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Als ein junges Ehepaar in ein Haus aufs Land zieht und sich einrichtet, taucht eines Tages ein kleines Mädchen auf, geheimnisvoll, anscheinend elternlos und leicht verstört. Das Paar nimmt die kleine Giulia auf und bemüht sich geduldig und liebevoll, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen. In einem ruhigen poetischen Fluß beschreibt der Roman die Veränderungen in der Natur und die allmähliche Entwicklung eines Familienlebens, eines wunderbaren Sommers zu dritt. Dann aber bricht die Vergangenheit in die fragilen Beziehungen der Romangestalten ein, und aus der Geschichte von Konrad und Fanny,…mehr

Produktbeschreibung
Als ein junges Ehepaar in ein Haus aufs Land zieht und sich einrichtet, taucht eines Tages ein kleines Mädchen auf, geheimnisvoll, anscheinend elternlos und leicht verstört. Das Paar nimmt die kleine Giulia auf und bemüht sich geduldig und liebevoll, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen. In einem ruhigen poetischen Fluß beschreibt der Roman die Veränderungen in der Natur und die allmähliche Entwicklung eines Familienlebens, eines wunderbaren Sommers zu dritt. Dann aber bricht die Vergangenheit in die fragilen Beziehungen der Romangestalten ein, und aus der Geschichte von Konrad und Fanny, dem jungen Paar, und der rätselhaften Giulia wird die Geschichte eines Verbrechens. Roland Koch erzählt in seinem neuen Roman eine einfache, ursprüngliche Geschichte, die doch ans Wunderbare und Tragische grenzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.1998

Scheues Reh trifft faulen Pelz
Roland Koch lüftet das Geheimnis einer verstörten Seele

"Meister! sagte sie, behalte mich bei dir, es wird mir wohl tun und weh": Was Mignon einst zu Wilhelm Meister sagte, hätte auch Roland Kochs "Braunes Mädchen" zu ihrem Meister Konrad sagen können. Beide sind Findelkinder von unklar italienischer Herkunft und zweideutigem Geschlecht, beide Geschöpfe der romantischen Phantasie: naturhaft unverbildet und doch von der Zivilisation bereits geschädigt, schwer erziehbar und eben darum die berufensten Erzieherinnen ihrer Stiefeltern. Und wie Mignon liegt auch Giulia ein Geheimnis auf der verstörten Seele, das sie eher in naiver Kunst als in Sprache ausdrücken kann.

Der Erzähler freilich, dem das scheue Reh eines Tages zuläuft, ist kein Bildungsheld, der sich mit einer nützlichen Tätigkeit oder gar Entsagung anfreunden könnte. Konrad, der freischaffende Übersetzer, ist vielmehr ein rechter Faulpelz, der einen Spaziergang im Wald, ein Nickerchen in der Sonne und abends ein Bier jederzeit der literarischen Fron und der Hausarbeit vorzieht. Daß Fanny mit ihrem pflichtvergessenen Mann hadert, muß also gar nicht erst mit dem Unmut der berufstätigen Frau, daß sie Giulia anfangs nur mit Mißtrauen begegnet, mit der Eifersucht und den Launen einer Schwangeren motiviert werden.

Nur in einem Fach ist Konrad, wenn nicht Meister, so doch bildungsbeflissener Lehrling: im Jargon der alternativen Beziehungsdiskussion, überhaupt des pädagogisch-psychologischen Opferdiskurses. "Unser Leben", sinniert er ein ums andere Mal, "verlief nach mechanischen Regeln, die wir nicht absichtlich eingesetzt hatten. Wir mußten diese Ablagerungen entfernen und zu dem eigentlichen Grund unseres Zusammenseins zurückfinden. Ich war glücklich über diesen Gedanken."

Nicht zufällig und mit wachsendem Interesse übersetzt er daher ein kulturwissenschaftliches Sachbuch, das den Anteil der Medien an den kollektiven Hysterien der Neuzeit nachzuweisen sucht. Möglicherweise handelt es sich dabei um Elaine Showalters "Hystorien". Eine der wirkungsmächtigsten Hystorien der Gegenwart ist zweifellos der sexuelle Mißbrauch von Kindern. Er gehört inzwischen, wenigstens in gewissen Kreisen, zum biographischen Bildungsgang wie das frühkindliche Puppenspiel zur theatralischen Sendung des klassischen Individuums. Es überrascht insofern nicht, daß Giulia ihr Trauma einem teuflischen Kinderschänder verdankt, der sich unter der Maske des einfühlsamen Kinderpsychiaters Dr. Moritz verbirgt: Auch Mignon war ja irgendwie die Frucht einer inzestuösen Verbindung des harmlosen Harfners.

