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Das Buch ist eines der Hauptwerke der europäischen Literatur.
Längst gehört Das Buch der Unruhe zum Kanon der Weltliteratur, und man darf es als unerwartetes Geschenk empfinden, daß bald weitere 200 Seiten dieses Werks vorliegen. Um gut ein Drittel erweitert ist die Neuausgabe, deren Textabfolge auf Grundlage der neu gefundenen Texte eine gänzlich neue Anordnung erfahren hat. Ein Hauptwerk der europäischen Literatur erscheint somit erstmals vollständig, teils in überarbeiteter und teils in neuer Übersetzung. Fernando Pessoas Buch der Unruhe bildet damit den Ausgangspunkt für die "definitive…mehr

Produktbeschreibung
Das Buch ist eines der Hauptwerke der europäischen Literatur.
Längst gehört Das Buch der Unruhe zum Kanon der Weltliteratur, und man darf es als unerwartetes Geschenk empfinden, daß bald weitere 200 Seiten dieses Werks vorliegen. Um gut ein Drittel erweitert ist die Neuausgabe, deren Textabfolge auf Grundlage der neu gefundenen Texte eine gänzlich neue Anordnung erfahren hat. Ein Hauptwerk der europäischen Literatur erscheint somit erstmals vollständig, teils in überarbeiteter und teils in neuer Übersetzung. Fernando Pessoas Buch der Unruhe bildet damit den Ausgangspunkt für die "definitive Edition" seiner Werke im Ammann Verlag. In den nächsten Jahren werden sämtliche Werke des Portugiesen in erweiterten Fassungen und neu übersetzt herausgegeben.
Autorenporträt
Fernando Pessoa ( 1888-1935), der wohl bedeutendste moderne Dichter Portugals, gehört zu den großen literarischen Erneuerern, ist nicht nur der Begründer der modernen Dichtung seines Landes, sondern eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung überhaupt.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Fernando Pessoa, der "wichtigste portugiesische Autor" des 20. Jahrhunderts, war nicht ein Autor, sondern gleich mehrere - Figuren, die er sich erträumt oder erdacht hatte, berichtet Rezensent Jörg Sundermeier. Es wäre ein Fehler, Pessoa mit dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares zu verwechseln. Die Übersetzerin der Neuausgabe des "Buches der Unruhe", Inés Koebel, scheint aber eben diesem Irrtum auf dem Leim gegangen zu sein, stellt Sundermeier fest. Die "Autobiografie ohne Ereignisse", der umfangreichste Teil des Buches, scheine ihr - wie auch dem portugiesische Herausgeber Richard Zenith - als die Autobiografie des "wahren" Pessoa zu gelten. Die Texte und Textfragmente des Buchmanuskripts, Zettel ohne Bauplan und genaue Anweisungen, habe Zenith thematisch geordnet. Dadurch wird die Lektüre des Buches im Vergleich zur alten Ausgabe nach Einschätzung Sundermeiers "anstrengender". Einerseits wegen der Unzahl von gedanklichen Wiederholungen, andererseits, weil aus dem kontrollierten und bissigen Melancholiker, als den man Soares bislang kannte, ein Romantiker geworden sei, der seine narzisstische Gekränktheit kaum verbergen könne. Dass Zenith den Zustand des Materials offen gelegt hat, würdigt Sundermeier als "großes Verdienst der Neuausgabe", auch wenn die Anordnung des Materials Pessoa möglicherweise nicht gefallen hätte.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2003

Der achte Kontinent
Fernando Pessoas "Buch der Unruhe" in revidierter Neuausgabe

Reisen mochte er nicht. Überhaupt war ihm jede Form der Ortsveränderung ein Greuel oder besser gesagt: Zeitverschwendung. "Zum Mich-Bewegen fehlt mir etwas zwischen Seele und Körper; nicht das Bewegen verweigert sich mir, sondern das Verlangen nach ihm." Der einzige Weg, den der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares aus Überzeugung geht, ist der tägliche Weg in sein Büro in der Rua dos Douradores, in den vierten Stock der Firma zu seinem Chef Vasques, dem Buchhalter, dem Laufburschen, dem Kassierer und der Katze. Obwohl ihn das ereignislose Angestelltendasein, das ewige Bilanzieren ohne endgültige Summe bedrückt, käme ihm eine Trennung von ihm wie ein "halber Tod" vor. Schon der Tejo scheint Soares ein endloser Atlantik, unmöglich zu überqueren, das Viertel am anderen Ufer ein fremdes Universum.

