Jahrhunderte lang hatten Blinde keine Möglichkeit, sich schriftlich auszudrücken oder Bücher und Zeitungen zu lesen. Dies änderte sich im Jahr 1825, als der Franzose Louis Braille die nach ihm benannte Punktschrift erfand. Heute gilt diese weltweit als Standard-Blindenschrift. Auch Sehende stoßen im Alltag immer öfter auf die Punkte, mit deren Hilfe in der Brailleschrift Buchstaben, Zahlen und Satzzeichen dargestellt werden. Und häufig sind sie fasziniert von diesen Punkten, die sie weder mit den Augen noch mit den Händen "erfassen" können. Dieses Buch macht Sehende mit der Blindenschrift vertraut. Wie setzen sich die Zeichen zusammen? Welche Schriftarten gibt es? Wie kann man Braille schreiben - mit der Hand oder am Computer? Darüber hinaus enthält es ein Wörterbuch der Braille-Punktschrift, in dem Worte und Wendungen, die im Alltag häufig vorkommen, dargestellt werden. Im Anschluss daran können Sehende anhand vieler praktischer Übungen die Brailleschrift selbst erlernen. Inklusive Braille-Alphabet in Reliefform.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2009[Sechs Punkte sind eine Welt]
Er ist der Gutenberg der Blinden: Vor 200 Jahren wurde Louis Braille geboren, der den fehlenden Sinn durch Fingerspitzengefühl ersetzte.
Von Jenny Niederstadt
Wenn Dave Janischak liest, ist er kaum ansprechbar. Konzentriert lässt der 13-Jährige seine Finger über die grauen Seiten gleiten, ertastet binnen Bruchteilen einer Sekunde die ins Papier geprägten Punkte, fliegt mit seinen Händen über die Zeilen und Seiten hinweg. Dave liest sein Lieblingsbuch, "Eragon", in Braille.
Erst vor einem Monat hat der Gymnasiast aus Marburg seine Abschlussprüfung in der Blindenkurzschrift gemacht. Nun steht auch ihm die Welt der dicken Wälzer offen: "Harry Potter" etwa oder "Der Herr der Ringe" und eben "Eragon", ebenfalls Fantasy. Diese Bücher, aber auch Werke von Kant und Goethe, Grisham und Coelho, sind so umfangreich, dass sie für Blinde nur in einer speziellen Kurzschrift veröffentlicht werden. Diese stellt Silben und Laute verkürzt dar - ein kompliziertes, an die Stenografie erinnerndes System, das schwer zu erlernen ist. Einzelne Zeichen oder Zeichenkombinationen ersetzen dabei gebräuchliche Wörter: Ein "O" steht dann zum Beispiel für "oder", ein "TZ" bedeutet "trotz". "Ich habe aber gemerkt, wie schnell ich Fortschritte mache", sagt Dave. "Bei Eragon bin ich von Kapitel zu Kapitel schneller geworden, bis ich am Schluss die Seiten ganz normal lesen konnte."
Ganz selbstverständlich lernen blinde Kinder wie Dave heute lesen und schreiben: Jede Blindenschule lehrt das Relief-Alphabet, Braille-Schrift genannt. Und auch Sehenden begegnen die kleinen Noppen immer häufiger: in öffentlichen Gebäuden, auf Medikamentenpackungen oder in Fahrstühlen. Für blinde Menschen sind die sechs Punkte heute unverzichtbar. Wie soll ein autonomes Leben funktionieren, wenn im Gewürzregal das Oreganoglas nicht von dem mit Thymian zu unterscheiden ist? Oder wenn sich die Hülle der CD von Peter Fox genauso anfühlt wie die von Peter Maffay?
Erst 1879 führte Deutschland die Prägepunkte offiziell als Blindenschrift ein. Da war das System bereits mehr als fünfzig Jahre alt: 1825 hatte es der französische Teenager Louis Braille entwickelt. Es war ein gewaltiger Schritt, für blinde Menschen vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Über Jahrhunderte hatten sie keinen eigenen Zugang zur Literatur gehabt. Der Weg zu höherer Bildung oder einem Beruf war dadurch fast allen von ihnen versperrt. Lehrbücher mussten ihnen vorgelesen, Bilder und Karten beschrieben werden.
