz abhängt. Aus dem dann der zweite folgt, der dritte, bis es zu Ende ist . . . der Roman, den ich schreiben werde, ich kann das . . . du kannst das, fang einfach an." Im letzten Satz wird also eingelöst, was der Titel des Buchs versprochen hat: Ein Erzähler ist zu sich selbst geworden.
Das ist ein probater Trick, seit Marcel Proust mit "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" vorgemacht hat, wie man den eigenen Schreibwillen zur Grundlage einer weltweitenden Fiktion machen kann, in der mehr Wahrheit geboten wird, als es jede Autobiographie gekonnt hätte. Weil es dabei im Gegensatz zum Leben um alles geht. Peltzer lässt es sein Alter Ego so formulieren: "Für mich ist Kunst nie ein Spiel gewesen, aus dem man nach Belieben einsteigt oder aussteigt, so distanziert ich meinem Leben sonst oft begegne. Mein Leben mir, eher so herum."
In Begegnung steckt auch Gegnerschaft. Ulrich Peltzers Protagonisten haben zu kämpfen mit dem, was ihnen widerfährt, und das nicht nur in seiner unausgewiesenen Trilogie von politisch motivierten Romanen, "Alle oder keiner" (1999), "Teil der Lösung" (2007) und "Das bessere Leben" (2015). "Das bist du" ist nun Ab- und Rückkehr: weg von der Gesellschaftskritik, zurück zur Stadtphänomenologie. Mehr noch als ein Porträt des Künstlers als junger Mann ist der Roman ein Berlin-Buch, das nicht nur ein paar Sommertage umfasst, sondern in weiten Passagen auch die zwei Jahre zuvor und in einigen kleineren die dreieinhalb Jahrzehnte seitdem: "Als ich Karla, die zwei erwachsene Söhne hat, vor ein paar Wochen sah, erzählte sie mir, dass ich damals mit Entschiedenheit verkündet hätte, ich würde Schriftsteller werden. Stimmt nicht, Karla, sagte ich, never ever, sie lachte, doch, doch." Die alte Berliner Bekannte hat recht behalten.
Peltzers Debütroman "Die Sünden der Faulheit" erschien 1987 und enthielt einen Satz, der vorwegnahm, was ihn und damit auch den Erzähler von "Das bis du" umtreiben würde: "Wollte man alle Geschichte erzählen, die an einem Abend in einer großen Stadt beginnen, brauchte man nicht anzufangen." Seine Frankfurter Poetikvorlesungen, gehalten 2011, überschrieb Peltzer deshalb programmatisch mit "Angefangen wird mittendrin" und machte sie zum Loblied auf die für die moderne Literatur kennzeichnende Defokussierung: "Konzentrierte Zerstreutheit wird Normalzustand." In Peltzers Romanen agiert wie auch oft bei Kracht ein Kameraauge - kalte, blinde Maschinerie ohne Eigeninteresse, die das Beobachterideal abgibt: mit tausend Schwenks durch die Welt. So war "Die Sünden der Faulheit" erzählt, und so verhielt es sich auch bei dem Roman, der Peltzer berühmt gemacht hat: "Stefan Martinez" von 1995. Zusammen gelesen bieten diese beiden Bücher - Krimiburleske der erste, Bildungsroman der zweite - ein West-Berlin-Porträt, das schon deshalb das letzte literarische Wort zu seinem Gegenstand darstellt, weil es den seit 1990 nicht mehr gab.
Verwoben sind Peltzers Panoramaperspektiven mit dem scheinindividuellen Blick seiner Protagonisten, in die auch schon vor "Das bist du" die Biographie des Autors eingeflossen war. Der neue Roman wird so auch zum Materialienband für die ersten beiden, zu einer Art Making-of zu "Die Sünden der Faulheit" und "Stefan Martinez", zur Schauplatzrecherche
Fortsetzung auf der folgenden Seite
in Berlin und zum Casting des literarischen Personals. Schon in "Stefan Martinez" sahen wir einen Filmvorführer unter den Yorckbrücken zu seinem Arbeitsplatz gehen, und dort fand sich auch gleich zu Beginn eine Schilderung des Titelhelden vor einem Kinoprogrammschaukasten, die das erzählerische Programm dieses Romans klarmachte: "Als er sich vorbeugte, um eine Szene, die aus ,Gloria' kopiert war, genauer zu betrachten, kam ihm sein Gesicht so plötzlich entgegen, daß er zurückwich. Wie wenn einer drinsteckt, mit dem man nicht rechnet. Ich ist." Ein Vierteljahrhundert später heißt es nun "Das bist du". Wo Christian Kracht sich mit "Eurotrash" den Spaß eines Sequels zu "Faserland" erlaubt, hat Ulrich Peltzer das Prequel zu seinem Frühwerk geschaffen.
