'Am Tag nach Breschnews Tod, am 11.11.1982, beginnt wie jedes Jahr zur Stunde 11 die närrische Zeit. Von staatswegen wird allerdings Trauer angeordnet, weshalb schon ein mutiger Narr sein muss, wer sich öffentlich maskiert. Sieben Geschwister von teilweise verschiedenen Vätern sind unterdessen auf dem Weg nach Westthüringen, zur Beerdigung ihrer Mutter Elfriede. Nur der älteste Bruder fehlt 1972 kam er auf mysteriöse Weise ums Leben. Dennoch scheint er anwesend zu sein, als seine Geschwister die Mutter zu Grabe tragen. Oder ist daran nur die fünfte Jahreszeit schuld? Emma Braslavsky erzählt in ihrem zweiten Roman eine Familiengeschichte, die drei Generationen umfasst und vom preußischen Osten bis ins amerikanische Utah reicht. Über ihre Herkunft wissen die Geschwister nicht viel, die Mutter hat vor allem das Leben der Großmutter tief im Dunkel der Historie vergraben. Mit dieser Ungewissheit gehen Gedächtnis und Identität eine neue, ungewohnte Verbindung ein, und lauter mögliche Variationen über ihr Schicksal umranken im Gespräch der Geschwister den Sarg. Die vielen absurden, traurigen und komischen Lebens- und Todesgeschichten, die zahlreichen Mythen und Legenden fügt Emma Braslavsky geschickt zu einer skurrilen Zeremonie der Erinnerung zusammen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2008Und in der Kartoffelsuppe wartet das Unheil
Emma Braslavsky erzählt das Blaue vom Himmel herunter
Von Andrea Diener
Fassen wir zusammen: Die Großmutter verschwindet spurlos, jedoch nicht ohne ihrem Enkel Herbert ein geheimnisvolles Manuskript zu hinterlassen und ihm einzuschärfen, er solle es nicht vor seinem vierzehnten Geburtstag lesen. Der Enkel versteckt das Papier auf einer schlesischen Außentoilette und liest es brav erst zu besagtem Zeitpunkt - vergisst jedoch, es einzupacken, als die Familie bei Kriegsende Hals über Kopf nach Thüringen flieht. Beim Versuch, Jahre später an das Manuskript zu gelangen, stirbt er unter mysteriösen Umständen. Die Mutter weigert sich zeit ihres Lebens, über die Großmutter zu sprechen, und stirbt zehn Jahre nach ihrem Sohn. So weit die Ausgangslage von Emma Braslavskys zweitem Roman "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik".
Die Erzählung setzt ein im Jahr 1982, als sich die sechs verbliebenen Enkel bei der Beerdigung ihrer Mutter in Thüringen wiedertreffen. Reihum kommen sie zu Wort, und auch der verstorbene Herbert mischt sich als Erzähler unter die Stimmen. Hundert Seiten lang stehen die Geschwister am Sarg und üben sich in Andacht, doch wirkliche Trauer will sich nicht einstellen. Stattdessen mutmaßen die Enkel über die Großmutter Esther, die geheimnisvolle Leerstelle in der Familie. Niemand hat sie je getroffen, nur Herbert, der Älteste, erinnert sich aus dem Jenseits an einige flüchtige Begegnungen. Hat sie wirklich ihren trunksüchtigen Mann umgebracht und ihre Kinder vernachlässigt? Wovon hat sie gelebt? Warum ist sie verschwunden? Jeder hat seine eigene Theorie, jeder mutmaßt und schnitzt sich die Großmutter, die zu ihm passt, um sich die familiären Wurzeln zu denken, die er vermisst.
Die Großmutter ist die mit Abstand plastischste Figur des Buches, gerade weil man sie nicht recht zu fassen bekommt. Die Enkel hingegen sind erschreckend einfach gestrickt: Pfarrer Richard ist ein Pfarrer, nicht mehr. Der linientreue NVA-Mann Wolfgang ist ein linientreuer NVA-Mann, der Intellektuelle Günther die Karikatur eines armen, der Kunst verpflichteten Denkers. Keine dieser Figuren ragt je über das für sie vorgesehene Schema hinaus, und keine ist wirklich interessant. Das ist für einen Familienroman, gelinde gesagt, ein Wagnis.