Braille gab den Blinden endlich ein Alphabet an die Hand, das leicht zu lesen und zu schreiben ist. Auf einen Schlag konnten sie Bücher und Zeitungen nutzen, Briefe und Beschwerden schreiben, chemische Formeln notieren oder Musik komponieren. Ein Meilenstein für die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein blinder Menschen.
"Mit Braille können wir die ganze Bandbreite des modernen Lebens abbilden, nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen und Noten, mathematische Zeichen und Computersymbole", sagt Friederike Beyer, Kuratorin am Berliner Museum für Kommunikation. Noch bis Mitte Dezember wird dort eine Ausstellung über das Leben und Werk Louis Brailles und dessen Wirkung bis heute gezeigt. Schreibtafeln aus dem 19. Jahrhundert sind zu sehen, auf denen Blinde mit einem Stichel Braillezeichen notieren konnten - noch heute tragen viele solch eine Tafel in Miniaturform bei sich, um unterwegs Notizen machen zu können.
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts folgt eine erste Schreibmaschine mit Braillezeichen, die Pichlermaschine. Sie erschließt den Blinden Büroberufe. Rasch sind sie als Angestellte begehrt, weil sie schneller tippen als ihre sehenden Kollegen. Aber die Berliner Ausstellung zeigt auch den heutigen Standard: Computer mit Braillezeile unter der Tastatur oder mit einem Screenreader. Die entsprechende Software erfasst Bildschirminhalte und wandelt sie entweder in Braille um oder liest sie vor. Blinde können damit Websites oder Tabellen lesen, aber auch Menüfenster und Kurzbefehltasten bedienen. "Weil Braille so logisch und systematisch aufgebaut ist, lässt sich die Schrift recht problemlos in die Computertechnik integrieren", sagt Friederike Beyer. "Braille ist noch heute unersetzlich, es gibt keine bessere Blindenschrift."
Dieser einmalige Erfolg begann mit einem Schicksalsschlag. Der dreijährige Louis Braille, 1809 in der Nähe von Paris geboren, hatte sich beim Spielen in der Werkstatt seines Vaters schwer an einem Auge verletzt, es entzündete sich. Auch das zweite Auge wurde infiziert, so dass Braille schließlich im frühen Kindesalter erblindete. Sein Lebensweg schien damit vorgezeichnet - Blinde zogen damals meist bettelnd von Ort zu Ort. Brailles Eltern aber wünschten sich für ihren Sohn ein besseres Leben: Für die Mutter musste er weiterhin kleine Arbeiten im Haushalt erledigen, und ganz selbstverständlich meldeten sie ihn in der Dorfschule an. Dort fiel schnell auf, wie gewitzt Braille war. Den Inhalt von Schulbüchern behielt er komplett im Kopf, nachdem man sie ihm vorgelesen hatte. Er wurde Klassenbester.
Sein Lehrer empfahl, ihn nach Paris zu schicken. Am dortigen Blindeninstitut lernte Braille als 11-Jähriger die sogenannte Nachtschrift kennen. Der Offizier Charles Barbier hatte sie als eine Art Geheimcode entwickelt. Soldaten sollten damit auch im Dunkeln Nachrichten schreiben und lesen können. Dazu hatte Barbier ein kompliziertes Lautschrift-System entworfen: Buchstaben und einzelne Silben stellte er in zwei senkrechten Reihen von ein bis sechs Punkten dar, die in Papier geprägt wurden und so mit den Fingern gelesen werden konnten. Der Nachteil: Es war unmöglich, die Anordnung der Punkte mit nur einer Bewegung zu erfassen. Leser der Nachtschrift mussten jedes Zeichen sowohl waagerecht als auch senkrecht mit dem Finger abfahren, was selbst bei sehr kurzen Texten zeitaufwendig war. Für das französische Militär kam die Schrift deshalb nicht in Frage, auch unter den blinden Schülern konnte sie sich nicht durchsetzen.