Daß Koch so glatt und platt Anschluß an ein zeitgenössisches Modethema sucht, ist indes um so erstaunlicher, als er, selber ein medienscheuer Außenseiter des Literaturbetriebs, sich in seinen Erzählungen immer wieder weltflüchtig von der Gesellschaft absondert. Auch in seinem neuen Roman sind seine Einsiedler im Bergischen Land weiter von Köln entfernt als Robinson von Defoes England, jedenfalls einsamer, ungeselliger und anachronistischer als die meisten Helden der neueren deutschen Literatur.

Fanny, die Lektorin, hält immerhin losen Kontakt zu einem Kulturbereich, als dessen eigentlicher Vertreter freilich der promovierte Kinderschänder gelten muß. Konrad dagegen, der seine Waldklause allenfalls zum Einkaufen oder für einen Besuch im Freibad verläßt, ist der klassische Fall eines einzelgängerischen romantischen Taugenichts, der in der Begegnung mit dem barfüßigen Mädchen schmerzlich seine Distanz nicht nur zur Welt der anderen, sondern auch zu jener Natur ermißt, in die er sich so gerne einhaust. Er will Giulia nicht die Unschuld rauben, muß sich aber mit dem Einwohnermeldeamt, dem Jugendamt und der Schulpflicht arrangieren. Er will sie nur ganz behutsam, gleichsam auf Zehenspitzen, in der pädagogischen Provinz Rousseaus erziehen - und setzt ihr doch mit unbedachten Fragen, vernünftelndem Räsonieren und vereinnahmender Vaterliebe so zu, daß sich das verstörte Kind in Schweigen und Krankheit flüchtet oder vollends Reißaus nimmt.

In der Schilderung des ländlichen Ehealltags und der komplizierten Dreierbeziehung entwickelt Koch beträchtliches Zartgefühl und einiges Geschick. Gewiß, er weicht immer wieder in unverbindliche Landschaftsmalerei, aufdringliche Symbole und therapeutische Formeln aus, aber das Problem dieses Romans ist nicht, daß Kochs begrenzte sprachliche Mittel - eine ganz unspektakuläre, gelegentlich umständliche und betuliche Prosa - dem heiklen Thema nicht gewachsen wären. Schmerzlicher vermißt man Präzision, Leidenschaft und vor allem einen erzählerischen Mut, der sich auch der dunkleren Seiten und Abgründe des Stoffes annähme - Mängel, die sich schon in den brüchigen Idyllen seines letzten Erzählbandes "Helle Nächte" bemerkbar machten.

Das braune Mädchen, soviel ist bald klar, steht für den Einbruch des Fremden, Elementaren in eine zur Ehe erstarrten Liebesbeziehung; es ist der Spiegel, in dem sich das Paar wiedererkennt und neu definiert. Nur sich selbst gehörend und gehorchend, setzt Giulia Gärungs- und Zersetzungsprozesse in Gang und prüft so die gute Hoffnung der angehenden Eltern auf ihre Haltbarkeit. Aber am Ende ist sie doch nur die Dea ex machina, die alle Risse kittet und alle Wunden heilt. Fanny kommt endlich nach einer sanften Geburt mit ihrem eigenen Kind nieder; demnächst wird Franziska gestillt. Dr. Moritz, an dessen kranke Seele sich Koch gleich gar nicht wagt, wird aus heiterem Himmel verhaftet und weggeschlossen, und Giulia darf, in den Schoß der Heiligen Familie aufgenommen, unter Aufsicht einer Kunsttherapeutin und Sonderschullehrerin ihr Trauma malend und musizierend abarbeiten. Zuletzt bekommt sie einen Zimmerspringbrunnen geschenkt, dessen Plätschern sie beruhigen soll. MARTIN HALTER

Roland Koch: "Das braune Mädchen". Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 1998. 188 S., geb., 36,- DM.

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