Göran Sonnevis großes poetisches Werk - für das er 2006 mit dem Preis des Nordischen Rats ausgezeichnet wurde - ist ein fortlaufender Kommentar zur Zeit, "in dem das Alltäglichste, intim Persönlichste gemeinsam mit avancierter Reflexion über naturwissenschaftliche Erkenntnisse auftritt, gemeinsam mit politisch-moralischen Fragen" (Bengt Emil Johnson). Die Gedichte des aus Schweden stammenden Autors denken verschiedenste Elemente und Materialien zusammen und ergeben einen Gesang über den Weltzustand, wie er in seiner elementaren Wucht in der gegenwärtigen Poesie nur selten zu hören ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2009Mozarts drittes Gehirn
Die Gesänge des schwedischen Dichters Göran Sonnevi
Am 24. Oktober 1997 fährt der schwedische Dichter Göran Sonnevi mit der S-Bahn nach Wannsee. Am Bahnhof Westkreuz hört er seltsam aggressiven hymnischen Gesang. An- und abschwellend steigen die Rufe auf: "Sieg Heil! Sieg Heil! / Und ich spürte die Spannung in den Waggons, während ich mich / umsah." Viel mehr notiert er nicht in den wenigen Zeilen, die sich zu seinem Gedicht zusammenschließen. Ob es sich um grölende Fußball-Fans oder gewaltbereite Neonazis handelt, lässt er offen. Er endet mit den Zeilen: "Unterwegs nach Wannsee / Wo die Sonne stand, weiß, kalt / über dem Wald, dem See, der Villa."
"Villa", das letzte Wort, reißt das Gedicht in einen historischen Zusammenhang. Gemeint ist die Wannsee-Villa, in der 1942 die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde. Für Sonnevi ist das Gedicht - mit einer Formulierung Celans - seiner Daten eingedenk. Die historischen Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts sind auch sein Thema. In diesem Kontext hat er schon früh Celan übersetzt; dazu Bobrowski und Enzensberger, aber auch den durch den Faschismus verführten Ezra Pound. Der Gestus von Empörung, Kritik und Utopismus bestimmt bis heute seine Poesie.
Bekannt, ja populär in seiner Heimat wurde Sonnevi Mitte der sechziger Jahre. Ein signifikanter Titel dieser Zeit heißt "Eingriffe / Modelle". 1965 brachte der Zyklus "Über den Krieg in Vietnam" dem Sechsundzwanzigjährigen den publizistischen Durchbruch. Er wurde zu einem Auftakt für die schwedische Vietnam-Bewegung. Im Geiste von Blochs Utopismus betrachtete Sonnevi die Welt als fortschreitendes Experiment, freilich auch den Sieg des Vietcong als Etappe auf dem Weg zur Menschheitsbefreiung. Noch 1987 heißt es: "Das sehr alte / projekt, von der befreiung / des menschen; das ganz junge, noch / unabgeschlossen." Politisch musste Sonnevi manche Hoffnung korrigieren, poetisch blieb er seinem utopischen Programm treu.
Treu blieb ihm auch das schwedische Publikum. In Deutschland dagegen hatte Sonnevi, anders als die Kollegen Tranströmer und Gustafsson, wenig Fortune. 1989 erschienen die beiden Auswahlbände "Das Unmögliche" und "Sprache, Werkzeug, Feuer". Da hatte das deutsche Publikum andere Probleme, war das Interesse an engagierter Poesie schon wieder erloschen.
Vielleicht ist der Kairos heute günstiger. Vielleicht also glückt der neuerliche Versuch, Sonnevi in Deutschland bekannt zu machen. Sein bewährter Übersetzer Klaus-Jürgen Liedtke hat ihn unternommen. Der Band "Das brennende Haus" versammelt ausgewählte Gedichte der Jahre 1991 bis 2005, darunter Auszüge aus dem großen Zyklus "Mozarts Drittes Gehirn", der in der Originalversion allein 200 Seiten umfasst.
"Das europäische Haus brennt", mit diesem Kassandraruf beginnt einer der zentralen Gesänge: "Was wir sehn ist / erst der Beginn des Feuers." Sonnevi eröffnet ein Panorama von Zerstörung und Schrecken. Es führt von den Jahren des Faschismus bis zu den blutigen Ereignissen der Jahre 1992 und 1993 in Bosnien-Hercegovina. Er sucht den Faden, der in die Tiefen von Europas Gehirn führt und hinaus aus dem blutigen Labyrinth der Geschichte. Der Ton wechselt zwischen Reportage und elegischem Pathos. Am Ende steht das Eingeständnis: "Jede Beschreibung ist einsam // So völkermordexakt." Solche Unabgeschlossenheit gehört zur Konzeption seiner "überlangen" Gedichte, wie sie Sonnevi kokett selbstkritisch nennt.