Louis Braille erkannte aber das Potential des Punkt-Systems, denn es erinnerte ihn an ein Geschenk seines Vaters. Der hatte ihm einmal einen Würfel gegeben: an Stelle von aufgemalten Augen waren Nägel in die Seiten geschlagen. Selbst die Sechs konnte der Junge dadurch mit einer einzigen Berührung erkennen. Die Sechs dieses Würfels gilt heute als Urform des Braillezeichens mit seinen jeweils drei Punkten in zwei Spalten. Heute benutzen etwa 40 Millionen Menschen weltweit die Brailleschrift. Es gibt Zeichensätze in Hebräisch und Griechisch, Russisch und Arabisch. Auch für Sprachen, die wie das Chinesische mit Schriftsymbolen arbeiten, existieren Braillezeichen; sie übersetzen die Symbole in ein phonetisches System. Selbst chemische Formeln, Schachzüge oder Strickmuster lassen sich durch Punkte darstellen. Basis sind stets die sechs Punkte Brailles.
Für Bücher wurde später die eingangs erwähnte kompliziertere Kurzschrift entwickelt, die den Umfang reduziert und die Lesegeschwindigkeit erhöht. Dave zum Beispiel, der Gymnasiast aus Marburg, wird Texte in dieser Kurzform bald so schnell lesen können, wie Sehende Schwarz-auf-Weiß-Gedrucktes erfassen. Für spät Erblindete aber bleibt schon das Punkterelief eine nur schwer zu erlernende Schrift, ähnlich wie Tintenbuchstaben für erwachsene Analphabeten.
"Am einfachsten und sichersten lernt man Lesen und Schreiben nun mal als Kind", sagt Thomas Kalisch von der Deutschen Zentralbücherei für Blinde in Leipzig (DZB). In Deutschland beherrschen nur knapp dreißig Prozent aller Blinden und Sehbehinderten Braille, denn mehr als sechzig Prozent von ihnen sind älter als 65 Jahre. "Da setzt man sich nicht mal eben hin und lernt Braille", sagt Kalisch. Im Alter kann der Zugang zur Punkt-Schrift aus vielen Gründen erschwert sein, zum Beispiel weil der Tastsinn eingeschränkt ist.
Als Direktor der DZB, der ältesten Blindenbibliothek Deutschlands, muss Kalisch deshalb sorgsam auswählen, welche Titel er in Braille übertragen lässt. Setzt er auf Jugendliteratur, obwohl die jungen Leser auch unter der blinden Bevölkerung schwinden? Entscheidet er sich für Fachliteratur, die bislang kaum für Blinde zugänglich ist? Oder denkt er an die älteren Leser und wählt Unterhaltungsromane? Es ist ein Spagat: Thomas Kalisch bietet Kinderbücher wie "Tintenherz" an, daneben aber auch Bastei-Hefte der Reihen "Jerry Cotton" und "Landarzt Dr. Fabian".
Die Auswahl an Sach- und Fachbuchtiteln ist allerdings dünn. Das liegt auch am immensen Zeitaufwand bei der Herstellung. "Die Übertragung eines Chemiebuchs kann bis zu drei Jahre dauern", sagt Kalisch, "die Diagramme und Formeln, Fotos und Tabellen müssen ja erst beschrieben oder ertastbar gemacht werden."
Trotzdem hat der DZB-Direktor ehrgeizige Ziele. Gemeinsam mit den Kollegen der anderen sieben Blindenbibliotheken Deutschlands will er den Zugang blinder Leser zur Literatur schnell erweitern. Sein Ziel: eine Art Print-on-Demand-System für Bücher in Braille. In sechs Jahren sollen Leser in Leipzig anrufen können und aus allen lieferbaren deutschen Büchern einfach Titel auswählen, die sie interessieren. Die Bibliothek würde die Verlage dann nur um die Textdaten bitten und könnte diese elektronisch in gut lesbare Braille umwandeln. "Die Technik dafür haben wir längst", sagt Kalisch, "doch die Arbeit an den Details ist noch knifflig."
