Produktdetails
- Verlag: Ullstein Hörverlag
- ISBN-13: 9783550101878
- Artikelnr.: 24362154
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
In seinem neuen Roman lobt Paul Auster das Leben im verborgenen
Nichts ist so, wie es scheint. Schon gar nicht, wenn man es wie im Film oder in der Literatur mit Produkten der Phantasie zu tun hat. Autoren erfinden Figuren und behaupten, sie zeigten uns das Leben selbst. Unablässig verwandeln sie Realität in Fiktion, um die Fiktion dann für Wirklichkeit auszugeben. Sie erlösen Dinge und Menschen aus der Bedeutungslosigkeit, indem sie ihnen eine Geschichte geben.
Keiner versteht sich besser darauf, das Unbedeutende bedeutend erscheinen zu lassen als Paul Auster. Bei ihm wird alles zum Menetekel. Er ist der Zeremonienmeister des Zufalls. "Die Musik des Zufalls" hieß einer seiner früheren Romane, dem nun der nicht weniger programmatische Titel "Das Buch der Illusionen" folgt. Mit großer Sorgfalt inszeniert er das Unwahrscheinliche als das einzig Mögliche. Seine Grundannahme besteht darin, daß man ein Leben nur genau genug betrachten muß, um geheime Muster auch da zu entdecken, wo bloß Chaos zu herrschen scheint. Diese Suche nach Zusammenhängen ist eine religiöse Bemühung um Sinn. Sie ist erzählerisch produktiv, weil sie eine narrative Struktur erzeugt. Sie münzt Zufall in Schicksal um und läßt so etwas wie eine Biographie überhaupt erst entstehen. Das Biographische dient als Faden, um disparates Material miteinander zu verbinden: von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag - oder, wenn man so will, von Zufall zu Zufall. Die Zufälle sind die Weichen der Biographie.
Viele Romane Paul Austers bauen folglich auf einem ähnlichen Schema auf: Ein Mensch ist verschwunden, ein anderer begibt sich auf seine Spuren, um sein Leben zu rekonstruieren. In "Stadt aus Glas", dem ersten Band der New-York-Trilogie, war es der mit einem Detektiv verwechselte Schriftsteller Quinn, der einen mysteriösen Professor überwachen sollte. In "Leviathan" erzählt der Schriftsteller Ben Sachs die Lebensgeschichte seines untergetauchten Freundes, der zum Terroristen geworden war. Im "Buch der Illusionen" beschäftigt sich nun der Literaturprofessor David Zimmer mit Hector Mann, einem verschollenen Stummfilmkomiker, der nach einer Kurzkarriere in den späten Zwanzigern verschwand und nie wieder aufgetaucht ist.
Auster erfindet für Mann ein fiktives Werk, das er Zimmer beschreiben und analysieren läßt. Und selbstverständlich ist dabei alles voller Bedeutungen und Zeichen. Manns Filme mit Titeln wie "Ein Niemand" oder "Doppelt oder nichts" verweisen auf den Fortgang des Romans und auf Austers ewige Themen: Abwesenheit, Ich-Verlust, Untergang. Man gerät in ein Spiegelkabinett der Bedeutungen, wo der Film die Wirklichkeit zeigt und die Realität eine unglaubliche Erfindung zu sein scheint. Das Ich aber zersplittert in eine Vielfalt von Geschichten und Bildern.
Zimmer, der Frau und Kinder bei einem Flugzeugabsturz verlor, ist ein prototypischer Auster-Held. Er hat sich zurückgezogen in die Einsamkeit der Depression. Seine Lehrtätigkeit an der Uni hat er aufgegeben, nun arbeitet er an einer Übersetzung der "Erinnerungen eines Toten" von Chateaubriand. Zimmer, selbst mehr tot als lebendig, fühlt sich zu dem französischen Romantiker hingezogen, der seine Memoiren erst nach seinem Tod veröffentlicht wissen wollte, aber Anteilscheine daran verkaufte, um sich so das Alter zu finanzieren.