Doch die Trägheit ist nur die Kehrseite einer inneren Flexibilität, eines fast quecksilbrigen, nie zum Stillstand kommenden Drangs zum Tourismus des Imaginativen. "Ich verstehe, daß reisen muß, wer unfähig ist zu fühlen. Daher sind Reisebücher auch so arm an Erfahrung, sie taugen nur so viel wie die Vorstellungskraft dessen, der schreibt." Selbst die Welt Heinrichs des Seefahrers kann es mit der Ausdehnung dieses inneren Universums nicht aufnehmen: "Eure Karavellen, Herr, haben niemals eine Reise unternommen, die in ihrer Bedeutung dem Schiffbruch gleichkommt, den mein Denken mit diesem Buch erlitten hat." Noch das Scheitern des literarischen Vorhabens wird zum Triumph rein geistiger Mobilität, denn die "wahren Landschaften" seien die selbsterschaffenen: "Nicht einer der sieben Teile der Welt interessiert mich so, daß ich ihn wirklich sehen könnte; ich bereise den achten, und er ist mein."

Als Fernando Pessoas "Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares" 1982 erstmals aus dem Nachlaß herausgegeben wurde, tauchte dieser achte, innere Erdteil aus dem Meer auf wie das sagenhafte Atlantis. Die Kenner von Pessoas Werk hatten davon gehört, doch mit seiner Veröffentlichung fand so etwas wie eine Kontinentalverschiebung auf der weltliterarischen Landkarte statt. Portugals Literatur rückte mit dem "Buch der Unruhe" vom Rand ins Zentrum der europäischen Moderne; Pessoas Lissabon lag in der fiktiven Topographie plötzlich neben dem Dublin des James Joyce, dem Prag Kafkas, dem Wien Musils, dem Triest Svevos.

Bis dahin war Pessoa vorwiegend als Begründer der modernen portugiesischen Poesie bekannt gewesen, als Zentralgestirn der intellektuellen und literarischen Szene seiner klassischen Moderne, der in Gestalt seiner berühmten "Heteronyme" - Alberto Caeiro, Ricardo Reis und Álvaro de Campos - gleich ein ganzes Spektrum dichterischer Haltungen und Stile entwarf, so als wären in Deutschland die Gedichte Trakls, Benns und Brechts aus ein und derselben Feder geflossen. Doch erst mit dieser Sammlung von Prosafragmenten, in der Herausgeberfiktion des Vorworts dem kleinen Angestellten Soares zugeschrieben, wurde Pessoa zum Inbegriff und zum mythischen Übervater der portugiesischen Literatur. Auch in der deutschen Erstausgabe von 1985 wurde das Werk, an dem Pessoa kurz vor dem Ersten Weltkrieg und dann wieder von 1929 bis kurz vor seinem Tod 1935 arbeitete, zu einem großen Erfolg.

Georg Rudolf Lind, der damalige Herausgeber und Übersetzer, ging freilich mit dem Textkorpus wenig zimperlich um. Von den fünfhundert schon damals bekannten Textpartikeln nahm er weniger als die Hälfte in die deutsche Ausgabe auf, was vielleicht ironischerweise zu ihrem Erfolg beitrug. Denn so hatte sie fast den Charakter eines Breviers, eines Handorakels der Weltverachtung für die Manteltasche, das bei aller Schwere des Inhalts immerhin quantitativ gut zu bewältigen war. In der Zwischenzeit haben die Editoren weitere Fragmente aus Pessoas berühmter Nachlaßtruhe dem Werk zugeordnet; die deutsche Neuedition im Rahmen der Werkausgabe im Ammann Verlag orientiert sich an der vor wenigen Jahren in Lissabon von Richard Zenith herausgegebenen, philologisch stark revidierten Fassung und enthält jetzt 481 Bruchstücke sowie zahlreiche weitere, thematisch verwandte Prosatexte Pessoas.