Es wäre ein nächster großer Schritt, denn gerade mal 500 Titel erscheinen in Deutschland pro Jahr in Braille. Zum Vergleich: Auf der Frankfurter Buchmesse werden jährlich knapp 100 000 Neuerscheinungen vorgestellt. Diese Zahl hat der deutsche Gesamtbestand an Braillebüchern noch lange nicht erreicht. Obwohl die acht deutschen Blindenbibliotheken zum Teil seit mehr als hundert Jahren sammeln, lagern in ihren Magazinen lediglich 34 000 verschiedene Bücher und Zeitschriften. Dazu kommen allerdings noch Hörbücher, Noten und Reliefdarstellungen, etwa von architektonischen Details oder Landschaften. Der Stadtplan von Marburg beispielsweise besteht aus 23 Folien, auf denen jede Treppe ertastet werden kann.
Produziert werden die Bücher fast ausschließlich von den Blindenbibliotheken selbst. Leipzig etwa bietet den "Herrn der Ringe" von Tolkien an. Da Braille breiter läuft und dickere Seiten braucht als die Schwarzschrift, wächst das ohnehin umfangreiche Werk auf 15 Bände an. Die Herstellungskosten sind enorm, deshalb kostet der Jugendbuchklassiker 300 Euro. Doch gekauft werden die Bücher ohnehin selten. "Unsere Bestseller haben eine Auflage von drei bis fünf Exemplaren", sagt Kalisch und lacht. Braillebücher sind eben nicht fürs heimische Regal gemacht, allein die Bibel umfasst etwa 47 Bände.
Stattdessen reisen die Bücher quer durchs Land. Verliehen wird bundesweit, die Post bringt die Pakete bis zur Haustür. Einigermaßen verkaufen sich Kalender und Kochbücher - weil sie täglich gebraucht werden. Der Blindenschrift-Verlag in Paderborn hat zum Beispiel ein Rezeptbuch des Fernsehkochs Tim Mälzer in Braille übertragen und bereits 50 Stück davon verkauft. Absoluter Bestseller aber war in diesem Jahr eine Biographie. Sie brach in Paderborn alle Rekorde und wurde bereits mehr als hundert Mal verkauft: Es ist die Biographie von Louis Braille.
Die Ausstellung "6 Richtige - Louis Braille und die Blindenschrift" wird bis 13. Dezember im Museum für Kommunikation Berlin gezeigt.
Literatur: Birgit Adam, Das Buch der Blindenschrift, Marix Verlag, Wiesbaden, 2009.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er ist der Gutenberg der Blinden: Vor 200 Jahren wurde Louis Braille geboren, der den fehlenden Sinn durch Fingerspitzengefühl ersetzte.
Von Jenny Niederstadt
Wenn Dave Janischak liest, ist er kaum ansprechbar. Konzentriert lässt der 13-Jährige seine Finger über die grauen Seiten gleiten, ertastet binnen Bruchteilen einer Sekunde die ins Papier geprägten Punkte, fliegt mit seinen Händen über die Zeilen und Seiten hinweg. Dave liest sein Lieblingsbuch, "Eragon", in Braille.
Erst vor einem Monat hat der Gymnasiast aus Marburg seine Abschlussprüfung in der Blindenkurzschrift gemacht. Nun steht auch ihm die Welt der dicken Wälzer offen: "Harry Potter" etwa oder "Der Herr der Ringe" und eben "Eragon", ebenfalls Fantasy. Diese Bücher, aber auch Werke von Kant und Goethe, Grisham und Coelho, sind so umfangreich, dass sie für Blinde nur in einer speziellen Kurzschrift veröffentlicht werden. Diese stellt Silben und Laute verkürzt dar - ein kompliziertes, an die Stenografie erinnerndes System, das schwer zu erlernen ist. Einzelne Zeichen oder Zeichenkombinationen ersetzen dabei gebräuchliche Wörter: Ein "O" steht dann zum Beispiel für "oder", ein "TZ" bedeutet "trotz". "Ich habe aber gemerkt, wie schnell ich Fortschritte mache", sagt Dave. "Bei Eragon bin ich von Kapitel zu Kapitel schneller geworden, bis ich am Schluss die Seiten ganz normal lesen konnte."