Um Zimmer zu Hector Mann gelangen zu lassen, setzt Auster eine Krimihandlung in Gang. Eine junge Frau erscheint in Zimmers Haus in Vermont und bedroht ihn mit einer Pistole. Er solle sofort mit ihr nach New Mexico reisen, wo Hector Mann im Sterben liege. Mann habe im verborgenen Filme gedreht, die am Tag nach seinem Ableben verbrannt werden sollen. Es bleibe also nur wenig Zeit, sie anzusehen. Was folgt, ist ein heftige, nur wenige Tage dauernde Liebesgeschichte zwischen dem Professor und seiner Entführerin, einer Frau mit zwei Gesichtern und dem sprechenden Namen Alma Grund. Von rechts ist sie eine Schönheit, links wird sie durch ein großes Muttermal entstellt. Im Spiegelkabinett gilt der Satz "Doppelt oder nichts", und in Auster-Romanen gibt es nichts, was nicht als Zeichen auszulegen wäre.
Auf der Reise nach New Mexico erzählt Alma die Lebensgeschichte Hector Manns, über die sie ein umfangreiches Buch verfaßt. Diese Geschichte nimmt den größten Teil des Romans ein. Sie handelt von Liebe, Eifersucht und Mord und einem Leben im verborgenen, das Hector Mann als Händler, Pornodarsteller, Lebensretter und schließlich als Rancher bestreitet. Auf seiner Farm baut er sich ein Filmstudio, doch die Filme, die dort gedreht werden, darf niemand sehen. So entsteht ein Werk, das doch nicht existiert, ein Werk, dessen wichtigstes Ziel die Vernichtung ist. Auch David Zimmer kann nur noch einen der zwölf Filme sehen; er ist der letzte Zeuge. "Das Innenleben des Martin Frost" ist, wie könnte es anders sein, ein "Meisterwerk". Es handelt von einem Schriftsteller, der in seinem Bett eines Morgens neben einer schönen Frau erwacht, die sich als seine Romanfigur herausstellt. Je weiter er mit seiner Geschichte kommt, um so mehr kränkelt die Frau, und sie würde sterben, wenn er seinen Roman abschlösse. Also wirft er das Manuskript kurz vor der Vollendung ins Feuer, um das Leben seiner Figur zu retten.
Auster erzählt den Film als Geschichte in der Geschichte, die eine weitere Perspektive auf das Thema des negativen Werkes öffnet. Detailliert beschreibt er Kameraeinstellungen, Beleuchtung und Bewegungswege, als gehe es wirklich darum, einen verlorenen Film im Gedächtnis der Nachwelt zu bewahren. Tatsächlich ist diese Parabel das Zentrum des Romans, denn was auf der fiktiven Leinwand geschieht, ereignet sich auch in der Erzählwirklichkeit: Alma Grunds Biographie über Hector Mann wird mit den Filmen verbrannt. Die Erinnerungen David Zimmers sind alles, was von Manns Werk und Leben bleibt. Sie erscheinen schließlich nach dem Muster Chateaubriands postum nach Zimmers Tod; Auster hat seinem "Buch der Illusionen" noch einen fiktiven Herausgeber erfunden.
Mit diesem Roman über den Film kehrt er nach seinen eigenen Filmarbeiten ("Smoke", "Blue in the face" und "Lulu on the bridge") zum epischen Erzählen zurück. Einige Techniken des Films hat er gewinnbringend ins Schreiben übernommen. Er weiß Rückblenden einzusetzen, arbeitet wechselweise mit harten Schnitten und weichen Überblendungen und scheut sich nicht vor melodramatischen Handlungsverläufen. Um ein großes Publikum zu erreichen, spart er nicht an großen Emotionen und atemberaubenden Wendungen. Leichte Lektüre ist sein "Buch der Illusionen" trotz der erzeugten Spannung nicht. Dazu ist es zu überladen mit Zeichen und Querverweisen. Im Spiegelkabinett kann man leicht die Orientierung verlieren. Doch wer Spaß an der Vervielfältigung der Perspektiven hat, kann sich auf hohem Niveau unterhalten und immer wieder neue Zusammenhänge entdecken.
JÖRG MAGENAU
Paul Auster: "Das Buch der Illusionen". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 384 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main