Peltzer und Kracht sind in jeder Hinsicht die beiden kinematographischsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur: formal, ästhetisch, inhaltlich. Sie finden sogar dieselben Bilder, am verblüffendsten im Fall des Fischauges im Restaurant, das in "Eurotrash" zur zentralen Erzählchiffre wird. Schwer vorstellbar, dass Kracht "Die Sünden der Faulheit" gelesen hat, aber dort liest man als eine der für Peltzer typischen Detailaufnahmen: "Am Tisch der beiden Schwulen wurde der Karpfen tranchiert, dessen verkochte Augen trübe in den Höhlen lagen." Die Zerstörung dieses Sehorgans ist beiden Autoren deshalb wichtig, weil das Fischauge ja auch der Begriff für ein optisches Instrument ist, das die für sie charakteristische Panoramaperspektive ermöglicht.
Und beide haben den unbestechlichen Blick für die skurrile Situation. Mitten in "Das bist du" schaltet Peltzer eine Straßenszene ein, die keine narrative Funktion hat außer ihrer grotesken Schönheit: "Eines Nachts fuhr ich einem Auto, das an einer roten Ampel wartete, Nürnberger Ecke Augsburger, vors Heck. Nichts Großes, Stoßstange gegen Stoßstange, aber ich hatte getrunken. Bevor ich aussteigen konnte, stand der andere Fahrer schon neben mir. Durch hektische Armbewegungen gab er mir zu verstehen, ich solle das Fenster herunterkurbeln. Keine Bullen, stieß er dann hervor, ich bin auf Pille, okay, okay? Als ich nickte, lief er zurück, sprang in seinen Wagen und fuhr sofort los. Über die mittlerweile wieder rote Ampel." So etwas kann man nicht erfinden, und deshalb ist es große Kunst, es in einen Roman einzubauen. Diese Kunst stellt uns vor die Herausforderung, das Reale vom Fiktiven nicht zu scheiden, aber beides zu unterscheiden.
"Andere Menschen, andere Orte, Wohnungen, Zimmer, Hotels, es ist unmöglich geworden, eine durchgehende Linie durch die Zeit zu ziehen" - so lautet die Herausforderung für Ulrich Peltzer. Teil der Lösung, wie dieser Schriftsteller sie begreift, ist der neue Roman: "Du warst das, das bist du, muss man sich zuflüstern, fast wie eine Beschwörung." Völlig unironisch. Hinreißend.
Ulrich Peltzer: "Das bist du". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 287 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die erhellenden Filmszenen der Erinnerung: Ulrich Peltzers Roman "Das bist du" setzt sich auf die Spur des eigenen Ichs in einer Zeit vor dem Willen zum Schreiben. Für diesen Schriftsteller stellt sich immer wieder neu die Frage: In welcher Fiktion haben wir gelebt?
Von Andreas Platthaus
Pardon, aber wer Christian Kracht sagt, muss auch Ulrich Peltzer lesen. Denn das, was bei den beiden coronabedingt gleichzeitig herausgekommenen Romanen dieser Schriftsteller - Peltzers Buch war eigentlich bereits fürs vergangene Jahr angekündigt - auf den ersten Blick als unterschiedlichste Formen autobiographisch-fiktionalen Schreibens erscheinen könnte, erweist sich bei der Parallellektüre als ganz ähnliches Projekt mit anderen literarischen Mitteln, aber auf demselben Reflexionsniveau. Kracht setzt auf ironische Distanz zur Gegenwart, Peltzer ganz unironisch auf teilnehmende Rückgewinnung der Vergangenheit. Zwischen beiden Romanhandlungen liegen fast vierzig Jahre, doch das Resultat ihrer jeweiligen Weltbeschreibung ist beide Male atemraubend intensiv.
