Über dreißig Jahre lang hat es Jenny Diski nicht interessiert, ob ihre Mutter noch lebt. Wenn überhaupt etwas, dann hat sie Erleichterung darüber empfunden, dass sie seit 1966, kurz nach dem Tod ihres Vaters, nichts mehr von ihr gehört hat.
Plötzlich, gerade als sie beschlossen hat, ihren Traum von einer Reise ins ewige Eis zu verwirklichen, fängt ihre Tochter an nachzuforschen, was mit der verschollenen Großmutter passiert ist.
Warum die Antarktis? Woher diese Sehnsucht nach dem Weiß?
Angetrieben von den Fragen ihrer Tochter, dringt Jenny Diski in die vergessene und verdränge Welt ihrer Kindheit vor und porträtiert die antarktische Landschaft, ihre Gletscher und Eisberge, ihre Farben, ihr Licht, ihre schiere Unendlichkeit.
Plötzlich, gerade als sie beschlossen hat, ihren Traum von einer Reise ins ewige Eis zu verwirklichen, fängt ihre Tochter an nachzuforschen, was mit der verschollenen Großmutter passiert ist.
Warum die Antarktis? Woher diese Sehnsucht nach dem Weiß?
Angetrieben von den Fragen ihrer Tochter, dringt Jenny Diski in die vergessene und verdränge Welt ihrer Kindheit vor und porträtiert die antarktische Landschaft, ihre Gletscher und Eisberge, ihre Farben, ihr Licht, ihre schiere Unendlichkeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.1999Schlittschuhe über glasierter Welt
Im Herzen des Eises: Jenny Diski beneidet den Pinguin
Die englische Autorin Jenny Diski ist eine virtuose Protokollantin der beschädigten Existenz. Noch ungeschützter als in ihren Romanen stellt ihr jüngstes Buch, "Das blaue Herz des Eises", den Umgang mit eigenen Schwächen aus. Es kreist um Diskis Kindheit und die Narben, die diese zurückgelassen hat. Die Eltern führten eine turbulente Ehe, in der die Mutter immer mehr der Depression verfiel, während der Vater sich als Heiratsschwindler zwischen alle Türen setzte. Als er eines Tages ganz aus dem Familienleben verschwand und die mit griechischer Wucht entgeisterte Mutter in die Psychiatrie eingeliefert wurde, war auch die zu Pflegeeltern verfrachtete Tochter reif für ihre erste Krise. Diski lernte die relative Geborgenheit einer Nervenklinik schon im Teenageralter kennen. Von ihrer Leere und dem Weiß ihrer Räume handelt "Das blaue Herz des Eises", auch wenn das Buch in keinem Hospital spielt.
Die Erzählung kreist um zwei Vorgänge, die zueinander in Beziehung stehen: Diskis Tochter Chloe beginnt nach dem Verbleib ihrer Großmutter zu forschen, und Diski begibt sich in schöner Synchronität auf eine Antarktisreise. Von Anfang an ist der vereiste Kontinent eine Metapher für die eingefrorene Vergangenheit. Die durch den Polyester der Analyse wohlimprägnierte Autorin legt keinen Wert darauf, Geschehenes aufzutauen. Sie begibt sich in die Kältezone, um wie ein Schlittschuhläufer über die glasierte Welt dahinzugleiten. Die vom Lauf geritzten Figuren werden zum Sinnbild des Schreibvorgangs: "Man kam nirgendwohin, war, fast meditativ, einzig und allein konzentriert auf das Eis, um die Qualität der Spuren einzuschätzen, die unter den eigenen Kufen zum Vorschein kamen." Am Südpol ist die Frostschicht beruhigend tief. Als ungefestigtes Kind mit einer neurotischen Mutter zu leben war hingegen "wie Schlittschuhlaufen auf dünnem Eis. Das Eis bekam täglich neue Risse".
Bei Diski steht das Eis für den Schutz vor einer überwältigenden Wirklichkeit. Wo Ich ist, muß mit dem Realen auch die Eindeutigkeit des Wahren weichen. Im Streit der Eltern wurde die Wahrheit zum Bewußtseinsschlamm: "Die Wahrheit war etwas, was sich im Hinterkopf von Leuten anstaute und dann aus diesen Köpfen hervorspritzte wie Dreckwasser, wenn der Druck von Wut oder Angst groß genug geworden war. "Manchmal sichert nur die Verweigerung, die Auszeit in der Anstalt, das Überleben. Die farblose Sanatoriumssphäre ist für Diski die Urzelle des fiktiven Raums. Auch die Antarktisreise ist so eine Distanzierung, die den psychischen Fakten im Gleichnis zu Leibe rückt. Obwohl sie allem Anschein nach wirklich stattfand, ist sie zugleich eine Fiktion: eine kunstreiche Erfindung, um seelische Verworrenheiten auf einer weißen Fläche auszubreiten.