Ganz selbstverständlich lernen blinde Kinder wie Dave heute lesen und schreiben: Jede Blindenschule lehrt das Relief-Alphabet, Braille-Schrift genannt. Und auch Sehenden begegnen die kleinen Noppen immer häufiger: in öffentlichen Gebäuden, auf Medikamentenpackungen oder in Fahrstühlen. Für blinde Menschen sind die sechs Punkte heute unverzichtbar. Wie soll ein autonomes Leben funktionieren, wenn im Gewürzregal das Oreganoglas nicht von dem mit Thymian zu unterscheiden ist? Oder wenn sich die Hülle der CD von Peter Fox genauso anfühlt wie die von Peter Maffay?
Erst 1879 führte Deutschland die Prägepunkte offiziell als Blindenschrift ein. Da war das System bereits mehr als fünfzig Jahre alt: 1825 hatte es der französische Teenager Louis Braille entwickelt. Es war ein gewaltiger Schritt, für blinde Menschen vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Über Jahrhunderte hatten sie keinen eigenen Zugang zur Literatur gehabt. Der Weg zu höherer Bildung oder einem Beruf war dadurch fast allen von ihnen versperrt. Lehrbücher mussten ihnen vorgelesen, Bilder und Karten beschrieben werden.
Braille gab den Blinden endlich ein Alphabet an die Hand, das leicht zu lesen und zu schreiben ist. Auf einen Schlag konnten sie Bücher und Zeitungen nutzen, Briefe und Beschwerden schreiben, chemische Formeln notieren oder Musik komponieren. Ein Meilenstein für die Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein blinder Menschen.
"Mit Braille können wir die ganze Bandbreite des modernen Lebens abbilden, nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen und Noten, mathematische Zeichen und Computersymbole", sagt Friederike Beyer, Kuratorin am Berliner Museum für Kommunikation. Noch bis Mitte Dezember wird dort eine Ausstellung über das Leben und Werk Louis Brailles und dessen Wirkung bis heute gezeigt. Schreibtafeln aus dem 19. Jahrhundert sind zu sehen, auf denen Blinde mit einem Stichel Braillezeichen notieren konnten - noch heute tragen viele solch eine Tafel in Miniaturform bei sich, um unterwegs Notizen machen zu können.
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts folgt eine erste Schreibmaschine mit Braillezeichen, die Pichlermaschine. Sie erschließt den Blinden Büroberufe. Rasch sind sie als Angestellte begehrt, weil sie schneller tippen als ihre sehenden Kollegen. Aber die Berliner Ausstellung zeigt auch den heutigen Standard: Computer mit Braillezeile unter der Tastatur oder mit einem Screenreader. Die entsprechende Software erfasst Bildschirminhalte und wandelt sie entweder in Braille um oder liest sie vor. Blinde können damit Websites oder Tabellen lesen, aber auch Menüfenster und Kurzbefehltasten bedienen. "Weil Braille so logisch und systematisch aufgebaut ist, lässt sich die Schrift recht problemlos in die Computertechnik integrieren", sagt Friederike Beyer. "Braille ist noch heute unersetzlich, es gibt keine bessere Blindenschrift."
Dieser einmalige Erfolg begann mit einem Schicksalsschlag. Der dreijährige Louis Braille, 1809 in der Nähe von Paris geboren, hatte sich beim Spielen in der Werkstatt seines Vaters schwer an einem Auge verletzt, es entzündete sich. Auch das zweite Auge wurde infiziert, so dass Braille schließlich im frühen Kindesalter erblindete. Sein Lebensweg schien damit vorgezeichnet - Blinde zogen damals meist bettelnd von Ort zu Ort. Brailles Eltern aber wünschten sich für ihren Sohn ein besseres Leben: Für die Mutter musste er weiterhin kleine Arbeiten im Haushalt erledigen, und ganz selbstverständlich meldeten sie ihn in der Dorfschule an. Dort fiel schnell auf, wie gewitzt Braille war. Den Inhalt von Schulbüchern behielt er komplett im Kopf, nachdem man sie ihm vorgelesen hatte. Er wurde Klassenbester.