Ulrich Peltzer nennt seinen neuen Roman "Das bist du". Diesen Buchtitel meint er als Anrede seiner selbst: Identifikation des Autors durch den und mit dem Ich-Erzähler. Der ist ein nie namentlich genannter, aber biographisch mit seinem Verfasser identischer junger Mann, der in den mittleren achtziger Jahren als Student in West-Berlin lebt und zu Beginn der Handlung an einem Sommertag unter den Yorckbrücken hindurch zu seiner Arbeit als Kinovorführer geht. Am Schluss des Romans wird er nur ein paar Tage älter, aber zum Schriftsteller geworden sein: "Seit gestern Abend frage ich mich, ob man die ganze Geschichte schon im Kopf haben muss, bevor man zu erzählen beginnt, oder ob alles vom ersten Satz abhängt. Aus dem dann der zweite folgt, der dritte, bis es zu Ende ist . . . der Roman, den ich schreiben werde, ich kann das . . . du kannst das, fang einfach an." Im letzten Satz wird also eingelöst, was der Titel des Buchs versprochen hat: Ein Erzähler ist zu sich selbst geworden.
Das ist ein probater Trick, seit Marcel Proust mit "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" vorgemacht hat, wie man den eigenen Schreibwillen zur Grundlage einer weltweitenden Fiktion machen kann, in der mehr Wahrheit geboten wird, als es jede Autobiographie gekonnt hätte. Weil es dabei im Gegensatz zum Leben um alles geht. Peltzer lässt es sein Alter Ego so formulieren: "Für mich ist Kunst nie ein Spiel gewesen, aus dem man nach Belieben einsteigt oder aussteigt, so distanziert ich meinem Leben sonst oft begegne. Mein Leben mir, eher so herum."
In Begegnung steckt auch Gegnerschaft. Ulrich Peltzers Protagonisten haben zu kämpfen mit dem, was ihnen widerfährt, und das nicht nur in seiner unausgewiesenen Trilogie von politisch motivierten Romanen, "Alle oder keiner" (1999), "Teil der Lösung" (2007) und "Das bessere Leben" (2015). "Das bist du" ist nun Ab- und Rückkehr: weg von der Gesellschaftskritik, zurück zur Stadtphänomenologie. Mehr noch als ein Porträt des Künstlers als junger Mann ist der Roman ein Berlin-Buch, das nicht nur ein paar Sommertage umfasst, sondern in weiten Passagen auch die zwei Jahre zuvor und in einigen kleineren die dreieinhalb Jahrzehnte seitdem: "Als ich Karla, die zwei erwachsene Söhne hat, vor ein paar Wochen sah, erzählte sie mir, dass ich damals mit Entschiedenheit verkündet hätte, ich würde Schriftsteller werden. Stimmt nicht, Karla, sagte ich, never ever, sie lachte, doch, doch." Die alte Berliner Bekannte hat recht behalten.
Peltzers Debütroman "Die Sünden der Faulheit" erschien 1987 und enthielt einen Satz, der vorwegnahm, was ihn und damit auch den Erzähler von "Das bis du" umtreiben würde: "Wollte man alle Geschichte erzählen, die an einem Abend in einer großen Stadt beginnen, brauchte man nicht anzufangen." Seine Frankfurter Poetikvorlesungen, gehalten 2011, überschrieb Peltzer deshalb programmatisch mit "Angefangen wird mittendrin" und machte sie zum Loblied auf die für die moderne Literatur kennzeichnende Defokussierung: "Konzentrierte Zerstreutheit wird Normalzustand." In Peltzers Romanen agiert wie auch oft bei Kracht ein Kameraauge - kalte, blinde Maschinerie ohne Eigeninteresse, die das Beobachterideal abgibt: mit tausend Schwenks durch die Welt. So war "Die Sünden der Faulheit" erzählt, und so verhielt es sich auch bei dem Roman, der Peltzer berühmt gemacht hat: "Stefan Martinez" von 1995. Zusammen gelesen bieten diese beiden Bücher - Krimiburleske der erste, Bildungsroman der zweite - ein West-Berlin-Porträt, das schon deshalb das letzte literarische Wort zu seinem Gegenstand darstellt, weil es den seit 1990 nicht mehr gab.