Was nach dem Wellengang des Wiederauftauchens zu erkennen ist, läßt den deutschen Betrachter sich ungläubig die Augen reiben: Der Kontinent hat sich in seiner Ausdehnung schlichtweg verdoppelt. Was der Verlag bescheiden als "Neuausgabe" ankündigte, ist vielmehr ein völlig neues, umfangreiches Werk, dessen Längen- und Breitengrade, dessen Höhenkämme und Küstenzüge allererst zu vermessen und zu kartieren sind. Eine zerklüftete Seelenlandschaft bietet sich dar, wolkenverhangen, doch trotz reicher Niederschläge karg und schroff, lebensfeindlich bis zum völligen Absterben jeder Vitalität: "Sosehr ich auch in mich dringe, alle meine Traumpfade führen zu Lichtungen der Angst" und: "Mein Leben ist, als würde man mich mit ihm schlagen."

Das Dasein als Angestellter in einer Lissabonner Stoffhandlung wird zum Gleichnis der modernen Existenz, deren völlige Sinnlosigkeit noch nicht einmal durch radikalen Verzicht, durch Abkehr von der Welt, ja Selbstmord beendet werden kann. Denn selbst das bedeutete ja ein Handeln, zu dem es an Kraft mangelt. "Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter in irgendeinem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns." Probleme - grundsätzlich unlösbar; Götter - eine "Funktion des Stils"; Liebe - eine Illusion; die Zukunft - durch ihre Offenheit nichts als eine Last; die Vergangenheit - eine einzige Ansammlung schmerzhafter Verluste. Das Bewußtsein selbst ist die größte Quelle aller Leiden, die einzige Linderung bietet der Schlaf, in dem Vergangenheit und Zukunft sowie die Illusion des eigenen unverwechselbaren Ichs abgestreift werden wie ein Anzug. So ist das Schreiben nicht etwa ein Ersatzhandeln, sondern vielmehr dem Schlaf verwandt: "Schreiben heißt vergessen. Die Literatur ist die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren." In einem berühmten Brief an Adolfo Casais Monteiro von 1935 stellt Pessoa das "Erscheinen" seines "Halbheteronyms" Bernardo Soares dem Zustand geistiger Wachheit gegenüber: Er trete auf den Plan, "wenn ich müde und schläfrig bin und meine Hemmungen und mein Denkvermögen etwas nachgelassen haben; diese Prosa ist eine ständige Träumerei . . . Soares ist ich, allerdings ohne mein Denkvermögen und meine Emotionalität."

Bei der zergliedernden Schärfe seines Verstands mag dieser Hinweis einigermaßen befremdlich klingen und nicht frei von Koketterie - fest steht, daß Soares nicht einfach als Alter ego genommen werden kann, sondern eine Persönlichkeit eigenen Rechts ist. Das Ich sei ohnehin nur ein ästhetisches Phänomen, ein Kunstprodukt. Dennoch darf, ja muß man das "Buch der Unruhe" auch biographisch lesen. Es allein als zeitenthobenen Ausdruck einer sinnlosen Condition humaine zu verstehen würde ihm ebensowenig gerecht wie die folkloristische Verklärung seines ans Pathologische grenzenden Selbst- und Weltekels zur typisch portugiesischen "Saudade", auf deren Spuren man eine portweinselige Pauschalreise zum Ende der europäischen Fahnenstange unternehmen kann.

Pessoas spätes, unvollendetes Werk ist auch eine Reaktion auf die innenpolitischen Wirren seines Landes, ein Rückzug unter dem übernationalen Banner schopenhauerschen Pessimismus in das innere Imperium, während das Kolonialreich bereits dem Untergang geweiht war und die Monarchie einem chaotischen Wechselspiel demokratischer und diktatorischer Kräfte Platz gemacht hatte: "In mir selbst einen Staat gründen, mit Politik, Parteien und Revolutionen, und dies alles selbst sein, Gott im wirklichen Pantheismus dieses Ich-Volkes." Das "Drama im Menschen", so die berühmte Formel für die multiple Dichter-Persönlichkeit Pessoas, ist auch ein politisches Stück.