Für eine gewisse Überraschung sorgt am Ende Helga, das Nesthäkchen: Mit Hilfe zweier Mormonen will sie den Leichnam der Mutter nach Amerika überführen, das Sehnsuchtsland der Verstorbenen. Eigentlich wollte sie sogar dorthin auswandern, doch gab es immer Kinder oder Männer, die sie daran gehindert haben. Nun soll sie wenigstens posthum ins Land der Cowboys und Indianer reisen, beschließen die Kinder, in das Land, in dem ihre geliebten Eastwood-Western spielen. In dem Moment, als sich alle Hinterbliebenen auf diesen Schritt geeinigt haben, ist es um den Wellensittich der Mutter geschehen, dessen Sprachrepertoire aus Westernzitaten besteht und der konsequenterweise den Namen "Cowboy" trägt. Sobald der Traum von Amerika Realität wird, hat das Symbol der Sehnsucht ausgedient und muss auf möglichst kuriose Weise entsorgt werden: Cowboy ertrinkt in der Kartoffelsuppe, die auch nicht einfach eine Kartoffelsuppe ist, sondern seit drei Generationen ein zuverlässiges Zeichen familiären Unheils. Solche kleinen Skurrilitäten bereiten der Autorin sichtlichen Spaß. Wer diesen Humor teilt, kann durchaus sein Vergnügen daran haben, wie Emma Braslavsky das Blaue vom Himmel heruntererzählt. Dennoch bleiben all diese Episoden, wie auch die politischen und geschichtlichen Hintergründe, für die Figuren letztlich folgenlos, eine Pappkulisse für Pappkameraden, die in einer Art Familienaufstellung herumgeschoben und mit Symbolik behängt werden.
Bleibt das Manuskript der Großmutter, dessen Offenlegung nach dem Leichenschmaus ansteht. Darauf wartet man schließlich seit der ersten Seite. Wer aber glaubt, damit würde Licht in die Figur der Großmutter gebracht, wird enttäuscht. "Das Rätsel um Großmutter Esther ist gerade wegen des aufgetauchten Augenzeugenberichts unlösbar (und soll es auch bleiben)", heißt es lakonisch. Einen Hinweis aber gibt uns der Erzähler, denn "ein Toter aus Schlesien hat immer eine rätselhafte Geschichte zu erzählen, die ihn auch nach seinem Tod nicht zur Ruhe kommen lässt. Eines nämlich ist Großmutter Esthers Augenzeugenbericht ganz sicher: schlesisch." Aber was soll das sein, schlesisch? Was bedeutet das für einen Roman, für den Schlesien nicht viel mehr ist als eine Kulisse für Familienanekdoten, eine Außentoilette, ein paar Namen und ein dahingerauntes Mysterium? Und diese Geschichte, die stets jedes Detail durch acht Enkel, deren Ansichten und Weltbilder durchdeklinieren muss: das ist die rätselhafte Geschichte, die einen Toten nicht zur Ruhe kommen lässt? Man stellt sie sich zwingender vor. So hat sie mehr mit einem Laborversuch zu tun als mit einer Fabulierlust, die sogar den Tod überwindet.
- Emma Braslavsky: "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik". Roman. Claassen Verlag, Berlin 2008. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emma Braslavsky erzählt das Blaue vom Himmel herunter
Von Andrea Diener
Fassen wir zusammen: Die Großmutter verschwindet spurlos, jedoch nicht ohne ihrem Enkel Herbert ein geheimnisvolles Manuskript zu hinterlassen und ihm einzuschärfen, er solle es nicht vor seinem vierzehnten Geburtstag lesen. Der Enkel versteckt das Papier auf einer schlesischen Außentoilette und liest es brav erst zu besagtem Zeitpunkt - vergisst jedoch, es einzupacken, als die Familie bei Kriegsende Hals über Kopf nach Thüringen flieht. Beim Versuch, Jahre später an das Manuskript zu gelangen, stirbt er unter mysteriösen Umständen. Die Mutter weigert sich zeit ihres Lebens, über die Großmutter zu sprechen, und stirbt zehn Jahre nach ihrem Sohn. So weit die Ausgangslage von Emma Braslavskys zweitem Roman "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik".
Die Erzählung setzt ein im Jahr 1982, als sich die sechs verbliebenen Enkel bei der Beerdigung ihrer Mutter in Thüringen wiedertreffen. Reihum kommen sie zu Wort, und auch der verstorbene Herbert mischt sich als Erzähler unter die Stimmen. Hundert Seiten lang stehen die Geschwister am Sarg und üben sich in Andacht, doch wirkliche Trauer will sich nicht einstellen. Stattdessen mutmaßen die Enkel über die Großmutter Esther, die geheimnisvolle Leerstelle in der Familie. Niemand hat sie je getroffen, nur Herbert, der Älteste, erinnert sich aus dem Jenseits an einige flüchtige Begegnungen. Hat sie wirklich ihren trunksüchtigen Mann umgebracht und ihre Kinder vernachlässigt? Wovon hat sie gelebt? Warum ist sie verschwunden? Jeder hat seine eigene Theorie, jeder mutmaßt und schnitzt sich die Großmutter, die zu ihm passt, um sich die familiären Wurzeln zu denken, die er vermisst.