Daß diese Fahrt an die abgelegene Seite der Erde und des Ichs ein großer Lesegenuß ist, liegt an Diskis trockenem Humor und ihrer schwerelosen Ironie. Beide wurden von Brigitte Walitzek mit großem Feingefühl übersetzt. Die zusammengewürfelte Reisegesellschaft, mit der sich Diski an Bord eines russischen Kreuzfahrtschiffes begibt, entpuppt sich unter einer Pirouetten drehenden Feder als kostbares Skurrilitätenkabinett. Doch gerade die ausgeprägte Bizarrerie wirkt auf eine Autorin, die den Masken der Normalität mißtraut, erheiternd und beruhigend.
Nur in einem Punkt ähneln die Passagiere denen jedes anderen Vergnügungsdampfers: Die Ankunft in der Antarktis wird von ihnen durch frenetisches Filmen und Fotografieren inszeniert. Die Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden verstellt im Moment der Landung ein elementares Bedürfnis nach Nichtauthentizität, Kopie, Ersatz, Entlastung von der Präsenz. Auch die reproduktiven Medien sind eine Art von Eis, das vor neuen Eindrücken schützt: "Ich fragte mich auch, ob es überhaupt möglich war, noch etwas Neues zu erleben. Wenn es einen Augenblick des Staunens gab, dann lag er in der verblüffenden Nähe der Realität zu dem, was ich bereits anderswo gesehen hatte. Wenn ich aufs Meer hinaussah, mußte ich manchmal erst all die Filme, die ich gesehen hatte, von mir abschütteln."
Diskis schützende Selbstverhärtung ist Signatur und Symptom der Epoche. Unter den Wundern der Antarktis keimt in ihr der Wunsch auf, den Wall des immer schon Gesehenen zu durchbrechen. Sie beneidet die Pinguine um ihr tagelanges Stehen und Starren. Ihr leidenschaftsloses Ausharren vor der Leere des Eismeers macht sie zu Ikonen der gleichmäßig schwebenden Aufmerksamkeit des analytischen Ärzteblicks. Doch Jenny Diski läßt sich von dieser anthropozentrischen Deutung nicht lange verführen. Das reine, ungetrübte Schauen gibt es so wenig wie das unversehrte Bewußtsein. Von weitem fesselt das Bild eines Pinguins in Begleitung einer Raubmöwe ihr Interesse: "Die beiden Tiere ignorierten einander, zumindest in dem Sinn, daß keins von ihnen das andere ansah oder Notiz von ihm nahm. Auf den ersten Blick war es ein bezauberndes Bild, zwei Lebewesen im Einklang miteinander, richtiges ,Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen'-Zeugs." Aus der Nähe betrachtet, steht der Pinguin mit beiden Flossen im Dreck, die Jungen sperren die Mäuler auf, und an seiner Seite klafft eine frischgeschlagene Wunde.
INGEBORG HARMS Jenny Diski: "Das blaue Herz des Eises". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Luchterhand Verlag, München 1999. 270 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Herzen des Eises: Jenny Diski beneidet den Pinguin
Die englische Autorin Jenny Diski ist eine virtuose Protokollantin der beschädigten Existenz. Noch ungeschützter als in ihren Romanen stellt ihr jüngstes Buch, "Das blaue Herz des Eises", den Umgang mit eigenen Schwächen aus. Es kreist um Diskis Kindheit und die Narben, die diese zurückgelassen hat. Die Eltern führten eine turbulente Ehe, in der die Mutter immer mehr der Depression verfiel, während der Vater sich als Heiratsschwindler zwischen alle Türen setzte. Als er eines Tages ganz aus dem Familienleben verschwand und die mit griechischer Wucht entgeisterte Mutter in die Psychiatrie eingeliefert wurde, war auch die zu Pflegeeltern verfrachtete Tochter reif für ihre erste Krise. Diski lernte die relative Geborgenheit einer Nervenklinik schon im Teenageralter kennen. Von ihrer Leere und dem Weiß ihrer Räume handelt "Das blaue Herz des Eises", auch wenn das Buch in keinem Hospital spielt.