Während sich auf der historischen Bühne Salazar anschickt, seinen autoritären "Estado Novo" für Jahrzehnte als einziges Stück auf den Spielplan zu setzen, träumt Pessoas Buchhalter vom inneren Aufstand: "Revolutionär oder Reformer - sie erliegen dem gleichen Irrtum. Unfähig, die eigene Haltung zum Leben, das alles ist, oder zum eigenen Sein, das fast alles ist, zu beherrschen oder zu ändern, ergreift der Mensch die Flucht nach vorn, indem er versucht, die anderen und die Außenwelt zu verändern. Jeder Revolutionär, jeder Reformer ist ein Flüchtiger. Kämpfen heißt außerstande sein, sich selbst zu bekämpfen. Reformieren heißt, selbst nicht verbesserungsfähig sein." Der Angestellte ist kein Demokrat, der die Masse an den Annehmlichkeiten des Daseins beteiligt sehen wollte. Er hing in seinem Büro vielmehr Tagträumen vom Ruhm nach, der nur wenigen zuteil werden kann und auf dessen Gipfel nur Platz für einen allein ist. Er zitiert ein Diktum Ernst Haeckels, wonach der Abstand vom überlegenen zum gewöhnlichen Menschen viel größer sei als der von diesem zum Affen, ja, so Soares, selbst zu einer Katze: "Doch zwischen mir und dem Bauern gibt es einen Qualitätsunterschied, zurückzuführen auf die Existenz abstrakten Denkens in mir und uneigennütziger Gefühle; zwischen ihm und der Katze hingegen besteht in geistiger Hinsicht nur ein gradueller Unterschied." Wie jeder Kontinent besteht auch der achte nicht nur aus Gebirgen, sondern kennt auch Abgründe, die den Wanderer schwindeln machen und die sich nicht immer historisierend überbrücken lassen.

Natürlich muß man dieses Buch, das allenfalls Ansätze einer Entwicklung, geschweige denn einer Handlung bietet und sich als "Autobiographie ohne Fakten" versteht, nicht als Ganzheit aufnehmen. Das entspricht auch nicht seiner Intention, die auf erzählerische Zusammenhänge und strenge philosophische Kohärenz gleichermaßen verzichtet. Als Steinbruch, als Fundgrube von Beobachtungsfragmenten, Gedankensplittern und Aphorismen, als "jesuitische Kasuistik von Empfindungen" ist es freilich ebenso unerschöpflich wie das Leben selbst, von dem sich das Ich für immer wie durch eine Glasscheibe getrennt fühlt und dem es doch wie einer zerstörerischen Sucht heillos verfallen ist: "Jeder hat seinen Alkohol. Ich finde meinen Alkohol im Existieren." Pessoa starb 1935 an den Folgen einer Leberzirrhose.

Durchzittert vom innerlichen Reisefieber einer aller äußeren Bewegung und Tatendrang müden Existenz, wird sein "Buch der Unruhe" Pflichtlektüre für ewig Daheimbleibende bleiben, für introvertiert rasende Abenteurer, für Entdecker der eigenen Abgründe und innerer Labyrinthe. Als sicher begleitender Reiseführer, gar als zuverlässiger Baedecker durch die Windungen der Seele ist es nicht uneingeschränkt zu empfehlen. Viel zu verschlungen sind seine Wege, zu unzuverlässig ist der Maßstab, zu interpretationsbedürftig seine Legende. Wer mit diesem Buch in der Hand den achten Kontinent bereist, wird ihn nie mehr ganz verlassen können.

Fernando Pessoa: "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares". Herausgegeben von Richard Zenith. Aus dem Portugiesischen übersetzt und revidiert von Inés Koebel. Ammann Verlag, Zürich 2003. 576 S., geb, 49,90 [Euro].

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"Sein Werk ist ein Schritt auf das Unbekannte zu. Es ist eine Passion." Octavio Paz)