Die Großmutter ist die mit Abstand plastischste Figur des Buches, gerade weil man sie nicht recht zu fassen bekommt. Die Enkel hingegen sind erschreckend einfach gestrickt: Pfarrer Richard ist ein Pfarrer, nicht mehr. Der linientreue NVA-Mann Wolfgang ist ein linientreuer NVA-Mann, der Intellektuelle Günther die Karikatur eines armen, der Kunst verpflichteten Denkers. Keine dieser Figuren ragt je über das für sie vorgesehene Schema hinaus, und keine ist wirklich interessant. Das ist für einen Familienroman, gelinde gesagt, ein Wagnis.
Für eine gewisse Überraschung sorgt am Ende Helga, das Nesthäkchen: Mit Hilfe zweier Mormonen will sie den Leichnam der Mutter nach Amerika überführen, das Sehnsuchtsland der Verstorbenen. Eigentlich wollte sie sogar dorthin auswandern, doch gab es immer Kinder oder Männer, die sie daran gehindert haben. Nun soll sie wenigstens posthum ins Land der Cowboys und Indianer reisen, beschließen die Kinder, in das Land, in dem ihre geliebten Eastwood-Western spielen. In dem Moment, als sich alle Hinterbliebenen auf diesen Schritt geeinigt haben, ist es um den Wellensittich der Mutter geschehen, dessen Sprachrepertoire aus Westernzitaten besteht und der konsequenterweise den Namen "Cowboy" trägt. Sobald der Traum von Amerika Realität wird, hat das Symbol der Sehnsucht ausgedient und muss auf möglichst kuriose Weise entsorgt werden: Cowboy ertrinkt in der Kartoffelsuppe, die auch nicht einfach eine Kartoffelsuppe ist, sondern seit drei Generationen ein zuverlässiges Zeichen familiären Unheils. Solche kleinen Skurrilitäten bereiten der Autorin sichtlichen Spaß. Wer diesen Humor teilt, kann durchaus sein Vergnügen daran haben, wie Emma Braslavsky das Blaue vom Himmel heruntererzählt. Dennoch bleiben all diese Episoden, wie auch die politischen und geschichtlichen Hintergründe, für die Figuren letztlich folgenlos, eine Pappkulisse für Pappkameraden, die in einer Art Familienaufstellung herumgeschoben und mit Symbolik behängt werden.
Bleibt das Manuskript der Großmutter, dessen Offenlegung nach dem Leichenschmaus ansteht. Darauf wartet man schließlich seit der ersten Seite. Wer aber glaubt, damit würde Licht in die Figur der Großmutter gebracht, wird enttäuscht. "Das Rätsel um Großmutter Esther ist gerade wegen des aufgetauchten Augenzeugenberichts unlösbar (und soll es auch bleiben)", heißt es lakonisch. Einen Hinweis aber gibt uns der Erzähler, denn "ein Toter aus Schlesien hat immer eine rätselhafte Geschichte zu erzählen, die ihn auch nach seinem Tod nicht zur Ruhe kommen lässt. Eines nämlich ist Großmutter Esthers Augenzeugenbericht ganz sicher: schlesisch." Aber was soll das sein, schlesisch? Was bedeutet das für einen Roman, für den Schlesien nicht viel mehr ist als eine Kulisse für Familienanekdoten, eine Außentoilette, ein paar Namen und ein dahingerauntes Mysterium? Und diese Geschichte, die stets jedes Detail durch acht Enkel, deren Ansichten und Weltbilder durchdeklinieren muss: das ist die rätselhafte Geschichte, die einen Toten nicht zur Ruhe kommen lässt? Man stellt sie sich zwingender vor. So hat sie mehr mit einem Laborversuch zu tun als mit einer Fabulierlust, die sogar den Tod überwindet.
- Emma Braslavsky: "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik". Roman. Claassen Verlag, Berlin 2008. 392 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als "Familiengroteske" bezeichnet die Rezensentin Jutta Person diesen Roman. Am 11.11. des Jahrs 1982 kommen die sieben (plus ein posthumes achtes) Mitglieder einer Familie am Grab der Mutter in einem thüringischen Dorf noch einmal zusammen. Auch Clint Eastwood, den die Mutter obsessiv verehrte, ist irgendwie im Geiste dabei und sogar die verstorbene Großmutter noch, die von Familiengeheimnissen der im Roman aufzuklärenden Art umweht und umschwebt wird. Die Familienmitglieder: Vom Pastoren-"Softie", zum Frauenkleider-Günther über die Öko-Fanatikerin und den NVA-Nationalfetischisten ist manches versammelt, was nicht zusammengehört, lesen wir. Ein Kanarienvogel, berichtet die Rezensentin, pfeift erst ein Lied aus dem Eastwood-Western "Hängt ihn höher", um dann in der Kartoffelsuppe zu ertrinken. So ganz klar wird nicht, was Person alles in allem von diesem "Gag-Feuerwerk" hält. Gewiss glaubt sie nicht, dass es der Autorin an Witz mangelt. Ihre Bemerkung, dass der Witz "nicht endlos wiederholbar" sei, deutet eher darauf hin, dass sie ein bisschen zuviel davon hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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