Verwoben sind Peltzers Panoramaperspektiven mit dem scheinindividuellen Blick seiner Protagonisten, in die auch schon vor "Das bist du" die Biographie des Autors eingeflossen war. Der neue Roman wird so auch zum Materialienband für die ersten beiden, zu einer Art Making-of zu "Die Sünden der Faulheit" und "Stefan Martinez", zur Schauplatzrecherche
Fortsetzung auf der folgenden Seite
in Berlin und zum Casting des literarischen Personals. Schon in "Stefan Martinez" sahen wir einen Filmvorführer unter den Yorckbrücken zu seinem Arbeitsplatz gehen, und dort fand sich auch gleich zu Beginn eine Schilderung des Titelhelden vor einem Kinoprogrammschaukasten, die das erzählerische Programm dieses Romans klarmachte: "Als er sich vorbeugte, um eine Szene, die aus ,Gloria' kopiert war, genauer zu betrachten, kam ihm sein Gesicht so plötzlich entgegen, daß er zurückwich. Wie wenn einer drinsteckt, mit dem man nicht rechnet. Ich ist." Ein Vierteljahrhundert später heißt es nun "Das bist du". Wo Christian Kracht sich mit "Eurotrash" den Spaß eines Sequels zu "Faserland" erlaubt, hat Ulrich Peltzer das Prequel zu seinem Frühwerk geschaffen.
Peltzer und Kracht sind in jeder Hinsicht die beiden kinematographischsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur: formal, ästhetisch, inhaltlich. Sie finden sogar dieselben Bilder, am verblüffendsten im Fall des Fischauges im Restaurant, das in "Eurotrash" zur zentralen Erzählchiffre wird. Schwer vorstellbar, dass Kracht "Die Sünden der Faulheit" gelesen hat, aber dort liest man als eine der für Peltzer typischen Detailaufnahmen: "Am Tisch der beiden Schwulen wurde der Karpfen tranchiert, dessen verkochte Augen trübe in den Höhlen lagen." Die Zerstörung dieses Sehorgans ist beiden Autoren deshalb wichtig, weil das Fischauge ja auch der Begriff für ein optisches Instrument ist, das die für sie charakteristische Panoramaperspektive ermöglicht.
Und beide haben den unbestechlichen Blick für die skurrile Situation. Mitten in "Das bist du" schaltet Peltzer eine Straßenszene ein, die keine narrative Funktion hat außer ihrer grotesken Schönheit: "Eines Nachts fuhr ich einem Auto, das an einer roten Ampel wartete, Nürnberger Ecke Augsburger, vors Heck. Nichts Großes, Stoßstange gegen Stoßstange, aber ich hatte getrunken. Bevor ich aussteigen konnte, stand der andere Fahrer schon neben mir. Durch hektische Armbewegungen gab er mir zu verstehen, ich solle das Fenster herunterkurbeln. Keine Bullen, stieß er dann hervor, ich bin auf Pille, okay, okay? Als ich nickte, lief er zurück, sprang in seinen Wagen und fuhr sofort los. Über die mittlerweile wieder rote Ampel." So etwas kann man nicht erfinden, und deshalb ist es große Kunst, es in einen Roman einzubauen. Diese Kunst stellt uns vor die Herausforderung, das Reale vom Fiktiven nicht zu scheiden, aber beides zu unterscheiden.
"Andere Menschen, andere Orte, Wohnungen, Zimmer, Hotels, es ist unmöglich geworden, eine durchgehende Linie durch die Zeit zu ziehen" - so lautet die Herausforderung für Ulrich Peltzer. Teil der Lösung, wie dieser Schriftsteller sie begreift, ist der neue Roman: "Du warst das, das bist du, muss man sich zuflüstern, fast wie eine Beschwörung." Völlig unironisch. Hinreißend.
Ulrich Peltzer: "Das bist du". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2021. 287 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein stilistisch brillianter Roman, der dem "unauflösbaren Rätsel" des eigenen Ichs nachgeht und Berlin zu seinem heimlichen Protagonisten macht. Rainer Moritz Chrismon 20210701