Woher kommt das Böse? Wie kommt es, dass wir Böses tun? Diese Fragen haben Paul Ricoeur (1913-2005) - den Philosophen und Theologen, der sich selbst nie als solchen bezeichnet hat - seit seinen frühesten Arbeiten begleitet. Der vorliegende Essay, entstanden aus einem Referat, das Ricoeur 1985 an der Theologischen Fakultät Lausanne gehalten hat, kann stellvertretend für seine Beschäftigung mit diesen Fragen stehen. Angesichts dessen, was das 20. Jahrhundert an Bösem hervorgebracht hat, beleuchtet Ricoeur hier in einer exemplarischen Tiefe die verschiedenen religiösen, mythologischen und philosophischen Diskurse über das Böse. Er zeigt, wie die traditionelle Theodizee, aber auch wie Kant, Hegel oder Barth versucht haben, das Problem, das die Existenz des Bösen bedeutet, zu lösen. Ricoeur selbst plädiert für eine Weisheit, die auf die (An-)Klage verzichtet.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.12.2006Tadel und Klage
Nach Hiob: Paul Ricoeur bedenkt das Böse
Wer die Zeit nicht findet, die großen und umfänglichen Werke des 2005 verstorbenen Philosophen Paul Ricoeur zu studieren, der kann diesen kurzen Essay „Das Böse” lesen, der 1985 auf Französisch erschien und jetzt endlich in deutscher Übersetzung vorliegt. Er sollte ihn lesen, weil man jene, dem ordnenden Zugriff zäh sich widersetzende Erfahrung des Bösen selten so genau und weitblickend bedacht findet wie hier: nicht bloß als Aporie des Denkens, sondern in produktiver Wendung als Aufgabe auch des Handelns und des Fühlens. Ganz unaufdringlich wird, wie Pierre Bühler im Vorwort bemerkt, Verstandesarbeit als Moment der Lebensarbeit präsentiert.
So werden im ersten Teil das getane und das erlittene Böse als ganz unterschiedliche Erfahrungen gekennzeichnet, verschieden wie Tadel und Klage. Gleichwohl bilden beide, weil sich die Grenze zwischen Täter und Opfer auch verwischt, ein rätselhaftes, nie völlig entmythisiertes Knäuel – der Mythos ist selbst schon der Versuch, in dieses Rätsel Licht zu bringen. Im zweiten Teil des Essays werden die Ebenen im Diskurs über das Böse – eben der Mythos, die Weisheit, die Gnosis, die moderne Theodizee des Leibnizschen Typs, die nachidealistisch „gebrochene” Dialektik – als Entfaltung von Rationalität und zugleich Aufschichtung von Fragen dargestellt, deren Antworten den zu hohen Preis erfordern, dass das Aufbegehren gegen das ungerechte Erleiden von Bösem zum Schweigen gebracht oder übersehen wird.
Ricoeur zeigt hier beispielsweise, warum die Erbsündenlehre Augustins eine falsche Lösung des Problems ist, und er schlägt den Bogen über Leibniz und Kant bis zu Hegels Ontologie, die den Trost für das Individuum der Versöhnung des großen Ganzen opfert, weil sie Menschliches und Göttliches unter dem Titel „Geist” verwechselt. Die Frage an die Theologen, ob sie eine andere Dialektik kennen als die einer systematischen Totalität, findet Ricoeur auch bei Karl Barth nicht ganz eindeutig beantwortet.
Der Logik des Paradoxen, die angesichts des Rätsels der immer schon anwesenden Macht des Bösen erforderlich wird, entspricht Ricoeur, indem er das Denken, das die Aporie des nicht reduzierbaren Leidens nachdenklich annimmt, in den Zusammenhang des Handelns, das heißt der Verringerung von Gewalt, in der begangenes und erlittenes Böses verbunden sind, und in den Horizont des Fühlens stellt, einer persönliche Trauerarbeit, in der Klage und Anklage sich qualitativ verändern: die Klage gegen Gott vor Gott, der Glaube an Gott trotz des Bösen.
Über ein solche „Spiritualisierung der Klage” noch hinauszugehen und wie im Buddhismus auf den Wunsch, der im Fall der Enttäuschung die Klage oder den Sündenbock provoziert, überhaupt zu verzichten, mag dann eine „einsame Weisheitserkenntnis” sein. Ricoeur begnügt sich mit Hiob. Der Kampf gegen das Böse vereint in der Tat alle Menschen guten Willens. WALTER SPARN
PAUL RICOEUR: Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie. Zürich 2006, 64 S., 11,80 Euro.