Sein Lehrer empfahl, ihn nach Paris zu schicken. Am dortigen Blindeninstitut lernte Braille als 11-Jähriger die sogenannte Nachtschrift kennen. Der Offizier Charles Barbier hatte sie als eine Art Geheimcode entwickelt. Soldaten sollten damit auch im Dunkeln Nachrichten schreiben und lesen können. Dazu hatte Barbier ein kompliziertes Lautschrift-System entworfen: Buchstaben und einzelne Silben stellte er in zwei senkrechten Reihen von ein bis sechs Punkten dar, die in Papier geprägt wurden und so mit den Fingern gelesen werden konnten. Der Nachteil: Es war unmöglich, die Anordnung der Punkte mit nur einer Bewegung zu erfassen. Leser der Nachtschrift mussten jedes Zeichen sowohl waagerecht als auch senkrecht mit dem Finger abfahren, was selbst bei sehr kurzen Texten zeitaufwendig war. Für das französische Militär kam die Schrift deshalb nicht in Frage, auch unter den blinden Schülern konnte sie sich nicht durchsetzen.
Louis Braille erkannte aber das Potential des Punkt-Systems, denn es erinnerte ihn an ein Geschenk seines Vaters. Der hatte ihm einmal einen Würfel gegeben: an Stelle von aufgemalten Augen waren Nägel in die Seiten geschlagen. Selbst die Sechs konnte der Junge dadurch mit einer einzigen Berührung erkennen. Die Sechs dieses Würfels gilt heute als Urform des Braillezeichens mit seinen jeweils drei Punkten in zwei Spalten. Heute benutzen etwa 40 Millionen Menschen weltweit die Brailleschrift. Es gibt Zeichensätze in Hebräisch und Griechisch, Russisch und Arabisch. Auch für Sprachen, die wie das Chinesische mit Schriftsymbolen arbeiten, existieren Braillezeichen; sie übersetzen die Symbole in ein phonetisches System. Selbst chemische Formeln, Schachzüge oder Strickmuster lassen sich durch Punkte darstellen. Basis sind stets die sechs Punkte Brailles.
Für Bücher wurde später die eingangs erwähnte kompliziertere Kurzschrift entwickelt, die den Umfang reduziert und die Lesegeschwindigkeit erhöht. Dave zum Beispiel, der Gymnasiast aus Marburg, wird Texte in dieser Kurzform bald so schnell lesen können, wie Sehende Schwarz-auf-Weiß-Gedrucktes erfassen. Für spät Erblindete aber bleibt schon das Punkterelief eine nur schwer zu erlernende Schrift, ähnlich wie Tintenbuchstaben für erwachsene Analphabeten.
"Am einfachsten und sichersten lernt man Lesen und Schreiben nun mal als Kind", sagt Thomas Kalisch von der Deutschen Zentralbücherei für Blinde in Leipzig (DZB). In Deutschland beherrschen nur knapp dreißig Prozent aller Blinden und Sehbehinderten Braille, denn mehr als sechzig Prozent von ihnen sind älter als 65 Jahre. "Da setzt man sich nicht mal eben hin und lernt Braille", sagt Kalisch. Im Alter kann der Zugang zur Punkt-Schrift aus vielen Gründen erschwert sein, zum Beispiel weil der Tastsinn eingeschränkt ist.