Die Erzählung kreist um zwei Vorgänge, die zueinander in Beziehung stehen: Diskis Tochter Chloe beginnt nach dem Verbleib ihrer Großmutter zu forschen, und Diski begibt sich in schöner Synchronität auf eine Antarktisreise. Von Anfang an ist der vereiste Kontinent eine Metapher für die eingefrorene Vergangenheit. Die durch den Polyester der Analyse wohlimprägnierte Autorin legt keinen Wert darauf, Geschehenes aufzutauen. Sie begibt sich in die Kältezone, um wie ein Schlittschuhläufer über die glasierte Welt dahinzugleiten. Die vom Lauf geritzten Figuren werden zum Sinnbild des Schreibvorgangs: "Man kam nirgendwohin, war, fast meditativ, einzig und allein konzentriert auf das Eis, um die Qualität der Spuren einzuschätzen, die unter den eigenen Kufen zum Vorschein kamen." Am Südpol ist die Frostschicht beruhigend tief. Als ungefestigtes Kind mit einer neurotischen Mutter zu leben war hingegen "wie Schlittschuhlaufen auf dünnem Eis. Das Eis bekam täglich neue Risse".
Bei Diski steht das Eis für den Schutz vor einer überwältigenden Wirklichkeit. Wo Ich ist, muß mit dem Realen auch die Eindeutigkeit des Wahren weichen. Im Streit der Eltern wurde die Wahrheit zum Bewußtseinsschlamm: "Die Wahrheit war etwas, was sich im Hinterkopf von Leuten anstaute und dann aus diesen Köpfen hervorspritzte wie Dreckwasser, wenn der Druck von Wut oder Angst groß genug geworden war. "Manchmal sichert nur die Verweigerung, die Auszeit in der Anstalt, das Überleben. Die farblose Sanatoriumssphäre ist für Diski die Urzelle des fiktiven Raums. Auch die Antarktisreise ist so eine Distanzierung, die den psychischen Fakten im Gleichnis zu Leibe rückt. Obwohl sie allem Anschein nach wirklich stattfand, ist sie zugleich eine Fiktion: eine kunstreiche Erfindung, um seelische Verworrenheiten auf einer weißen Fläche auszubreiten.
Daß diese Fahrt an die abgelegene Seite der Erde und des Ichs ein großer Lesegenuß ist, liegt an Diskis trockenem Humor und ihrer schwerelosen Ironie. Beide wurden von Brigitte Walitzek mit großem Feingefühl übersetzt. Die zusammengewürfelte Reisegesellschaft, mit der sich Diski an Bord eines russischen Kreuzfahrtschiffes begibt, entpuppt sich unter einer Pirouetten drehenden Feder als kostbares Skurrilitätenkabinett. Doch gerade die ausgeprägte Bizarrerie wirkt auf eine Autorin, die den Masken der Normalität mißtraut, erheiternd und beruhigend.
Nur in einem Punkt ähneln die Passagiere denen jedes anderen Vergnügungsdampfers: Die Ankunft in der Antarktis wird von ihnen durch frenetisches Filmen und Fotografieren inszeniert. Die Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden verstellt im Moment der Landung ein elementares Bedürfnis nach Nichtauthentizität, Kopie, Ersatz, Entlastung von der Präsenz. Auch die reproduktiven Medien sind eine Art von Eis, das vor neuen Eindrücken schützt: "Ich fragte mich auch, ob es überhaupt möglich war, noch etwas Neues zu erleben. Wenn es einen Augenblick des Staunens gab, dann lag er in der verblüffenden Nähe der Realität zu dem, was ich bereits anderswo gesehen hatte. Wenn ich aufs Meer hinaussah, mußte ich manchmal erst all die Filme, die ich gesehen hatte, von mir abschütteln."
Diskis schützende Selbstverhärtung ist Signatur und Symptom der Epoche. Unter den Wundern der Antarktis keimt in ihr der Wunsch auf, den Wall des immer schon Gesehenen zu durchbrechen. Sie beneidet die Pinguine um ihr tagelanges Stehen und Starren. Ihr leidenschaftsloses Ausharren vor der Leere des Eismeers macht sie zu Ikonen der gleichmäßig schwebenden Aufmerksamkeit des analytischen Ärzteblicks. Doch Jenny Diski läßt sich von dieser anthropozentrischen Deutung nicht lange verführen. Das reine, ungetrübte Schauen gibt es so wenig wie das unversehrte Bewußtsein. Von weitem fesselt das Bild eines Pinguins in Begleitung einer Raubmöwe ihr Interesse: "Die beiden Tiere ignorierten einander, zumindest in dem Sinn, daß keins von ihnen das andere ansah oder Notiz von ihm nahm. Auf den ersten Blick war es ein bezauberndes Bild, zwei Lebewesen im Einklang miteinander, richtiges ,Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen'-Zeugs." Aus der Nähe betrachtet, steht der Pinguin mit beiden Flossen im Dreck, die Jungen sperren die Mäuler auf, und an seiner Seite klafft eine frischgeschlagene Wunde.
INGEBORG HARMS Jenny Diski: "Das blaue Herz des Eises". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Luchterhand Verlag, München 1999. 270 S., geb., 34,- DM.
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