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Nach Hiob: Paul Ricoeur bedenkt das Böse
Wer die Zeit nicht findet, die großen und umfänglichen Werke des 2005 verstorbenen Philosophen Paul Ricoeur zu studieren, der kann diesen kurzen Essay „Das Böse” lesen, der 1985 auf Französisch erschien und jetzt endlich in deutscher Übersetzung vorliegt. Er sollte ihn lesen, weil man jene, dem ordnenden Zugriff zäh sich widersetzende Erfahrung des Bösen selten so genau und weitblickend bedacht findet wie hier: nicht bloß als Aporie des Denkens, sondern in produktiver Wendung als Aufgabe auch des Handelns und des Fühlens. Ganz unaufdringlich wird, wie Pierre Bühler im Vorwort bemerkt, Verstandesarbeit als Moment der Lebensarbeit präsentiert.
So werden im ersten Teil das getane und das erlittene Böse als ganz unterschiedliche Erfahrungen gekennzeichnet, verschieden wie Tadel und Klage. Gleichwohl bilden beide, weil sich die Grenze zwischen Täter und Opfer auch verwischt, ein rätselhaftes, nie völlig entmythisiertes Knäuel – der Mythos ist selbst schon der Versuch, in dieses Rätsel Licht zu bringen. Im zweiten Teil des Essays werden die Ebenen im Diskurs über das Böse – eben der Mythos, die Weisheit, die Gnosis, die moderne Theodizee des Leibnizschen Typs, die nachidealistisch „gebrochene” Dialektik – als Entfaltung von Rationalität und zugleich Aufschichtung von Fragen dargestellt, deren Antworten den zu hohen Preis erfordern, dass das Aufbegehren gegen das ungerechte Erleiden von Bösem zum Schweigen gebracht oder übersehen wird.
Ricoeur zeigt hier beispielsweise, warum die Erbsündenlehre Augustins eine falsche Lösung des Problems ist, und er schlägt den Bogen über Leibniz und Kant bis zu Hegels Ontologie, die den Trost für das Individuum der Versöhnung des großen Ganzen opfert, weil sie Menschliches und Göttliches unter dem Titel „Geist” verwechselt. Die Frage an die Theologen, ob sie eine andere Dialektik kennen als die einer systematischen Totalität, findet Ricoeur auch bei Karl Barth nicht ganz eindeutig beantwortet.
Der Logik des Paradoxen, die angesichts des Rätsels der immer schon anwesenden Macht des Bösen erforderlich wird, entspricht Ricoeur, indem er das Denken, das die Aporie des nicht reduzierbaren Leidens nachdenklich annimmt, in den Zusammenhang des Handelns, das heißt der Verringerung von Gewalt, in der begangenes und erlittenes Böses verbunden sind, und in den Horizont des Fühlens stellt, einer persönliche Trauerarbeit, in der Klage und Anklage sich qualitativ verändern: die Klage gegen Gott vor Gott, der Glaube an Gott trotz des Bösen.
Über ein solche „Spiritualisierung der Klage” noch hinauszugehen und wie im Buddhismus auf den Wunsch, der im Fall der Enttäuschung die Klage oder den Sündenbock provoziert, überhaupt zu verzichten, mag dann eine „einsame Weisheitserkenntnis” sein. Ricoeur begnügt sich mit Hiob. Der Kampf gegen das Böse vereint in der Tat alle Menschen guten Willens. WALTER SPARN
PAUL RICOEUR: Das Böse. Eine Herausforderung für Philosophie und Theologie. Zürich 2006, 64 S., 11,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Bemerkenswert scheint Uwe Justus Wenzel diese Abhandlung des 2005 verstorbenen französischen Philosophen Paul Ricoeur über das Böse. Eine besondere Herausforderung für Philosophie und Theologie bildet die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt. Beeindruckend findet Wenzel, wie Ricoeur die Geschichte dieser Frage in "wenigen, ausdrucksstarken Strichen" skizziert. Deutlich wird für ihn bei Ricoeur die Verfeinerung des Diskurses über das Böse, der im Lauf seiner Geschichte "komplexer und anspruchsvoller" wurde, ohne letztlich aus der Aporie herauszukommen. Dennoch findet er bei Ricoeur die Hoffnung auf ein Handeln und "Fühlen", das aus den Sackgassen des mit dem Bösen überforderten Denkens herausführe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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