Als Direktor der DZB, der ältesten Blindenbibliothek Deutschlands, muss Kalisch deshalb sorgsam auswählen, welche Titel er in Braille übertragen lässt. Setzt er auf Jugendliteratur, obwohl die jungen Leser auch unter der blinden Bevölkerung schwinden? Entscheidet er sich für Fachliteratur, die bislang kaum für Blinde zugänglich ist? Oder denkt er an die älteren Leser und wählt Unterhaltungsromane? Es ist ein Spagat: Thomas Kalisch bietet Kinderbücher wie "Tintenherz" an, daneben aber auch Bastei-Hefte der Reihen "Jerry Cotton" und "Landarzt Dr. Fabian".
Die Auswahl an Sach- und Fachbuchtiteln ist allerdings dünn. Das liegt auch am immensen Zeitaufwand bei der Herstellung. "Die Übertragung eines Chemiebuchs kann bis zu drei Jahre dauern", sagt Kalisch, "die Diagramme und Formeln, Fotos und Tabellen müssen ja erst beschrieben oder ertastbar gemacht werden."
Trotzdem hat der DZB-Direktor ehrgeizige Ziele. Gemeinsam mit den Kollegen der anderen sieben Blindenbibliotheken Deutschlands will er den Zugang blinder Leser zur Literatur schnell erweitern. Sein Ziel: eine Art Print-on-Demand-System für Bücher in Braille. In sechs Jahren sollen Leser in Leipzig anrufen können und aus allen lieferbaren deutschen Büchern einfach Titel auswählen, die sie interessieren. Die Bibliothek würde die Verlage dann nur um die Textdaten bitten und könnte diese elektronisch in gut lesbare Braille umwandeln. "Die Technik dafür haben wir längst", sagt Kalisch, "doch die Arbeit an den Details ist noch knifflig."
Es wäre ein nächster großer Schritt, denn gerade mal 500 Titel erscheinen in Deutschland pro Jahr in Braille. Zum Vergleich: Auf der Frankfurter Buchmesse werden jährlich knapp 100 000 Neuerscheinungen vorgestellt. Diese Zahl hat der deutsche Gesamtbestand an Braillebüchern noch lange nicht erreicht. Obwohl die acht deutschen Blindenbibliotheken zum Teil seit mehr als hundert Jahren sammeln, lagern in ihren Magazinen lediglich 34 000 verschiedene Bücher und Zeitschriften. Dazu kommen allerdings noch Hörbücher, Noten und Reliefdarstellungen, etwa von architektonischen Details oder Landschaften. Der Stadtplan von Marburg beispielsweise besteht aus 23 Folien, auf denen jede Treppe ertastet werden kann.
Produziert werden die Bücher fast ausschließlich von den Blindenbibliotheken selbst. Leipzig etwa bietet den "Herrn der Ringe" von Tolkien an. Da Braille breiter läuft und dickere Seiten braucht als die Schwarzschrift, wächst das ohnehin umfangreiche Werk auf 15 Bände an. Die Herstellungskosten sind enorm, deshalb kostet der Jugendbuchklassiker 300 Euro. Doch gekauft werden die Bücher ohnehin selten. "Unsere Bestseller haben eine Auflage von drei bis fünf Exemplaren", sagt Kalisch und lacht. Braillebücher sind eben nicht fürs heimische Regal gemacht, allein die Bibel umfasst etwa 47 Bände.
Stattdessen reisen die Bücher quer durchs Land. Verliehen wird bundesweit, die Post bringt die Pakete bis zur Haustür. Einigermaßen verkaufen sich Kalender und Kochbücher - weil sie täglich gebraucht werden. Der Blindenschrift-Verlag in Paderborn hat zum Beispiel ein Rezeptbuch des Fernsehkochs Tim Mälzer in Braille übertragen und bereits 50 Stück davon verkauft. Absoluter Bestseller aber war in diesem Jahr eine Biographie. Sie brach in Paderborn alle Rekorde und wurde bereits mehr als hundert Mal verkauft: Es ist die Biographie von Louis Braille.
Die Ausstellung "6 Richtige - Louis Braille und die Blindenschrift" wird bis 13. Dezember im Museum für Kommunikation Berlin gezeigt.
Literatur: Birgit Adam, Das Buch der Blindenschrift, Marix Verlag, Wiesbaden, 2009.
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