Das schönste dieser Langgedichte steht gleich zu Anfang des Bandes. Es ist nach Ort und Zeit datiert: "Burge, Öja; Gotland; 1989" und spielt in der Zeit des Wandels von 1989: "Auf der andern Seite des Wassers befreien sich jetzt, vielleicht, langsam die baltischen Republiken." Auch hier ist das evozierte Zeitkontinuum enorm: Es reicht von Dietrich von Bern bis zu Gorbatschow: "Sein rotes Mal auf der Stirn leuchtet / Noch ist er Träger der Hoffnung."
Auch das ist schon wieder Historie. Was Sonnevis lyrische Reportagen authentisch macht, ist der Einschuss des Autobiographischen, ja Privaten: "Ich schau auf die Kätzchen der Birke, ihre Schuppen schon aufgebogen. / Ich schau auf meinen Daumen, die kleine Wunde." Es sind die kleinen Verletzungen, die die Sensibilität für den großen Schmerz glaubhaft machen. Es ist der Modus der Behutsamkeit, in dem die großen Bilder für Momente aufscheinen. Im Modus des Zweifels leuchtet der Vorschein kosmischer Ordnung: "Falls ein unsichtbarer Baum existiert, an dem / die Galaxien hängen, wie Früchte, wirbelnd, schwingend."
Solche Bilder faszinieren im Strom von Sonnevis ruheloser Produktion. Man hat dieses Werk einen fortlaufenden Lebenskommentar genannt. In ihm geht der politische Utopismus à la Bloch sukzessive in das Hölderlinsche "Werden im Vergehen" über, der marxistische Entwurf in eine chiliastische und zugleich naturwissenschaftliche Konzeption. Sie hat zugleich erotische wie kosmologische Aspekte. Was bleibt, ist die Vision eines tönenden Kosmos: "Die hohe, klare Musik / Jenseits von jedem Ton / Jenseits allen Lauschens." Der Dichter hat nur die Sprache, die sucht und imaginiert. Der Leser aber möchte mit ihm glauben, dass es diese kosmische Musik gibt. Sie ist aus Sonnevis Gesängen zu erahnen.
HARALD HARTUNG
Göran Sonnevi: "Das brennende Haus". Ausgewählte Gedichte 1991-2005. Auswahl, Übersetzung aus dem Schwedischen und Nachwort von Klaus-Jürgen Liedtke. Edition Lyrik Kabinett. Carl Hanser Verlag, München 2009. 138 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Gesänge des schwedischen Dichters Göran Sonnevi
Am 24. Oktober 1997 fährt der schwedische Dichter Göran Sonnevi mit der S-Bahn nach Wannsee. Am Bahnhof Westkreuz hört er seltsam aggressiven hymnischen Gesang. An- und abschwellend steigen die Rufe auf: "Sieg Heil! Sieg Heil! / Und ich spürte die Spannung in den Waggons, während ich mich / umsah." Viel mehr notiert er nicht in den wenigen Zeilen, die sich zu seinem Gedicht zusammenschließen. Ob es sich um grölende Fußball-Fans oder gewaltbereite Neonazis handelt, lässt er offen. Er endet mit den Zeilen: "Unterwegs nach Wannsee / Wo die Sonne stand, weiß, kalt / über dem Wald, dem See, der Villa."
"Villa", das letzte Wort, reißt das Gedicht in einen historischen Zusammenhang. Gemeint ist die Wannsee-Villa, in der 1942 die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde. Für Sonnevi ist das Gedicht - mit einer Formulierung Celans - seiner Daten eingedenk. Die historischen Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts sind auch sein Thema. In diesem Kontext hat er schon früh Celan übersetzt; dazu Bobrowski und Enzensberger, aber auch den durch den Faschismus verführten Ezra Pound. Der Gestus von Empörung, Kritik und Utopismus bestimmt bis heute seine Poesie.
Bekannt, ja populär in seiner Heimat wurde Sonnevi Mitte der sechziger Jahre. Ein signifikanter Titel dieser Zeit heißt "Eingriffe / Modelle". 1965 brachte der Zyklus "Über den Krieg in Vietnam" dem Sechsundzwanzigjährigen den publizistischen Durchbruch. Er wurde zu einem Auftakt für die schwedische Vietnam-Bewegung. Im Geiste von Blochs Utopismus betrachtete Sonnevi die Welt als fortschreitendes Experiment, freilich auch den Sieg des Vietcong als Etappe auf dem Weg zur Menschheitsbefreiung. Noch 1987 heißt es: "Das sehr alte / projekt, von der befreiung / des menschen; das ganz junge, noch / unabgeschlossen." Politisch musste Sonnevi manche Hoffnung korrigieren, poetisch blieb er seinem utopischen Programm treu.
Treu blieb ihm auch das schwedische Publikum. In Deutschland dagegen hatte Sonnevi, anders als die Kollegen Tranströmer und Gustafsson, wenig Fortune. 1989 erschienen die beiden Auswahlbände "Das Unmögliche" und "Sprache, Werkzeug, Feuer". Da hatte das deutsche Publikum andere Probleme, war das Interesse an engagierter Poesie schon wieder erloschen.
Vielleicht ist der Kairos heute günstiger. Vielleicht also glückt der neuerliche Versuch, Sonnevi in Deutschland bekannt zu machen. Sein bewährter Übersetzer Klaus-Jürgen Liedtke hat ihn unternommen. Der Band "Das brennende Haus" versammelt ausgewählte Gedichte der Jahre 1991 bis 2005, darunter Auszüge aus dem großen Zyklus "Mozarts Drittes Gehirn", der in der Originalversion allein 200 Seiten umfasst.
"Das europäische Haus brennt", mit diesem Kassandraruf beginnt einer der zentralen Gesänge: "Was wir sehn ist / erst der Beginn des Feuers." Sonnevi eröffnet ein Panorama von Zerstörung und Schrecken. Es führt von den Jahren des Faschismus bis zu den blutigen Ereignissen der Jahre 1992 und 1993 in Bosnien-Hercegovina. Er sucht den Faden, der in die Tiefen von Europas Gehirn führt und hinaus aus dem blutigen Labyrinth der Geschichte. Der Ton wechselt zwischen Reportage und elegischem Pathos. Am Ende steht das Eingeständnis: "Jede Beschreibung ist einsam // So völkermordexakt." Solche Unabgeschlossenheit gehört zur Konzeption seiner "überlangen" Gedichte, wie sie Sonnevi kokett selbstkritisch nennt.
Das schönste dieser Langgedichte steht gleich zu Anfang des Bandes. Es ist nach Ort und Zeit datiert: "Burge, Öja; Gotland; 1989" und spielt in der Zeit des Wandels von 1989: "Auf der andern Seite des Wassers befreien sich jetzt, vielleicht, langsam die baltischen Republiken." Auch hier ist das evozierte Zeitkontinuum enorm: Es reicht von Dietrich von Bern bis zu Gorbatschow: "Sein rotes Mal auf der Stirn leuchtet / Noch ist er Träger der Hoffnung."
Auch das ist schon wieder Historie. Was Sonnevis lyrische Reportagen authentisch macht, ist der Einschuss des Autobiographischen, ja Privaten: "Ich schau auf die Kätzchen der Birke, ihre Schuppen schon aufgebogen. / Ich schau auf meinen Daumen, die kleine Wunde." Es sind die kleinen Verletzungen, die die Sensibilität für den großen Schmerz glaubhaft machen. Es ist der Modus der Behutsamkeit, in dem die großen Bilder für Momente aufscheinen. Im Modus des Zweifels leuchtet der Vorschein kosmischer Ordnung: "Falls ein unsichtbarer Baum existiert, an dem / die Galaxien hängen, wie Früchte, wirbelnd, schwingend."
Solche Bilder faszinieren im Strom von Sonnevis ruheloser Produktion. Man hat dieses Werk einen fortlaufenden Lebenskommentar genannt. In ihm geht der politische Utopismus à la Bloch sukzessive in das Hölderlinsche "Werden im Vergehen" über, der marxistische Entwurf in eine chiliastische und zugleich naturwissenschaftliche Konzeption. Sie hat zugleich erotische wie kosmologische Aspekte. Was bleibt, ist die Vision eines tönenden Kosmos: "Die hohe, klare Musik / Jenseits von jedem Ton / Jenseits allen Lauschens." Der Dichter hat nur die Sprache, die sucht und imaginiert. Der Leser aber möchte mit ihm glauben, dass es diese kosmische Musik gibt. Sie ist aus Sonnevis Gesängen zu erahnen.
HARALD HARTUNG
Göran Sonnevi: "Das brennende Haus". Ausgewählte Gedichte 1991-2005. Auswahl, Übersetzung aus dem Schwedischen und Nachwort von Klaus-Jürgen Liedtke. Edition Lyrik Kabinett. Carl Hanser Verlag, München 2009. 138 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine recht große Bandbreite an Gedichten hat Sibylle Cramer in dieser Auswahl zu lesen bekommen. Für Göran Sonnevis "große Domäne" hält sie das Langgedicht, in dem er Raum und Zeit faltet, die "zyklische Zeit der Natur und den Zeitpfeil der Geschichte aufeinandertreffen" lässt. Weniger glücklich ist die Rezensentin aber mit späteren Gedichten, in denen Sonnevi zwar immer noch eine große poetische Kraft erkenne lässt, aber auch eine gewisse Redseligkeit und den Hang, aktuelle Ereignisse zu kommentieren.
© Perlentaucher Medien GmbH
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